Kraftvolles Selbstmitgefühl für Frauen (eBook)
448 Seiten
Kailash (Verlag)
978-3-641-28730-6 (ISBN)
Kristin Neff ist Professorin für Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung an der University of Texas in Austin. Durch den Buddhismus entdeckte sie das Konzept des Selbstmitgefühls und machte es vor zwanzig Jahren erstmals zum Gegenstand psychologischer Forschung. Neff hält international Vorträge und Seminare zum Thema Selbstmitgefühl.
Einleitung
Sorgende Kraft
Doch eines bleibt gewiss:
Wenn wir Milde der Macht beimessen, der Macht das Recht,
wird Liebe zu unserem Vermächtnis und Wandel
unserer Kinder Anrecht.1
—Amanda Gorman, erste National Youth Poet Preisträgerin der USA
Es liegt etwas in der Luft. Alle Frauen, mit denen ich in Kontakt bin, spüren es. Wir haben die Schnauze voll, sind wütend, bereit für Veränderung. Traditionelle Geschlechterrollen und Machtstrukturen in unserer Gesellschaft hindern uns noch immer daran, uns so zu zeigen, wie wir wirklich sind – und das schadet uns sowohl persönlich als auch politisch. Es ist uns erlaubt, sanft, fürsorglich und zärtlich zu sein. Sind wir dagegen zu kraftvoll – zu wütend oder zu vehement –, löst das Angst und einen Schwall von Beschimpfungen aus (Hexe! Giftspritze! Drache! Furie! – um nur einige der harmloseren Diffamierungen zu nennen). Um aber die Dominanz der Männer zu brechen und endlich die uns zustehenden Plätze an den Tischen der Macht in Beschlag zu nehmen, müssen wir auf unserem Recht, kraftvoll zu sein, bestehen. Nur so können wir die Probleme, mit denen die Welt heute konfrontiert ist, in Angriff nehmen: tief verwurzelte Armut, systemischer Rassismus, nicht funktionierende Gesundheitssysteme und schließlich der Klimawandel. Dieses Buch möchte Frauen genau dabei unterstützen.
Das Konzept des Selbstmitgefühls ist ein Rahmen, innerhalb dessen sich wunderbar zeigen lässt, wie Frauen sich erfolgreich für Veränderung einsetzen können. Mitgefühl zielt darauf ab, Leid zu lindern – es ist der Impuls zu helfen, ein Zustand tätiger Sorge, der instinktive Wunsch, sich ganz konkret um die zu kümmern, die es schwer haben.2 Obwohl die meisten Menschen von Natur aus Mitgefühl für andere empfinden können, fällt es ihnen oft schwer, diesen Impuls auch nach innen zu richten. Ich selbst habe die vergangenen 20 Jahre meines Berufslebens damit verbracht, die gesundheitlichen Vorteile von Selbstmitgefühl zu erforschen und Menschen nahezubringen, wie sie sich selbst gegenüber freundlicher und unterstützender verhalten können. Zusammen mit meinem Kollegen Chris Germer habe ich das Trainingsprogramm »Mindful Self-Compassion« entwickelt, das inzwischen weltweit gelehrt wird.3 Doch um wirklich umfassend von Selbstmitgefühl zu profitieren, müssen wir nicht nur seine sanfte, sondern auch seine kraftvolle Seite in uns ausbilden.
Diese Erkenntnis ist noch relativ neu für mich. Früher habe ich bei meinen Workshops über Selbstmitgefühl oft eine lustige Geschichte erzählt, die wirklich so passiert ist und anhand derer ich zeigen wollte, wie Achtsamkeit und Selbstmitgefühl dabei helfen können, mit »schwierigen« Gefühlen wie Wut umzugehen.
