Großstadtgewächs (eBook)

Wie mir mein kleiner Garten aus der Lebenskrise half

(Autor)

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2021
Goldmann Verlag
978-3-641-24956-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Großstadtgewächs - Alice Vincent
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Alice Vincents Leben scheint perfekt. Mit Anfang zwanzig arbeitet sie in ihrem Traumjob und lebt zusammen mit ihrem Freund in London. In der alltäglichen Hektik fühlt sie sich aber zunehmend einsam und entwurzelt. Schließlich geht auch ihre Beziehung in die Brüche. In dieser Sinnkrise erinnert sie sich zurück an ihre Kindheit, an die Freiheit, die sie beim Rumtollen auf Feldwiesen verspürt hat, und an die Ruhe und Geborgenheit im Garten ihres Großvaters. Kurzerhand beginnt Alice, Topfpflanzen und Weinreben auf ihrem kleinen Balkon zu pflanzen und mehr und mehr über Botanik zu lesen. Mit jeder neuen Knospe und jedem neuen Blütenblatt beginnt sie, sich wieder lebendiger zu fühlen. »Großstadtgewächs« erzählt von der Einsamkeit und Entfremdung einer ganzen Generation und von der überwältigenden Kraft der Pflanzen, die uns hilft, wieder neue Wurzeln in unserem Leben zu schlagen.

Alice Vincent arbeitet als Feature Editor bei Penguin Books. Zuvor war sie als Autorin und Redakteurin am Arts Desk des Telegraph tätig. Nachdem Alice sich 2014 das Gärtnern beigebracht hatte, begann sie, darüber auf ihrem Instagram-Account und in namhaften britischen Zeitungen und Magazinen zu schreiben. Online findet man sie unter: @noughticulture oder @alice_emily

Einleitung

Wenn man nur nah genug an den Zaun heranging, konnte man so tun, als wäre er gar nicht da. Mit den Drahthäkchen zwischen den Fingerknöcheln konnte man durch die Löcher spähen, und dahinter: lauter sich wiegende weiße Blüten. Aberdutzende Gänseblümchen. Ein flüchtiger Fiebertraum inmitten von Mauern und Beton.

Zuletzt war ich hier ein paar Wochen zuvor entlanggekommen, auf dem Heimweg von einem Abendessen in einem Innenhof – unsere Version eines Sonntagabend-Society-Programms: Freunde treffen, Schalentiere knacken und mit Brot auftunken. Jemand hatte ein Selfie gemacht und es online gestellt – als Zeichen unseres guten Lebens, als Beweis für unseren Erfolg. Meiner Generation war eingebläut worden, genau solche Sachen zu wollen: am ersten milden Frühsommerabend des Jahres schlichte Genüsse mit Gleichgesinnten irgendwo in fußläufiger Entfernung – mitten in London! –, damit wir von dort wieder heimschlendern konnten.

Josh und ich waren Hand in Hand hügelaufwärts spaziert, als ich ihn abrupt zurückzog, damit wir uns die Blumen ansehen konnten. Manchmal fühlte es sich komplett irreal an, wie ein ausgeklügelter Streich, wie eine Scharade, bei der wir spielten, dass dies unser Leben sei. Es war zu gut, um wahr zu sein, und gleichzeitig nie genug; immer einen Hauch von dem entfernt, was angeblich die überwältigende Essenz des Lebens war. Vielleicht lag es ja daran, dass es so letzten Endes auch gar nicht sein sollte.

Denn nur wenig später war die Blase geplatzt und die Luft so schnell raus, dass mir davon schier der Kopf schwirrte. Hier stand ich nun wieder, ließ den Blick über diese Seltenheit, dieses unbebaute Stück Land schweifen, auf dem Wildblumen wuchsen, und fragte mich, wie es mit mir weitergehen sollte. Wie konnte es sein, dass ich im einen Moment in etwas drinsteckte, was sich im nächsten Moment einfach in Luft aufgelöst hatte? Wenn jetzt jemand diese Wiese abmähte, kämen die Blumen im Jahr darauf wieder? Vielleicht waren sie uns ja nur für die paar Tage beschert worden, die sie im Abendlicht hin und her wogten, ehe sie verblühen und die schweren Samen sie in die Knie zwingen würden?

Als ich noch klein war, waren Wildblumen Waffen: Wir betrachteten das, was die Natur uns bot, als etwas Handfestes, als eine Macht, als mannigfaltiges Arsenal, das wir in unserer Kindheit auf dem Land bei unseren andauernden Fantasieschlachten einsetzen konnten.

