Sternflüstern (eBook)

Die Geschichte eines Neuanfangs

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(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
288 Seiten
Diederichs (Verlag)
978-3-641-27766-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sternflüstern - Paula Carlin
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Die heilende Kraft der Begegnung
»Vor allem nachts, im Mondlicht, über den Schneeflächen siehst du es«, hatte Lunis gesagt. »Es ist, als ob du mit deinem Atem auch selbst größer wirst, und ganz leicht. Dabei entsteht ein Knistern, und dann fällt er mit einem leisen Klirren zu Boden. Die Einheimischen nennen das Sternflüstern.«

Es ist ein wunderbarer Sommer. Die 56-jährige Künstlerin Irith hadert jedoch mit dem Verlust ihres Freundes Lunis. Sie versucht sich durch ihre Arbeit in einem Hotel abzulenken. Dann taucht plötzlich die junge Sophie bei ihr auf. Sie ist ebenfalls Künstlerin und verkauft ungewöhnliche Bilderrahmen. Die Frauen inspirieren sich gegenseitig und beschließen kurzerhand, gemeinsam an einem Wandmosaik zu arbeiten. Irith hat allerdings noch eine Aufgabe zu erfüllen: Lunis hat ihr ein verschlossenes Päckchen hinterlassen, um es einer Frau namens Alix zu geben. Aber wer ist diese Frau? Und welche Rolle hat sie in seinem Leben gespielt? Die Begegnung der drei Frauen, die durch Lunis schicksalhaft verbunden sind, wird zum Wendepunkt ihrer Leben.

In wundervollen Bildern erzählt die Autorin, wie es sich anfühlt, an einem Scheideweg im Leben zu stehen und wie ein klarer Blick nach innen, aber auch die Begegnung mit anderen Menschen helfen können, sich auf den richtigen Weg zu machen.

Paula Carlin ist das Pseudonym der deutschen Spiegel-Bestsellerautorin Patricia Koelle. Sie wurde 1964 in Alabama/USA geboren und lebt seit 1965 in Berlin. Ihre größte Leidenschaft gilt dem Schreiben, in dem sie ihr immerwährendes Staunen über das Leben, die Menschen und unseren sagenhaften Planeten zum Ausdruck bringt.

1

»Du findest mich hier, in diesem Garten!«

Die ungewöhnliche Hitze dieses Sommers hatte die Busfahrt so unerträglich gemacht, dass ich auf dem Heimweg von der Arbeit mehrere Stationen früher ausgestiegen war. Auf meinem spontanen Spaziergang durch eine unbekannte Straße hatte ich ausnahmsweise nicht an Lunis gedacht, als ich seine Stimme hinter dem verfallenden Haus hörte.

Oder hatte er »dich« gesagt? Du findest dich hier in diesem Garten? Möglich war es. Ich hatte keinen Ort mehr, seit ich Lunis verloren hatte.

Das Schild »ZU VERKAUFEN« hatte ich kaum wahrgenommen. Ich weiß nicht, warum ich nicht weitergegangen war. Kaum etwas lag mir ferner, als ein Haus zu kaufen. Selbst wenn ich das gewollt hätte, wäre nicht daran zu denken gewesen.

Andere dachten wohl auch nicht daran, denn das behelfsmäßige Schild, eine Fahne nur aus weißem Stoff mit roten Buchstaben, war voller Taubendreck und Ruß, außerdem halb zerrissen. Der Name der Maklerfirma war gerade noch erkennbar. Mich ging es nichts an. Und doch blieb ich stehen, als hätte ich mich in diesem kurzen Moment gerade hier in die Erde gebohrt, ebenso wie über Jahre die Bäume, die auf dem Grundstück gediehen, wild und von keiner ordnenden Hand berührt. Zwei davon waren durch den Zaun nach draußen zum Licht hingewachsen und hatten dabei das alte Schmiedeeisen unbeirrt auseinandergebogen.

Die Stimme existierte natürlich nur in meiner Einbildung und war aus meiner Sehnsucht entstanden. Ein bedenkliches Echo meiner Trauer.

Doch ein Abendwind, sommersanft und voller Lindenblütenduft, wirbelte aus dem Garten herauf, und wieder hätte ich schwören können, dass er Lunis’ Stimme in sich trug. Seine Stimme und ein leises Lachen. Ich starrte auf die Stelle, wo der Ahorn die Stäbe im Zaun geöffnet hatte. Es wäre ein Leichtes, dort hindurchzuschlüpfen. Das Brennnesseldickicht fürchtete ich nicht, denn ich trug lange Hosen. Neben den Brennnesseln kroch eine gelb-schwarz gestreifte Raupe eine verwilderte Dillstaude hinauf. Sie hätte Lunis gefallen. »Daraus wird einmal ein Schwalbenschwanz«, hätte er bedeutungsschwer gesagt, als ob er der Einzige wäre, der so etwas wüsste. Und ich hätte so getan, als habe er mir etwas beigebracht. Oft genug war das der Fall, und es tat ihm gut, etwas geben zu können.