Die Geschichte geht so: Als mein Sohn Rowan, der eine Autismus-Spektrum-Störung hat, ungefähr sechs Jahre alt war, gingen wir zusammen in den Zoo zu einer Vogelvorführung. Als wir auf unseren Plätzen saßen, fing Rowan an zu stören – nicht dass er herumschrie oder wild um sich schlug, aber er sprach ziemlich laut, und die meiste Zeit stand er eher auf seinem Stuhl, als dass er saß. Eine Frau, die mit ihren beiden extrem wohlerzogenen Töchtern vor uns saß, drehte sich mehrmals zu uns um und machte »Psst!«. Aber Rowan dachte gar nicht daran, leise zu sein. Ich versuchte ihm zu helfen, aber er war zu aufgeregt, um sich kontrollieren zu können. Nachdem die Frau wohl zum dritten Mal vergeblich versucht hatte, Rowan zum Schweigen zu bringen, drehte sie sich mit einem wirklich hasserfüllten Gesichtsausdruck zu ihm um und zischte: »Würdest du BITTE leise sein. Wir versuchen zuzuhören!«
Rowan war völlig verwirrt. »Wer war das, Mommy?«, flüsterte er mit wackeliger Stimme.
Wenn ich mitbekomme, dass irgendjemand drohend oder aggressiv mit meinem Kind spricht, verwandle ich mich in Mama Bär. Ich antwortete nicht besonders leise: »Das war eine …!« Das Wort fing mit Z an, aber es war nicht »Zuschauerin« – nehmen Sie einfach Ihre Fantasie zur Hilfe… Kurz darauf war die Vogelvorführung zu Ende, und wieder drehte sich die Frau zu uns um, diesmal, um mich zur Rede zu stellen.
»Was fällt Ihnen ein, mich so zu beschimpfen!«, begann sie.
»Was fällt Ihnen ein, meinen Sohn so hasserfüllt anzufahren!«, schnaubte ich zurück. Und dann ging es richtig los. Zwei Muttis, die sich in Anwesenheit ihrer Kinder bei einer Vogelvorführung gegenseitig anschreien! Glücklicherweise beschäftigte ich mich damals gerade viel mit dem Thema Achtsamkeit (ja, okay, das klingt jetzt vielleicht etwas unwahrscheinlich), und irgendwann sagte ich relativ ruhig: »Ich bin gerade so was von wütend.« »Was Sie nicht sagen«, blaffte die Frau zurück. Für mich war es trotzdem ein Schlüsselmoment, denn anstatt mich in meinem Zorn zu verlieren, schaffte ich es, ihn achtsam wahrzunehmen, mich langsam abzuregen und wegzugehen.
Mit dieser Geschichte kann man sehr gut zeigen, wie Achtsamkeit einem dabei helfen kann, zurück auf den Teppich zu kommen, wenn man in einer Auseinandersetzung von seinen Gefühlen überwältigt wird. Doch einen anderen unglaublich wichtigen Aspekt dieses Vorfalls habe ich jahrelang übersehen: nämlich die Mama-Bär-Energie, die da vollkommen instinktiv in mir aufgestiegen ist. Ich schätzte diesen beschützerischen Furor kein bisschen, im Gegenteil, ich betrachtete ihn als Problem, anstatt anzuerkennen, wie bemerkenswert und furchteinflößend er war.
Bei einem Autounfall zu sehen, wie eine Mutter ein fast eineinhalb Tonnen schweres Fahrzeug anhob, um ihr darunter eingeklemmtes Baby zu retten, hatte den Autor der Marvel Comics, Jack Kirby, einst so beeindruckt, dass er die Figur des Incredible Hulk erfand.4 Diese kraftvolle Seite unserer Natur ist nämlich in Wirklichkeit überhaupt nicht problematisch, sondern eine Superkraft. Etwas, das wir feiern sollten, anstatt es mit achtsamer Aufmerksamkeit zähneknirschend zu »akzeptieren«. Wir können mit dieser Kraft nicht nur unsere Kinder beschützen, sondern auch uns selbst: Sie kann uns helfen, unsere Bedürfnisse zu erfüllen, Veränderungen anzustoßen und für Gerechtigkeit zu kämpfen. Dieses Buch soll Frauen dabei helfen, ihre kraftvolle Seite, ihre innere Kriegerin zum Einsatz zu bringen: Auf diese Weise können wir uns erheben und die Welt verändern.
