Die kürzeste Geschichte Russlands (eBook)

Eine der widersprüchlichsten Nationen brillant erklärt und analysiert
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2022 | 1. Auflage
208 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2868-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die kürzeste Geschichte Russlands -  Mark Galeotti
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Russland ist eine der mächtigsten Nationen der Erde, mit einer imposanten Kultur, aber auch einer langen Geschichte von Krieg und Frieden, Leid, Katastrophen und blutigen Revolutionen. Der Russland-Experte Mark Galeotti widmet sich in seiner Erzählung diesem komplexen Land, das einen entsetzlichen, für den Westen unverständlichen Krieg gegen die Ukraine begonnen hat. Er durchleuchtet die russische Geschichte von ihren Anfängen mit der Kiewer Rus über den Aufstieg und Fall der Romanows, schildert die kommunistische Revolution unter Lenin und den stalinistischen Terror bis in die heutige post-sowjetische Autokratie Putins. Kann man dieses Land je verstehen? Mark Galeotti liefert die wichtigsten historischen Eckpunkte und Einblicke in die Entwicklung dieses so rätselhaften wie spannenden Landes.  

Professor Mark Galeotti, geboren 1965, ist ein britischer Historiker, Experte für russische Sicherheitspolitik und profunder Kenner der Putin-Ära. Er leitete lange Zeit das Zentrum für Europäische Sicherheit am Institut für Internationale Beziehungen in Prag und war zuvor Professor für Internationale Beziehungen an der New York University.  

Professor Mark Galeotti, geboren 1965, ist ein britischer Historiker, Experte für russische Sicherheitspolitik und profunder Kenner der Putin-Ära. Er leitete lange Zeit das Zentrum für Europäische Sicherheit am Institut für Internationale Beziehungen in Prag und war zuvor Professor für Interebationale Beziehungen an der New York University.  

Einführung


Das älteste Buch in Russland spricht mit mehr als einer Stimme. Es brüllt und wimmert, murmelt und klagt, lacht und flüstert, betet und brabbelt in immer leiseren Tönen. Im Juli 2000 entdeckten Archäologen bei Ausgrabungen in einem der historischen Viertel einer der geschichtlich bedeutsamsten Städte Russlands – Nowgorod, einst bekannt als »Großmächtiger Herr Nowgorod« oder »Nowgorod, die Große« – drei Holztafeln, die mit Wachs überzogen und zu einem Buch zusammengebunden waren. Laut Radiokarbonmethode und anderer Datierungsverfahren stammen sie aus der Zeit zwischen 988 und 1030 n. Chr. In die Wachstafeln wurden zwei Psalmen geritzt. Doch handelt es sich um ein Palimpsest, ein Dokument, das immer wieder verwendet, über Jahrzehnte mehrfach überschrieben worden war und bei dem frühere Schriftzeichen weiterhin zu erahnen waren. Erst die akribische Arbeit des russischen Linguisten Andrei Salisnjak deckte eine verwirrende Abfolge von Schriftzeichen auf, die einst zu Tausenden in das Wachs geritzt worden waren: Man findet die »spirituelle Anleitung eines Vaters und einer Mutter für den Sohn«, den Anfang der Apokalypse des Johannes, eine Liste des kirchenslawischen Alphabets und sogar eine Abhandlung »Über Jungfräulichkeit«.

Und das ist absolut passend.

Palimpsest-Volk


Russland ist ein Land ohne natürliche Grenzen, es lässt sich nicht auf einen einzigen Stamm oder ein Volk zurückführen, es besitzt keine wirklich zentrale Identität. Schon seine reine Größe ist verblüffend – über elf Zeitzonen erstreckt es sich von der europäischen Festungsregion Kaliningrad, die heute vom Rest des Heimatlandes abgeschnitten ist, bis zur Beringstraße, gerade einmal 82 Kilometer von Alaska entfernt. Bedenkt man obendrein, wie unzugänglich viele seiner Regionen sind und wie verstreut seine Bevölkerung lebt, versteht man, warum seine Herrscher alles daransetzten, die zentrale Kontrolle über das Land zu bewahren, und warum ihnen schon der Gedanke, sie zu verlieren, einen so großen Schrecken einjagte. Einmal traf ich einen (pensionierten) KGB-Offizier, der zugab: »Wir dachten immer, es gehe um alles oder nichts; entweder wir hielten das Land fest im Griff, oder es würde auseinanderfallen.« Ich vermute, seine Vorgänger, seien es zaristische Offiziere oder frühe mittelalterliche Fürsten, hatten so ziemlich dieselben Sorgen – und ganz gewiss auch Putins Funktionäre, allen Fortschritten der modernen Kommunikation zum Trotz.

