Keine Aufstiegsgeschichte (eBook)

Warum Armut psychisch krank macht
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
240 Seiten
Eden Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
978-3-95910-361-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Keine Aufstiegsgeschichte -  Olivier David
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Der Journalist und Autor Olivier David ist in Hamburg aufgewachsen - bei einer alleinerziehenden, überforderten, psychisch instabilen Mutter. Sie gibt sich Mühe, möchte ihren Kindern ein besseres Leben ermöglichen und schickt sie auf eine Waldorfschule. Doch die Familie ist arm, die Möglichkeiten sind begrenzt. Mit neun Jahren erfährt der Autor, dass sein Vater dealt. Zunächst scheint es so, als ob Olivier einen ähnlichen Weg einschlagen wird: Er scheitert am Fachabitur, kifft und trinkt täglich. Gerade als er es schafft, für seine Ziele zu kämpfen, holt ihn seine Familiengeschichte ein: Depressionen und Panikattacken zwingen ihn zur Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit. Olivier David erzählt aufrüttelnd davon, wie sich Armut und psychische Erkrankungen bedingen und von Generation zu Generation weitergetragen werden. »Keine Aufstiegsgeschichte« ist nicht nur ein persönliches Memoir, sondern auch ein hochaktuelles Buch darüber, wie toxisch das Aufwachsen und Leben in Armut für die Psyche wirklich sind.

Olivier David, geboren 1988 in Hamburg, ist freiberuflicher Journalist. Nach einer Ausbildung an der Schule für Schauspiel Hamburg arbeitete er als Theaterpädagoge und Sprecher, bevor er 2018 durch ein Volontariat bei der Hamburger Morgenpost zum Journalismus fand. Seither schreibt er für die Tageszeitung nd, für Übermedien und das Veto Magazin. Olivier David lebt in Hildesheim, »Keine Aufstiegsgeschichte« ist sein erstes Buch.

Olivier David, geboren 1988 in Hamburg, ist freiberuflicher Journalist. Nach einer Ausbildung an der Schule für Schauspiel Hamburg arbeitete er als Theaterpädagoge und Sprecher, bevor er 2018 durch ein Volontariat bei der Hamburger Morgenpost zum Journalismus fand. Seither schreibt er für die Tageszeitung nd, für Übermedien und das Veto Magazin. Olivier David lebt in Hildesheim, »Keine Aufstiegsgeschichte« ist sein erstes Buch.

Schneckenhaus


Ein paar Monate nachdem unsere Eltern sich getrennt hatten, ging der kleine Bioladen meines Vaters, den er zwei Jahre zuvor im Einkaufszentrum um die Ecke eröffnet hatte, den Bach runter. Zu viele Schulden, zu viel Chaos, zu wenig Planung. Mein Vater war kein guter Geschäftsmann, zumindest nicht im klassischen Sinn. Er kündigte seinen Mietvertrag, ein Bekannter übernahm den Bioladen, und sein Ausflug in die Welt der legalen Kaufleute war fürs Erste Geschichte. Schon bald dealte er wieder, nur dass ich damals noch nicht wusste, was er da trieb. Als ich ihn bei meinem ersten Besuch in seiner WG fragte, wofür die Lampen hinter dem Schuhregal gut seien, antwortete er ausweichend, es gefiele ihm eben, wenn das Regal von hinten beleuchtet sei.

Zurück zu Hause klärte meine Mutter mich auf. Es handele sich um Wärmelampen für das Gras, das mein Vater züchte und verkaufe, und Gras sei eine Droge, und Drogen seien verboten, wenn die Polizei davon wüsste, auweia. Rächte sie sich dafür, dass ihr Mann sie schlug, indem sie ihrem neunjährigen Sohn en détail erklärte, was sein Vater da trieb? Dass mein Vater anders war als die Väter meiner Mitschüler:innen, das hatte ich nun schwarz auf weiß. Der Feind meines Vaters war die Polizei, und da ich nicht wollte, dass er Ärger bekam, funkelte ich Polizist:innen fortan böse an, wenn ich sie sah.

In dem Viertel, in dem ich aufwuchs und zur Schule ging, sicherte die Tatsache, dass mein Vater dealte, weder ihm noch uns einen Exotenstatus. In den 1990er-Jahren war das »rote« Altona noch ein großer Abenteuerspielplatz für Menschen mit wenig Geld. Zwar lebten hier damals schon Lehrer:innen, Künstler:innen, Handwerker:innen und Studierende, aber noch waren die einfachen Arbeiter:innen in der Überzahl, noch waren die Mieten in der Straße, in der ich aufwuchs, für arme Menschen erschwinglich, noch mussten die Nachbar:innen von gegenüber in den graubraunen Häusern sich ihre Toiletten auf dem Flur mit anderen teilen, und noch immer wohnten in fast jedem Haus in meiner Straße ein oder zwei Dealer, das waren zumindest die, von denen man wusste.