Er hatte mir so viele Fenster geöffnet, mit einem neuen Blick auf das Leben hinter jedem davon. Wie hätte ich da nicht nachsichtig sein können? Mit ihm – und mit mir. Zwischen uns war immer zugleich ein Fernbleiben wie auch ein leidenschaftliches Einssein auf so vielen Ebenen, wie sich Farben in den Gesteinsschichten eines Gebirges finden. Mit ihm war etwas aus meinem Leben verschwunden, was zum tragenden Fundament gehört hatte. Da erst musste ich mir eingestehen, wie unerschütterlich ich ihn geliebt hatte, mit all seinen Widersprüchen und Brüchen.

»Was machst du hier, Lunis?«, fragte ich über den Zaun. »Willst du mir zeigen, dass du dich amüsierst? Worüber? Über mich oder darüber, dass ich dir das zutraue?«

Die einzige Antwort war ein Eichhörnchen, das oben auf dem Zaun entlanglief, kurz stoppte, um mir einen fragenden Blick zuzuwerfen, und dann schimpfend im Ahorn verschwand.

Tage mit Lunis hatten stets einen goldenen Rand besessen, vielleicht weil wir in den ganzen Jahren nie einen Alltag teilten. Der Himmel zeigte diesen Rand jetzt gerade auch. Vielleicht spiegelte er meine Gedanken, oder hatte auch er Lunis’ Worte vernommen? Während ich da stand, wo mich etwas Unerklärliches festhielt, trieb mit der Kühle leichter Dunst in den von Abendsonne erfüllten Garten, der tiefer lag als die Straße. Dahinter erhob sich das Haus, das mich vage an eine brütende Glucke erinnerte.

»Das alte Ungeheuer wird leider niemand kaufen«, sagte eine fremde Stimme plötzlich hinter mir. Ich schrak zusammen und blickte mich um. Eine Frau, noch nicht alt, aber mit einem Gesichtsausdruck, als sei sie es gewohnt, Sorgen zu tragen, die nicht ihre waren. »Eine Katastrophe, wie das hier aussieht! Das tut sich keiner an, der bei Sinnen ist. Da müsste man ein Vermögen reinstecken, und das für einen alten Kasten, in dem es nicht nur durch das Dach regnet. Ich fürchte, mit dem Anblick werden wir noch lange leben müssen.«

»Wohnen Sie im Nachbarhaus?«, erkundigte ich mich. Von einer Katastrophe hatte ich eine andere Vorstellung als sie.

»Nein, im übernächsten. So habe ich das Elend wenigstens nicht vor meiner Nase. Aber es ist ein Trauerspiel.«

In dieser Hinsicht gab ich ihr recht. Das Haus wirkte, als wäre es einmal glücklich gewesen, doch nun in einer tiefen, traurigen Einsamkeit versunken. Es hätte einen Prinzen verdient, der es aus seinem Dornröschenschlaf küsste. Aber dafür war es wohl zu alt und von den Jahren gebeugt. Die Gesellschaft verlangt ausschließlich nach jungen Prinzessinnen. Daran hatte sich seit Grimms Zeiten nichts geändert.

»Wer hat denn einmal hier gelebt, und wie lange steht es schon leer?« Das Gespräch half ein wenig gegen die Melancholie, die mich überkommen hatte. Ich wollte mehr hören von der vertrauten, verlorenen Stimme aus dem Garten und wusste doch, dass das nicht mehr sein konnte als eine Illusion. Nie wieder würde dieser Tonfall durch meine Tage hallen, der so voller Begeisterung war, dass er mich mitriss und fast unerträglich lebendig machte.

Die Frau musterte mich kritisch. »Haben Sie etwa Interesse an dem Haus?«

Bei einem Ja würde sie sicherlich noch zutraulicher. Sie hätte jeden als Nachbarn akzeptiert, nur damit wieder Ordnung herrschte.

»Ja«, sagte ich.

Es war nicht gelogen. Das Haus interessierte mich, auch wenn ich es niemals hätte kaufen können und es nicht einmal ansatzweise in meine Lebensplanung passte, die es gerade kaum noch gab.