Seine Lage an der Scheidelinie zwischen Europa und Asien bedeutet auch, dass Russland für alle das immerwährende »Andere« ist. Für Europäer ist es Asien und für Asiaten Europa. Seine Geschichte wurde von außen geformt. Fremde überfielen das Land, von den Wikingern bis zu den Mongolen, vom Deutschritterorden ebenso wie von Polen, Napoleons Franzosen und Hitlers Deutschen. Selbst wenn es nicht von feindlichen Armeen bedrängt wurde, wurde es doch von äußeren Kräften beeinflusst. Ob es sich nun um kulturelles Kapital oder technologische Innovationen handelte, immer begab es sich auf die Suche jenseits der eigenen Grenzen. Zudem hat es das Fehlen eindeutiger Begrenzungen mit beharrlichen Expansionsbestrebungen beantwortet, wodurch es neue ethnische, kulturelle und religiöse Identitätsschichten hinzugewann.

Russen sind demzufolge ein Palimpsest-Volk, Bürger einer Patchwork-Nation, die in allen Lebensbereichen so gut wie immer auf externe Einflüsse verweist. Ihre Sprache belegt dies. Ein Bahnhof etwa heißt woksal, nach dem Londoner Bahnhof Vauxhall, wohl Ergebnis einer unglücklichen Übersetzungspanne während des Besuchs einer vor Ehrfurcht ergriffenen russischen Delegation im England des 19. Jahrhunderts. Allerdings sprach die russische Elite damals Französisch, weshalb sie ungeachtet des englischen Bahnhofs die bagasch in ihre kuschet lud. Im damals russischen Odessa trugen die Straßen italienische Namen, weil dies die gemeinsame Handelssprache im Schwarzmeerraum war. Und seit der Zeit, als Stalin versuchte, die sowjetischen Juden zur Umsiedlung nach Birobidschan an der chinesischen Grenze zu überreden, ist Jiddisch dort die Lokalsprache. Im Kasaner Kreml steht eine orthodoxe Kathedrale neben einer Moschee, während im hohen Norden Schamanen Erdölpipelines segnen.

Natürlich sind alle Völker mehr oder weniger Verbindungen unterschiedlicher Religionen, Kulturen und Identitäten. In einem Zeitalter, da das Lieblingsgericht der Briten Curry ist, die Académie française weiterhin einen vergeblichen Kampf gegen Fremdwörter in der französischen Sprache führt und mehr als einer von acht US-Bürgern im Ausland geboren wurde, ist dies allein noch nichts Besonderes. Doch sind es drei Dinge, die an Russlands Geschichte auffällig sind. Als Erstes die schiere Tiefe und Vielfalt seiner dynamischen, elsternartigen Aneignung äußerer Einflüsse. Zum Zweiten die besondere Art und Weise, wie sich die unterschiedlichen Schichten übereinandergelegt und so genau dieses Land mit seiner spezifischen Kultur geschaffen haben. Mögen auch alle Länder Amalgame sein, so unterscheiden sie sich doch sehr durch die Zutaten und die Art, wie sie miteinander vermengt werden. Das Dritte ist die russische Antwort auf ebendiesen Prozess.

Weil sie sich ihrer fluiden, vielfach gekreuzten Identität durchaus bewusst – oft peinlich bewusst – waren, schufen die Russen eine Reihe nationaler Mythen, in denen diese entweder verleugnet oder gepriesen wurde.

Wie ich im ersten Kapitel noch detailreicher ausführen werde, wurde die Gründung dessen, was wir heute Russland nennen, tatsächlich durch eine nationale Ad-hoc-Geschichte verschleiert: Die Unterwerfung durch fremde Wikinger wurde so umgeschrieben, als hätten die Eroberten ihre Eroberer selbst eingeladen. Seither gab es eine wahre Flut solcher Legenden, sei es darüber, wie Moskau zugleich christlich und zum »Dritten Rom« wurde, die Wiege der wahren Christenheit (nachdem das erste von Barbaren geplündert worden und das »Zweite Rom«, Byzanz, an den Islam gefallen war), oder sei es der heutige Versuch des Kremls, Russland als letzte Bastion traditioneller gesellschaftlicher Werte und ein Bollwerk gegen eine von Amerika dominierte Weltordnung in Szene zu setzen.