Wir rollten aus Kletten-Labkraut kleine Kugeln und bewarfen einander – im besten Fall so unauffällig, dass das Opfer überhaupt nichts davon bemerkte und noch stundenlang ahnungslos weiterlief: mit leuchtend grünen Widerhaken am T-Shirt, über dem Rückgrat oder auf der Schulter oder, am allerbesten, auf der Kehrseite, bis jemand es darauf hinwies, was es sich eingehandelt hatte.

Auch Löwenzahn diente mitunter als Strafmaßnahme. Sobald im Mai die zottigen gelben Blütenstände zu den viel schöneren, filigranen Pusteblumen verblühten, wurden sie für uns zu Wahrsagern: Wer immer die Flugschirmchen wegpustete, vermochte mittels seines Atems zu orakeln – hauptsächlich ob zwei Personen, oftmals eine aufgeregte Freundin und entweder der begehrteste oder der unbeliebteste Junge in der Klasse, ineinander verliebt waren oder nicht. Wesentlich unerfreulichere Offenbarungen hielten indes die Stängel bereit: Wen immer wir überreden konnten, an einem abgerissenen Löwenzahn zu lutschen – für gewöhnlich mit dem Versprechen einer besonderen Köstlichkeit –, hatte im Handumdrehen und noch für einige Zeit den derb bitteren Milchsaft auf der Zunge und verzog unter Garantie zur diebischen Freude des Übeltäters angewidert das Gesicht.

Das Gemeinste überhaupt waren die Gräser: Je länger die Tage wurden, umso höher standen sie, wehten auf wilden Wiesen hin und her und bildeten Samenstände mit kleinen Speerspitzen und Streubomben aus. Die Namen kannten wir nicht, aber wir wussten genau, welche die besten waren – die mit jeder Menge Samen, die nicht allzu weit auseinanderstanden. Die Größenwahnsinnigen unter uns griffen gern zu den üppigen, fedrigen Gräsern; Anfänger neigten eher dazu, die glänzenden, dünneren Gräser zu wählen, allerdings waren die zu kompakt und entfalteten sich nicht so leicht. Am besten waren die Gräser dazwischen – und um die ausfindig zu machen, brauchte man ein bisschen Erfahrung. Obwohl meine Schwester die ersten Lebensjahre in der Vorstadt gelebt hatte, lernte sie schnell und profitierte überdies von meiner Leichtgläubigkeit: Sie wählte ihre Waffe, erzählte mir, dass sie sie mir quer über die Zunge legen würde und ich die Zähne zusammenbeißen und die Augen zumachen sollte, wenn ich erfahren wollte, wie es sich anfühlte zu fliegen. Sobald der Halm korrekt positioniert war und die Vorfreude aufs Fliegen hinreichend angestachelt, riss sie ihn mir seitlich aus dem Mund und lachte sich schlapp, sobald die harten, trockenen Samen an meinen Zähnen explodierten. Unter ihrem Gelächter riss ich die Augen auf, spuckte den gar nicht mehr enden wollenden Samenvorrat aus und zupfte mir die Reste von den Lippen. Anschließend hatte ich wieder ein paar ganz neue Kosenamen für meine Schwester.

Ich kenne all diese Streiche, weil ich sie als Kind oft erlitten habe und kaum je das Vergnügen hatte, sie an anderen auszuprobieren. Einmal versuchte ich, Hannah zu überreden, auf Gras zu beißen, aber sie wusste natürlich genau, was ich vorhatte. Als Jüngste in einer Familie, die ursprünglich aus der Stadt stammte, war ich nach unserem Umzug aufs Land für derlei Schülerspäße gefundenes Fressen, gerade weil ich selbst noch zu klein war, um zur Schule zu gehen.