Wie erwartet erwärmte sie sich für mich. »Hier hat ein älterer Herr gelebt, ich glaube sein ganzes Leben. Er war nicht gesellig, aber auch nicht unfreundlich. Früher hat er sich leidenschaftlich um den Garten gekümmert und auch ab und zu einen Gärtner beschäftigt, der ihm half. Das konnte er sich wohl später nicht mehr leisten. Er ging natürlich immer zur Arbeit, jeden Tag pünktlich. Nie war er krank.« Sie nickte nachdrücklich, als fürchtete sie, ich würde ihr nicht glauben. »Als er dann Rentner wurde, fing alles an zu verwahrlosen. Wahrscheinlich war es keine hohe Rente. Er machte trotzdem einen sehr zufriedenen Eindruck. Immer! Ich glaube, er hat gar nicht wahrgenommen, wie der Garten zuwucherte und das Dach Löcher bekam. Er war zu Hause, er war gesund, und er war glücklich.« Jetzt klang sie verständnisvoll. Und wehmütig. Und neidisch.

»Hat er denn keine Familie gehabt? Das Haus ist doch zu groß für einen Menschen allein.« Ich stellte mir den Mann vor, wie er jahrzehntelang kam und ging. Wie er durch das Haus lief, wie seine Schritte zu schlurfen begannen, sein Rücken gebeugter wurde und wie er durch den Garten spazierte und diesen immer noch so sah, wie er vielleicht vor zwanzig Jahren einmal gewesen war. Mit Blumenkübeln und Gemüsebeeten und einem Rasen, auf dem Kinder hätten spielen können, wenn es welche gegeben hätte.

Sie schüttelte den Kopf. »Eine Zeit lang kam manchmal eine Frau. Sie trank mit ihm Kaffee und erledigte etwas Gartenarbeit, und ein paarmal gingen sie zusammen aus. Aber es ist nichts daraus geworden, oder vielleicht war da auch gar nichts. Doch er wirkte bei allem nie unzufrieden, der Herr Wilhelms. Ganz im Gegenteil. Er ist Motorrad gefahren, auch als er schon sehr alt war. Dann kam er immer mit einem Lächeln nach Hause. Stellen Sie sich vor, er ließ sich sogar einen Pferdeschwanz wachsen, als er nicht mehr arbeitete. Wie so ein Altrocker.« Widerwillig schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Irgendwie habe ich ihn bewundert! Er tat, was er wollte, fiel keinem zur Last, rechtfertigte sein Tun vor niemandem und es war ihm egal, was andere über ihn redeten. Einen Großneffen hatte er, der kam manchmal zu Besuch, auch mit einem Motorrad. Der hat das Haus geerbt, aber er kann sich nicht darum kümmern. Hat kein Geld, um es vor dem Verfall zu bewahren, außerdem wohnt er nicht in der Stadt. Er hofft verzweifelt, dass sich ein Käufer findet. Ist schon mit dem Preis runtergegangen. So steht das hier nur herum, verursacht Kosten und verliert an Wert. Traurig, wirklich traurig!«

Ich revidierte mein Bild von dem alten Herrn Wilhelms. Sicher war er nicht gebeugt gewesen und mit schlurfenden Schritten durch das Haus geirrt. Er saß auf seinem Motorrad und genoss seine Freiheit mit wehenden Haaren. Vielleicht hatte er sich einfach nie binden wollen, um diese Freiheit zu behalten. Er war ein zufriedener Mensch gewesen. Gab es das noch?

Auch das Haus wirkte nicht unzufrieden, mit seinem breiten Dach, das sich rechts und links wie Flügel ausbreitete. Es war nicht unglücklich, nur verlassen.

Die Frau deutete auf das Schild. »Die Nummer der Maklerfirma haben Sie ja, wenn Sie sich wirklich interessieren. Ich muss weiter. Wäre schon schön, wenn sich etwas täte, obwohl das garantiert viel Dreck und Lärm gibt. Alles Gute.«

»Auf Wiedersehen.«

Warum hatte ich auf Wiedersehen gesagt? Ich war nur zufällig durch diese Straße gegangen. Gewiss würde ich nie wieder hierherkommen. Ich war nur stehen geblieben, weil … Ja, warum? Im Augenblick war ich mir nicht mehr sicher, ob ich mir wirklich eingebildet hatte, Lunis’ Stimme zu hören, oder ob es das Haus selbst war, das nach mir gerufen hatte.

Doch ich konnte nicht anders, ob verboten oder nicht. Auf Hausfriedensbruch stand sicher höchstens eine Geldstrafe. War es überhaupt eine...

Erscheint lt. Verlag 30.8.2021
Sprache deutsch
Original-Titel Sternflüstern
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Schlagworte Das Geheimnis der Grashüpfer • eBooks • Freundschaft • Kreativität • Kunst • Lebenskrise • Meer • Patricia Koelle • Persönlichkeitsentwicklung • Ratgeber • Scheideweg • Trauer • Trauerbewältigung • Verlust
ISBN-10 3-641-27766-3 / 3641277663
ISBN-13 978-3-641-27766-6 / 9783641277666
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