Menstruation. 100 Seiten (eBook)
100 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962186-9 (ISBN)
Jovana Reisinger ist Autorin, Filmemacherin und bildende Künstlerin. Mit ihrem Buch 'Spitzenreiterinnen' war sie für den Bayerischen Buchpreis 2021 nominiert. Seit 2020 schreibt sie die Menstruationskolumne 'Bleeding Love' für die VOGUE.
Jovana Reisinger ist Autorin, Filmemacherin und bildende Künstlerin. Mit ihrem Buch "Spitzenreiterinnen" war sie für den Bayerischen Buchpreis 2021 nominiert. Seit 2020 schreibt sie die Menstruationskolumne "Bleeding Love" für die VOGUE.
»Die hat wohl ihre Tage«
Einer der nachhallendsten Sätze meiner Kindheit und Jugend konnte mich wiederholt mit enormer Sprengkraft in die Schranken weisen – selbst, wenn er nicht an mich gerichtet wurde. Manche (gute) Sätze können das. Sie erschaffen auf mehreren Ebenen eine neue Realität. Sie enthalten einen Richtwert, eine Mahnung, eine Konsequenz und manchmal, wie in diesem Fall, eine Demütigung. Es handelt sich dabei um einen denkbar einfachen Satz. Viel eher eine Vermutung als eine Feststellung. Er kommt vielleicht daher wie ein Erklärungsversuch, dient aber lediglich der Abwertung. Schon lange, bevor ich selbst anfing zu menstruieren, bevor ich wusste, dass es einen Uterus gibt und die Hälfte der Weltbevölkerung so etwas in sich trägt, bevor ich zum ersten Mal diese Form der Schmerzen erlebte, wusste ich, dass Menstruieren etwas Entsetzliches sein muss. Aber das dachte ich nicht aufgrund von mangelndem medizinischem Wissen oder gar Desinteresse, diskriminierenden Arbeitsstrukturen oder einer historisch manifestierten Angst vor (giftigem) Menstruationsblut. Nein, es war ein anderer Verdacht, der in mir auf fruchtbaren Boden fiel. Denn mit dem einfachen Satz, der beinah neutralen Mitteilung: »Die hat wohl ihre Tage« war alles gesagt, was notwendig schien. Ein Situationsbericht. Auskunft und Aufspürung.
Diese Person, an die der Satz gerichtet oder über die er gesagt wurde, ist gerade nervig, laut, traurig, unzurechnungsfähig, hysterisch, unzumutbar, ruhestörend, unerfreulich, peinlich, nervenaufreibend, provozierend – und wenn nichts davon, so ist sie zumindest anders als sonst. Diese Person erlebt offenbar etwas, was aus ihr zeitweise einen anderen Menschen macht. Einen, den andere nicht mögen. Der andere belästigt, zu viel Raum einnimmt, zu viel einfordert und sich generell mal lieber zurücknehmen sollte. Also eine Variante, die man selbst nicht sein sollte, möchte man nicht weiter auffallen und nicht als ärgerlich diskreditiert werden.
Nun kommt so ein Satz (und andere damit vergleichbare) nicht unbedingt nur aus dem Mund von cis-männlichen Personen, die, sofern zusätzlich weiß und heterosexuell, am meisten von patriarchalen Strukturen profitieren – sondern auch von Menstruierenden selbst. Was freilich relativ einfach mit ihrer Sozialisierung in diesen patriarchalen Systemen (wie unserer Gesellschaft) zu erklären ist. In meinem Heranwachsen habe ich diese stetige Abwertung der Menstruation (oder der menstruierenden Person) bei den unterschiedlichsten Menschen im Umfeld erlebt – nicht zuletzt bei jenen, die es gerade selbst erlebten. Sich für einen Umstand zu entschuldigen, der wirklich nicht gut kontrollierbar, der weder selbst herbeigeführt noch verschuldet ist, entspricht exakt dem Klischee, auf dem die Demütigung fußt. Ich korrigiere: Es wird geradezu eingefordert. Die Abwertung von außen also anzunehmen, zu verinnerlichen und sich selbst kleinzuhalten – damit es andere gar nicht mehr erledigen müssen und das System sich selbst erhält. Das wird von Frauen nicht nur gefordert, sondern ihnen seit Jahrhunderten beigebracht.