Ich war etwa fünf, da schmiss jemand dem Dealer, der im Erdgeschoss unseres Hauses wohnte, einen Molotowcocktail ins Badezimmer – wegen nicht bezahlter Drogenschulden, erzählte man sich in der Nachbarschaft. Die Rußspuren der Explosion waren noch jahrelang an der Fassade zu sehen. Der Mann machte sich Hals über Kopf aus dem Staub und ward nie wieder gesehen.

Ich war sieben, da überfiel der Dealer aus dem dritten Stock gegenüber die Sparkasse um die Ecke – ein dünner, stets Muskelshirt tragender Mann mit langen schwarzen Locken und einem wilden Bart. Einmal veräppelte ich ihn, indem ich die Pfiffe seiner Kunden unten vor dem Fenster imitierte, um mich dann, so schnell es ging, zu verstecken, sodass er umsonst aus dem Fenster schaute. Die Polizei kam ihm schon wenige Minuten nach dem Überfall auf die Schliche. Er war beobachtet worden, wie er auf direktem Weg die zweihundert Meter nach Hause lief. Ich bemerkte das Sondereinsatzkommando vor der Tür und rief: »Mama, Mama, da stehen Polizisten mit Gewehren vor dem Fenster!«

Ungefähr zu dieser Zeit beantragte unsere Mutter ein Tor, das den Hinterhof zur Straße hin absperrte, nachdem wir beim Spielen in der Sandkiste Spritzen gefunden hatten.

In der Wohnung über uns wohnte eine portugiesische Familie, der Nachbar neben uns kam aus Ghana. Bis auf wenige Ausnahmen gab es in unserem Haus kaum deutsche Familien, dafür jede Menge türkischstämmige. Die Männer im Haus trugen Schnauzer und fuhren nachts oder frühmorgens Brot aus, wenn sie denn Arbeit hatten. Man wohnte zu viert, fünft oder sechst in Zwei- bis Dreizimmerwohnungen. Gab es irgendwo Streit, verstand man jedes Wort, vorausgesetzt, man konnte die Sprache. Eine Sprache verstand jedoch jeder, sie drang durch die dünnen Wände und Decken oder die offenen Balkon- und Terrassentüren: Backpfeifen und Schläge. Mal gab es welche für die Kinder, verteilt von wütenden Vätern, mal setzte es Hiebe für die Frauen. In den Häusern, die an unseren Hinterhof grenzten, dürfte es kein Kind gegeben haben, das nicht mit den durch Fenster und Wände dringenden Geräuschen von Schlägen aufwuchs.

Einmal war es besonders schlimm. Durch das offene Küchenfenster hörte ich die Schreie einer Frau aus dem Hinterhof. Wir wohnten im Erdgeschoss, und ich ging auf die Terrasse, um zu horchen, ob ich mich geirrt hatte. Es hörte sich an, als versuche sie, sich in Sicherheit zu bringen. Es rumpelte, etwas fiel zu Boden. »Nein, nein, bitte nicht«, flehte die Frau. Vergeblich, der männliche Part schlug auf sie ein, zumindest ließen ihre Schreie und das Klatschen von Haut auf Haut keinen anderen Schluss zu. Da das Fenster, hinter dem ich die Szene vermutete, von einem dicken Busch verdeckt wurde und, wie zum doppelten Schutz, die Gardinen der Wohnung stets zugezogen blieben, sah ich nicht, was sich in dem Zimmer tatsächlich abspielte. Die Frau heulte nun in einem erbarmungswürdigen Ton, dabei trafen sie weitere Schläge. Irgendwann wurden die Schläge zu einem Stoßen, und dieses Stoßen wurde rhythmisch. Die Frau wimmerte und stöhnte, und auch der Mann gab nun Töne von sich. In demselben Tempo, in dem die Gewalt anschwoll, überfiel mich das vertraute Gefühl der Ohnmacht. Ich wollte helfen, doch was konnte ich tun? Ich war ungefähr zehn Jahre alt zu dem Zeitpunkt, aber ich begriff, dass es sich hierbei nicht länger um Schläge handelte, dafür war das »Nein, nein« und das Schluchzen der Frau zu rhythmisch. Ich rannte zu meiner Mutter. »Komm mal schnell auf die Terrasse, da schlägt einer seine Frau und macht Sex mit ihr«, rief ich. Meine Mutter kam, hörte, was ich hörte, auch wenn die Intensität mittlerweile abgenommen hatte, und entschied, dass das, was da vor sich ging, nicht unser Bier sei. Ich blieb zurück mit diesem beispiellosen Gefühl von Ohnmacht, weil ich der Frau nicht helfen konnte. In anderen Fällen war meine Mutter keineswegs so zurückhaltend. Mehr als einmal bot sie Frauen aus dem Haus an, die Polizei zu rufen, oder fragte, wenn sie Schläge hörte, wie sie helfen könne. Doch, so erzählt es meine Mutter, die Nachbarinnen hätten die Hilfe ausnahmslos abgelehnt. In unserer Straße war häusliche Gewalt Privatsache.