Sorgende Kraft
In der männerdominierten Gesellschaft, in der wir Frauen noch immer leben, müssen wir alle Mittel, die wir zu fassen kriegen, zum Einsatz bringen – einerseits um uns zu behaupten, andererseits um gesund und unversehrt zu bleiben. Sorgende Kraft ist eine der mächtigsten Waffen in unserem Arsenal. Um Leid zu lindern, greift das sanfte Selbstmitgefühl auf die Energie der Fürsorglichkeit zurück, während sich das kraftvolle Selbstmitgefühl die Energie des Handelns zunutze macht – wenn beide Seiten vollständig verbunden sind, werden sie zu sorgender Kraft. Unsere Kraft ist wirksamer, wenn sie sorgend ist, denn auf diese Weise sind Stärke und Liebe verbunden. Die herausragenden Gestalten gesellschaftlichen Wandels – Mahatma Gandhi, Mutter Teresa, Nelson Mandela, Susan B. Anthony – standen für genau diese Botschaft. In seinem Aufruf zur Beendigung des Vietnamkrieges formulierte es Martin Luther King Jr. so: »Wenn ich von Liebe spreche, meine ich nichts Sentimentales oder Zartes. Ich spreche von jener Kraft, die (…) das höchste Verbindungsprinzip des Lebens ist.«5
Glücklicherweise kann sorgende Kraft sowohl nach innen als auch nach außen gerichtet werden. Sie kann uns auf unserem persönlichen Weg zu Wachstum und Heilung genauso helfen wie in unserem Kampf für Gerechtigkeit. Letztendlich ist auch politischer Aktivismus ein Akt des Selbstmitgefühls (nicht nur des Mitgefühls mit anderen), denn wir sind miteinander verbunden, und Ungerechtigkeit betrifft uns alle.
Lange Zeit dachte ich, dass meine eigene kraftvolle Seite ein Charakterfehler wäre, den ich überwinden müsse, aber inzwischen ist mir klar, dass ich ohne diese Seite im Leben nicht so viel Erfolg gehabt hätte. Im Jahr 2003 veröffentlichte ich meinen ersten wissenschaftlichen Artikel zum Thema Selbstmitgefühl6, und noch im selben Jahr entwickelte ich die Self-Compassion Scale (SCS), um dieses Gefühl messbar zu machen.7 Meine ersten Untersuchungen ergaben, dass Menschen, die auf der SCS höher abschnitten, auch beim allgemeinen Wohlbefinden mehr Punkte erreichten.8 Damals war ich eine der ersten Wissenschaftlerinnen, die über Selbstmitgefühl forschte, aber inzwischen hat es einen regelrechten Boom auf diesem Gebiet gegeben: In wissenschaftlichen Zeitschriften sind bis dato über 3000 Artikel zu dem Thema erschienen, und Tag für Tag werden neue Studien veröffentlicht.9 Dieses unbekannte Territorium zu betreten hätte ich wohl ohne meine freie Energie kaum gewagt – jene Kriegerinnen-Energie, die mich eben manchmal auch in Schwierigkeiten bringt (zum Beispiel wenn ich vor meinem Kind bei einer Vogelvorführung eine vollkommen fremde Frau eine Z… nenne).
Der Kreis schließt sich
Ich habe also erst kürzlich begonnen, in meiner wissenschaftlichen Forschung zwischen einer kraftvollen und einer sanften Seite des Selbstmitgefühls zu unterscheiden, und darüber ausführlicher zu schreiben steht noch aus. Gleichzeitig...
Erscheint lt. Verlag | 11.4.2022 |
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Übersetzer | Heide Lutosch |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Fierce Self-Compassion |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
Schlagworte | 2022 • Achtsamkeit • Buddhistische Psychologie • eBooks • Empathie • female empowerment • Genderdebatte • Innere Stärke • Neuerscheinung • Persönlichkeitsentwicklung • Psychologie • Ratgeber • Selbstwertgefühl |
ISBN-10 | 3-641-28730-8 / 3641287308 |
ISBN-13 | 978-3-641-28730-6 / 9783641287306 |
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Größe: 12,6 MB
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