Aber ich lernte schnell dazu und fand mich auf den Äckern und den nur unzureichend ausgeschilderten Wanderwegen rund um unser neues Zuhause immer besser zurecht, indem ich an Hecken entlangstreifte und erkannte, was sich dort im Wechsel der Jahreszeiten an Beute finden ließ. Nicht dass ich formales Wissen angehäuft, botanische Namen der Pflanzen oder deren landwirtschaftliche Bedeutung gekannt hätte – aber ich nahm es zur Kenntnis: das Auf- und Verblühen entlang der Handvoll Wege und Sackgassen. Mal landete Froschlaich in Einmachgläsern im Klassenzimmer, mal ein ungefiederter Vogel auf unserer Terrasse, wo ich ihn unter die Lupe nahm; er war aus dem Nest gefallen und riss die noch blinden Augen weit auf. Kaninchen wieselten über die Felder. Wenn wir mal einen Dachs außerhalb seines Baus zu Gesicht bekamen, dann mit dem halb komisch, halb tragisch von Verwesungsgasen aufgeblähten Bauch nach oben am Straßenrand. In der Lämmerzeit schwankten wir wochenlang zwischen Jubel und Furcht; wir hatten gelernt, dass manche Lämmer zwei Felle trugen, weil bei einer anderen Geburt der Tod eingetreten war.

Wir lernten auch die Gesetze diverser Pflanzen. Aus Eicheln wuchsen Eichen und aus den Kastanien am Boden die Rosskastanie – zumindest aus denjenigen, die wir nicht in Essig einlegten oder für unsere jährliche Kastanienschlacht sammelten und im Ofen aushärteten. Und bei allem Schabernack, den wir trieben, waren wir uns darin einig, dass Brennnesseln fies und für Späße tabu waren – allein das Brennen und der Hautausschlag, wenn man daran vorbeistreifte! Zum Glück wuchs in der Nähe oft Sauerampfer, der weich und kühlend und lindernd wirkt, wenn man ihn über die Quaddeln reibt, die uns an den Kinderbeinen emporkrochen: grüne Medizin, die zwischen den Fingerknöcheln hervorquoll und im Nagelbett kleben blieb, wenn wir die Blätter zwischen unseren verschwitzten Handflächen zerrieben.

Trotz allem spielte sich mein Leben hauptsächlich in Innenräumen ab. Auf dem Dorf mochte man die hinreißendsten und skurrilsten Traditionen beibehalten haben – Spanferkelfeste, Schafblasenballspiele und erbitterte Konkurrenz bei Obst- und Gemüseschauen –, aber ich war nun mal obendrein ein Kind der Neunziger und ließ mich wie alle anderen auch von neuen technischen Errungenschaften und dem Sirenenruf der Zukunft nur allzu leicht verführen. Ich weiß noch genau, wie im Arbeitszimmer unser erster Windows-95-Computer installiert und mir nur wenige Jahre später gezeigt wurde, wie ich ins Internet kam. Die Möglichkeiten der Online-Welt brandeten über meine Generation und die unserer Eltern hinweg wie eine Flutwelle, obwohl damals nur wenige hätten voraussehen können, wie sich das Ganze entwickeln sollte.

Als Teenager löste das Leben auf dem Land in mir klaustrophobische Zustände aus: diese Weite – und keinerlei Möglichkeit, ihr zu entkommen! Ich sehnte mich nach der Stadt, nach London, nach Bürgersteigen, Street Style, dem latenten Gefühl gefährlicher Genüsse jenseits der einzigen hiesigen Sorge: dass dich an einer unbeleuchteten Nebenstraße ein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit erwischen könnte. Ich fühlte mich durch die dörfliche Stille, den weiten Himmel und den mitunter trotzdem beschränkten Horizont regelrecht erstickt. Im selben Atemzug fragten Eltern und Lehrer, was eines Tages aus uns werden sollte, und bedrängten uns, unsere Berufung und einen Beruf zu finden und Karriere zu machen. Und das verinnerlichten wir: Wir wollten und mussten uns eine Zukunft entwerfen. Ich wurde Journalistin – jemand, der aus seiner Lieblingsbeschäftigung einen Beruf machte. Ich wollte meine Texte auf gedruckten Seiten sehen. Und so zog ich aus, in...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2021
Übersetzer Leena Flegler
Sprache deutsch
Original-Titel Rootbound: Rewilding a Life
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Garten
Schlagworte Eat, Pray, Love • eBooks • Einsamkeit • Garten • Gartenbuch • Gartenbücher • Gartengestaltung • Gärtnern • Gesundheit • Großstadt • Heilende Kraft der Pflanzen • Krise • Liebeskummer • Meike Winnemuth • Millennials • Persönlichkeitsentwicklung • Plants of Instagram • Ratgeber • Selbstfindung • Stress • Sukkulenten • Urban Gardening • Wladimir Kaminer
ISBN-10 3-641-24956-2 / 3641249562
ISBN-13 978-3-641-24956-4 / 9783641249564
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