Frauen, so das klassische Verständnis der binär strukturierten, patriarchalen Gesellschaft, dürfen nicht zu viel wollen, nicht zu viel fordern, geschweige denn Raum einnehmen. Vor allem nicht mit Frauenthemen. Denn die sind wie sie selbst zweitrangig, uninteressant, nebensächlich und irrelevant. Nun ist das Leben als weiblich gelesene Person in so einer Welt eh schon anstrengend genug (und je mehr Marginalisierungen sie betreffen, umso mühsamer wird’s), aber wohl auch deshalb ekstatisch widersprüchlich. Denn, so die auch befreiende Erkenntnis: Wie sie es machen – sie machen es falsch. Das lässt sich problemlos auf jeden Lebensbereich übertragen. Single oder in einer Beziehung? Mutter oder kinderlos? Schön oder hässlich? Karrierefrau oder in einem nicht angesehenen Beruf tätig? Reich oder arm? Konsumentin oder verzichtend?
Die Überzeugung, sich fortan die Kirschen aus jedmöglicher Sahnehaube herauszupicken und sich von tradierten Rollenverständnissen nicht beeindrucken zu lassen. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Schamlos. Was freilich leichter gesagt, geschrieben, gefordert ist als getan. Die Erkenntnis, dass auch ich eine hoffnungsvolle Träumerin bin, eine, die sich an guten Tagen eine andere Welt, andere Gesellschaft und andere Erfahrungen vorstellen kann. Die Erfahrung, dass auch ich nicht selten an Anforderungen, Stereotypisierungen, Klischees und nicht zuletzt an meinem Körper scheitere.
Ich tropfe. Ein undichter Körper.
Eine Frau soll also schön sein, aber nicht zu schön. Sie darf sexy sein, aber nicht sexuell. Also eine Augenweide, ein Augenschmaus, aber sich dessen nicht bewusst. Wenn sie es weiß, soll sie nicht damit arbeiten, damit spielen, damit reizen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Eine Frau darf natürlich alles. Aber gleichzeitig auch herzlich wenig. Nicht zu provokant, zu fordernd, zu gefährlich sein. Eine Frau, die bereits durch ihr Erscheinungsbild (Look, Outfit, Pose, Attitüde) zu viel Raum einnimmt, ein Begehren artikuliert (Status, Sex, Macht usw.) wird nicht selten mangelnder Intelligenz bezichtigt (Tussi, Barbie) oder als auf den Mann fixiert beschrieben (was ein interessanter Vorwurf ist, ist das doch das Grundprinzip dieser gesellschaftlichen Struktur). Eine Frau soll lieb sein, das heißt ihrer Natur (wer hat sich das ausgedacht?) entsprechend fürsorglich, mitfühlend, empathisch, sanft und gutmütig. Eine Frau soll folglich Platz machen, sich zurücknehmen. In diesem Verständnis für den Mann. Das bitte überall – in der Gesellschaft, bei ihrer Arbeit, in ihrem Haus, in ihrer Wohnung, in ihrem Bett, in ihrem Körper, in ihrem Herzen, in ihrem Gehirn. Männer, so die lange Zeit populäre Annahme: das starke Geschlecht, verdienen all das Schöne, Gute, Prächtige (Geld, Status, Macht, Gesundheit usf.) und mögen nicht mit Frauenleiden konfrontiert werden. Dafür entschuldigen sich dann die Leidenden. Es werden Vorkehrungen getroffen. Tabus. Stigmatisierungen. Verbote. Regeln. Moralische, ethische, gesellschaftliche Konstrukte.
Es ist ein irrsinniger Widerspruch.
Denn gleichzeitig wird gemäß dieser Logik ein weiblich gelesener Körper permanent bewertet, kategorisiert; über ihn wird auf unterschiedliche Weise bestimmt und verfügt. Das geht von Bevorzugung (Schönheit), Übergriffen (Catcalling, Berührungen, Vergewaltigung), Gesetzen (Abtreibungsregelung), Benachteiligung (jegliche Form von Lücke: ob Gender Pay, Orgasm, Pension oder Care Gap) nahtlos über zu sexistischer Medizin (mangelnde Erforschung des weiblichen Körpers), fehlender Sicherheit (unzureichendem Schutz vor partnerschaftlicher, sexualisierter oder genderbasierter Gewalt, aber auch die lange Zeit ausschließliche Verwendung männlich gebauter Crash Test Dummys) bis hin zu einem niedrigeren Status.
Dieser geringere Status betrifft alles im Leben. Er betrifft die Gesundheit, den Schutz, die Literatur, Filme, Theater, die Künste an sich, die Arbeitsstrukturen, die Lebensqualität. Werden Umstände, die fünfzig Prozent der Weltbevölkerung betreffen, tabuisiert, verschwiegen, ignoriert, banalisiert und gleichzeitig pathologisiert, hat das enorme Auswirkungen auf individueller, aber auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Macht, Ignoranz, Politik.