Wenn ich an unsere Wohnung denke, dann sehe ich den PVC-Boden vor mir, der in der Küche und im Flur auslag und auf dem meine nackten Füße ein schmatzendes Geräusch erzeugten. Ich erinnere mich daran, dass zu wenig Licht von draußen den Weg hineinfand, aber auch drinnen waren nie genug Lampen an, um dem andauernden Halbdunkel etwas entgegenzusetzen. In den Zimmern standen nur wenige Möbel: ausgeblichene Sessel, Holzschreibtische, kleine Regale, als wäre alles darauf ausgelegt gewesen, dass man möglichst schnell und mit wenig Aufwand wieder ausziehen konnte. Dabei gab unsere Mutter diese Wohnung mit der Terrasse und dem wenige Quadratmeter großen Garten über mehrere Jahrzehnte nicht auf.

Es war meist still, oft zu still. In den Familien meiner Eltern spielte Musik eine untergeordnete Rolle, und das hörte man der Wohnung an. Ich verbinde auch keinen bestimmten Geruch mit unserem Zuhause, was wohl daran liegt, dass unsere Mutter jeden Anflug eines Geruches weglüftete, bevor er sich ausbreiten konnte. In jedem Zimmer, auf allen Tischen, Ablagen, sogar auf dem Boden, herrschten OP-Bedingungen, so oft wischte, saugte, schrubbte und polierte meine Mutter die Wohnung – und meinte doch eigentlich ihr Inneres. Auch meine Schwester und ich blieben von ihrem Sauberkeitsfimmel nicht verschont. Nach der Dusche mussten Badewanne und Kacheln erst abgespült und anschließend trocken gewischt werden. Anschließend wischte ich auf allen vieren den Boden. Abends putzten wir unsere Schuhe, bis sie glänzten. Das Schuheputzen war nötig, um die Schuhe, solang es ging, zu erhalten, weil das Geld knapp war. Das, was man an Kleidung besaß, sollte picobello aussehen, auch wenn es das nur selten tat. Weitere Aufgaben waren regelmäßiges Staubwischen im Zimmer, Müll rausbringen, Wasser einkaufen.

Keine dreißig Meter Luftlinie von meinem Kinderzimmerfenster gab es ein Haus, an dessen Fassade die Gerippe Dutzender Fahrräder hingen und in dem andauernd die Post abging: das Punkerhaus »Lobusch«, das nach dem Namen der Straße benannt war, in der es stand. Irgendwann in den 1980ern war es besetzt worden, doch mittlerweile hatten sich die Bewohner:innen einen regulären Mietvertrag erstritten. Wegen ihrer wilden Partys schlief ich an den Wochenenden oft erst spät in der Nacht ein.

Unsere Straße am Sonntagmorgen: Aus dem Wohnzimmer des ghanaischen Nachbarn, das an mein Kinderzimmer grenzte, schallte afrikanischer Reggae zu mir herüber. Ich kletterte aus meinem Bett, öffnete das Fenster, um frische Luft reinzulassen, doch stattdessen roch es süßlich nach Pisse. Irgendwo kläffte ein Köter. Wenn man besonders gute Ohren hatte und gerade keine Autos vorbeifuhren, hörte man im Hintergrund das beruhigende Brummen und dumpfe Poltern der Containerschiffe im Hafen. Guckte ich an den Fassaden der Häuser gegenüber hoch in die Wolken, schien es, je länger ich schaute, als bewegten sich die Häuser, nicht die Wolken. Wenn ich es schaffte, nicht zu blinzeln, meinte ich bald, unsere ganze Straße wäre in Bewegung.

Diese Erinnerung an meine Straße, die sich wie von Zauberhand durch die Wolken schiebt, der Geruch von Pisse, die Geräusche des Hafens, der fließende Verkehr, das alles erzeugt ein Gefühl von Heimat in mir.

Der Auszug unseres Vaters hatte gleich zwei positive Konsequenzen: Es wurde weniger gestritten, und meine Schwester und ich hatten endlich jeweils ein eigenes Zimmer. Das wurde auch...

Erscheint lt. Verlag 4.2.2022
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alkoholismus • alkoholkrank • Angststörung • Anna Mayr • Annie Ernaux • Arbeiterkind • Arbeiterklasse • Arbeitslos • Arbeitslosigkeit • Arm • Armut • Aufsteiger • Aufstieg • Aufstiegschancen • Bildungsaufstieg • Buch • Chancengleichheit • Chancenungleichheit • Christian Baron • Debatte • Debattenbuch • Depression • Didier Eribon • Drogen • drogenabhängig • Drogenhandel • Eden Books • Erinnerungen • Geldsorgen • Gerechtigkeit • Gesellschaftskritik • Hamburg • jeremias thiel • Kapitalismus • Kapitalismuskritik • Kinderarmut • Klasse • Klassenaufstieg • Klassismus • Kontroverse • Memoir • Milieu • Panikattacken • Politische Debatte • prekär • Prekariat • Psyche • Psychische Erkrankung • Psychische Gesundheit • Sachbuch • Soziale Ungerechtigkeit • Sozialreformen • Staat • staatliche Unterstüzung • Startbedingungen • Systemkritik • Tatsachenbericht • Unterdrückung • Working Class
ISBN-10 3-95910-361-1 / 3959103611
ISBN-13 978-3-95910-361-9 / 9783959103619
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