Zurück in die Zukunft


Die Mongolen eroberten die Rus im 13. Jahrhundert, und als ihre Macht schwand, erfanden sich ihre tüchtigsten Kollaborateure, die Moskauer Fürsten, als größte Helden ihrer Nation neu. In der Hoffnung, genau die Zukunft zu schaffen, die ihnen vorschwebte, überarbeiteten russische Herrscher ein ums andere Mal die Vergangenheit, typischerweise, indem sie sich für ihre Zwecke bei kulturellen oder politischen Mythen und Symbolen bedienten. So vereinnahmten diese Zaren etwa die Symbole des ruhmreichen Byzanz, doch blickte der Doppelkopfadler in ihrem Fall sowohl nach Westen als auch nach Süden. Über die Jahrhunderte sollten Russlands vielschichtige Beziehungen zum Westen eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Zuweilen hieß dies, neue Ideen und Werte zu übernehmen und anzupassen. Peter der Große etwa befahl seinen Untertanen, ihr Kinn nach europäischer Mode zu rasieren (oder eine eigens eingeführte »Bartsteuer« zu entrichten); die Sowjets begründeten eine ganze Gesellschaft auf ihrem Verständnis einer Ideologie, die Karl Marx auf Deutschland und Großbritannien anzuwenden gedachte. Manchmal wiederum galt es, westliche Einflüsse entschlossen und bewusst abzuwehren, selbst wenn man hierfür die Vergangenheit neu definieren musste, etwa durch Ignorieren aller archäologischen Hinweise, wonach die Ursprünge des Landes auf seine Eroberung durch die Wikinger zurückgehen. Doch hieß dies nie, den Westen zu ignorieren.

Heute hofft eine neue Elite, ein Narrativ zu finden, das es ihr erlaubt, sich die angenehmen Aspekte des Westens herauszupicken – iPhone und Londoner Penthouse abzüglich einer progressiven Einkommenssteuer und des Rechtsstaats –, und dabei sich und ihr Land so zu definieren, wie es den eigenen Bedürfnissen entspricht. Sie ist dabei nicht immer erfolgreich und macht sich damit nicht nur Freunde, allerdings: Mit der Zeit fragte sich diese Oberschicht immer weniger, wo ihr Platz in der Welt ist, und immer mehr, wie die Welt sie behandelt. Dies ist der Kern jener Dynamik, die zum Aufstieg Wladimir Putins und seiner Verwandlung von einem eigentlich weltoffenen Pragmatiker in einen nationalistischen Kriegsherrn führte, der 2014 die Krim annektierte und in der Südostukraine einen nicht erklärten Konflikt schürte, bis er schließlich 2022 mit einer groß angelegten Invasion begann. Russland ist heute ein Land, in dem die Neuschreibung der Geschichte nicht nur ein weitverbreitetes Hobby darstellt, sondern zu einem eigenen Industriezweig geworden ist. In Ausstellungen kann man die Grundlinien heutiger Politik bis ins Mittelalter zurückverfolgen, als entsprängen sie einem einzigen, ununterbrochenen Entwicklungsprozess. Die Regale der Buchhandlungen ächzen unter revisionistischen Geschichtswerken, und Schulbücher werden auf Linie mit den neuen Glaubensgrundsätzen gebracht. Statuen von Lenin stehen Schulter an Schulter mit jenen von Zaren und Heiligen, als ob sich die jeweiligen von...

Erscheint lt. Verlag 29.9.2022
Übersetzer Stephan Pauli
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Regional- / Landesgeschichte
Geisteswissenschaften Geschichte Allgemeines / Lexika
Schlagworte Atomwaffen • Der neue kalte Krieg • Ideologie • Iwan der Schreckliche • Kalter Krieg • Katharina die Große • Kiewer Rus • Kreml • Lenin • Moskau • Putin • Russische Seele • Russland • Sowjetunion • Stalin • Ukraine • Ukrainekonflikt
ISBN-10 3-8437-2868-2 / 3843728682
ISBN-13 978-3-8437-2868-3 / 9783843728683
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