Die Menstruation ist so ein Thema. Dieser im Zyklus auftretende, regelmäßig stattfindende, Hormone verändernde Vorgang betrifft die Hälfte der Menschheit – und dennoch schaffte es die andere Hälfte, die, deren Körper es eben nicht direkt betrifft, dieses Thema jahrtausendelang zu einem minderwertigen und nichtigen zu machen. Nicht der Rede wert. Das bedeutet: keine Relevanz. Weder in der Forschung, in der Kunst, in der Staatsführung noch in der Gesellschaft. Keine Anerkennung, Teilnahme oder Fürsorge.
In diesem Monat menstruieren weltweit circa 1,8 Milliarden Menschen. Ich auch. Ich menstruiere übrigens sogar exakt in dieser Sekunde, in der ich diesen Text schreibe. Ich sitze hier an diesem Schreibtisch und weiß, dass seit drei Tagen Blut, Schleimhäute und Sekrete aus mir heraustropfen und -fließen. Dass sie es, sollte ich nicht (ungewollt) schwanger werden, in wenigen Wochen wieder tun. Immer wieder, bis es irgendwann aufhört und ein anderer Lebensabschnitt, die Menopause, beginnt. Tropf, tropf.
Ich weiß, dass ich mich schon in wenigen Tagen anders fühlen werde: besser, gelöster, schöner, schneller, schlauer, begehrenswerter und leistungsfähiger. Ich weiß, dass ich heute mehr Schlaf brauche, eine Wärmflasche, Medikamente und besonders erdig schmeckende Speisen, manchmal auch blutiges Fleisch. Ich weiß, dass ich die Trauer, die Ängste, die Emotionalität, die ich heute Morgen verspürte, auch auf die Tage zurückführen kann. Ich weiß, dass sie wieder weggehen, weniger und leiser werden. Tropf, tropf, tropf.
Wo befinde ich mich? Ein menstruierender Körper an seinem Arbeitsplatz, in einem Büro, das er mit fünf anderen menstruierenden Körpern teilt. Hauptberuflich Schriftstellerin, Filmemacherin, bildende Künstlerin, bald auch im Theater, sowohl als Autorin als auch Regisseurin, erste Schritte im Hörspielsektor. Ein kreatives, offenes, sich als progressiv verstehendes Umfeld.
Glück gehabt. Das sind andere Voraussetzungen, wenn in einem Umfeld gelebt und gearbeitet werden kann, in dem über die Menstruation gesprochen wird. In dem sich niemand für ihre oder seine Blutung schämen muss. In dem die Hemmschwelle niedrig ist. Keine Selbstverständlichkeit.
Es ist eine andere Situation, wenn darüber...
Erscheint lt. Verlag | 13.10.2023 |
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Reihe/Serie | Reclam 100 Seiten | Reclam 100 Seiten |
Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie |
Schlagworte | Ablauf Menstruation • Ablauf Monatsblutung • Angst Menstruation • Aufklärung Menstruation • Bedeutung Menstruation • Bedeutung Monatsblutung • Brustspannen vor Periode • Debatten Menstruation • Debatten Monatsblutung • die Tage • Eisprung • Erdbeerwoche • Feminismus • Gebärmutter • Gebärmutter Monatsblutung • Gewichtszunahme Periode • Krämpfe Menstruation • Krämpfe Monatsblutung • Mädchen • Menses • Menstruation • Menstruation Bedeutung • Menstruationsbeschwerden • Menstruation Schmerzen • Menstruationstasse • Menstruationsunterwäsche • Menstruationsurlaub • Menstruation Symptome • Menstruationszyklus • Menstruation verstehen • Monatsblutung • Ödem Menstruation • Ödem Monatsblutung • Periode • Periodenarmut • Periodentasse • Periodenunterwäsche • Periode Zyklus • PMS • PMS Menstruation • Politik Menstruation • Politikum Menstruation • Schmierblutung • Schwache Periode • Schwangerschaft • Schwangerschaft trotz Periode • Sex Menstruation • Sex Monatsblutung • starke Menstruation • starke Periode • Stigma Menstruation • Stimmungsschwankungen Periode • Tabu Menstruation • Tabu Monatsblutung • Tabuthema Menstruation • Tante Rosa • Unterleibsschmerzen • Was geschieht bei der Menstruation • Was geschieht bei der Monatsblutung • Was geschieht beim Eisprung • Was geschieht bei Menstruation • Weiblicher Zyklus • Wie macht sich Menstruation bemerkbar • Zyklus • zyklusrechner |
ISBN-10 | 3-15-962186-3 / 3159621863 |
ISBN-13 | 978-3-15-962186-9 / 9783159621869 |
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