Geteiltes Land, gespaltene Familien? (eBook)
288 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-486-9 (ISBN)
Laura Wehr sprach mit 28 Personen aus acht Familien, die sich in den 1980er-Jahren aus unterschiedlichen Motiven entschieden, einen Ausreiseantrag zu stellen. Auf der Basis von lebensgeschichtlichen Interviews zeichnet sie nach, wie Eltern und Kinder den langjährigen Ost-West-Migrationsprozess erlebten und wie sie mit den damit verbundenen Herausforderungen umgingen, und sie wendet sich familialen Beziehungen zwischen West und Ost zu. Dabei zeigt sich, dass die Migrationsgeschichten von Familien oftmals schon in der Nachkriegszeit ihren Ausgang nahmen - und dass sie bis heute nachwirken, etwa wenn in den Familien über die Ausreiseerfahrung gesprochen oder das Thema »Remigration« zwischen den Generationen ausgehandelt wird.
Jahrgang 1973, studierte Europäische Ethnologie, Geschichte, Kunstgeschichte an den Universitäten Regensburg, Wien und München. Nach einem Volontariat im Museumsbereich und freiberuflicher Tätigkeit für Museen und Verlage war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in diversen Forschungsprojekten an den Universitäten Basel, Augsburg und München beschäftigt. 2008 erfolgte die Promotion an der Universität Basel. Ihre Schwerpunkte sind Kindheits-, Zeit-, Biografie- und Familienforschung. Vertretungsprofessur am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der LMU München.
Jahrgang 1973, studierte Europäische Ethnologie, Geschichte, Kunstgeschichte an den Universitäten Regensburg, Wien und München. Nach einem Volontariat im Museumsbereich und freiberuflicher Tätigkeit für Museen und Verlage war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in diversen Forschungsprojekten an den Universitäten Basel, Augsburg und München beschäftigt. 2008 erfolgte die Promotion an der Universität Basel. Ihre Schwerpunkte sind Kindheits-, Zeit-, Biografie- und Familienforschung. Vertretungsprofessur am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der LMU München.
4Beziehungsgeschichten
Nachfolgend möchte ich die in der Forschung aufscheinenden Beziehungsgeschichten quellenkritisch Revue passieren lassen. Dabei ist mir zum einen wichtig festzuhalten, dass diese zumeist lange vor dem realen Aufeinandertreffen von Forscherin und »Beforschten« ihren Anfang nahmen und keineswegs immer mit Verlassen des Intervieworts endeten.24 Zum anderen gilt es zu verdeutlichen, dass sich die mit der Erhebungssituation verbundenen Rollenaneignungen und -zuschreibungen zwar von (Familien-)Fall zu (Familien-)Fall unterschiedlich gestalteten, gleichzeitig aber auch fallübergreifende Kommunikations- und Verhaltensmuster feststellbar sind, die in direktem Bezug zur familial geteilten Migrationserfahrung stehen und insofern Auskunft geben über das enge Wechselverhältnis von Forschungsgegenstand und Methodologie.
4.1Zur Chronologie der Beziehungen
Im Vorfeld der Begegnung war bereits deutlich geworden, dass die ehemals Ausgereisten divergente Erwartungen an die Forscherin und ihr Vorhaben hatten. So hatten die Gesprächspartner*innen schon beim telefonischen oder schriftlichen Erstkontakt durch implizit geäußerte zeitliche Rahmungen deutlich gemacht, welche Relevanz sie der Forschung respektive der eigenen Erinnerung an die Migration beimessen wollten (»Wie viel Zeit brauchen wir denn für dieses Gespräch?« versus »Da hätten wir den ganzen Tag Zeit für Sie, (…) kein Stress, sondern Spaß an der Arbeit.«). In diesem Punkt zeigten sich deutliche generationelle Unterschiede, die sich nicht nur auf »äußere« Faktoren zurückführen lassen – etwa, dass sich die Angehörigen der Kindergeneration zumeist in der rush hour of life bewegten und das Interview in die alltäglichen Zeitregime von Beruf, Partnerschaft, Familie etc. eingepasst werden musste, während die Eltern als Rentner*innen zeitlich flexibler waren. Vielmehr erschienen die Eltern als Initiator*innen der Ausreise auch stärker betroffen vom Geschehen respektive emotional bewegt von der Aussicht, darüber zu erzählen.25
Bei der realen Begegnung vor Ort wurde dann deutlich, dass es auch die Eltern waren, die sich sorgfältig auf das Interview vorbereitet hatten: Ganz offensichtlich hatten die meisten Ehepaare vorab nicht nur praktische Überlegungen angestellt (Wo setzen wir uns hin? Was soll es zu trinken / zu essen geben?), sondern auch inhaltliche Vorbereitungen getroffen: Historische Dokumente (Korrespondenz mit den Behörden, Pässe, Fahrkarten …) lagen bereit; private Briefe waren vorsortiert worden; in einem Fall wurde mir eine ganze Wand mit Tagebüchern aus der DDR-Zeit gezeigt; in einem weiteren Fall war die Chronologie der familialen Ausreisegeschichte protokollartig vermerkt worden.26
Dass das Ausreisethema dennoch vor allem für die Eltern in psychologischbiografischer Hinsicht unsicheres Terrain darstellte, zeigte sich an der Tatsache, dass nahezu alle zusammenlebenden Ehepartner*innen gemeinsam interviewt werden wollten – entgegen meiner telefonisch vorab geäußerten Bitte, Einzelinterviews zu führen. Die Forscherin kam diesem (unausgesprochenen) Wunsch stets nach, um keine »künstlichen Gesprächshürden« einzuziehen.27 Doch veränderte sich die Atmosphäre noch einmal sichtlich, wenn nach dem anfänglichen small talk und den Präliminarien zum Gesprächsablauf das digitale Aufnahmegerät ausgepackt und aufgebaut wurde. Das nachfolgende, (an)gespannte Schweigen versuchten die Interviewten zuweilen durch ironische Kommentierungen zu brechen (»Wenn die Stasi schon solche Aufnahmegeräte gehabt hätte …«): Diese können ebenso wie die in nachhallenden Dreipunkt-Sätzen geäußerten Mutmaßungen zu Sinn und Zweck des Forschungsvorhabens (»Dann hab ich zu meiner Frau gesagt: ›Ist die vom BND [Bundesnachrichtendienst]…?‹«) als deutlicher Ausdruck der jeweiligen Migrations- und Kriminalisierungserfahrungen gelesen werden.28
4.2Nähe und Distanz
In der Europäischen Ethnologie werden die im qualitativen Interview wirksamen Nähe- und Distanz-Verhältnisse seit den späten 1970er-Jahren reflektiert und kritisch diskutiert. Konsens besteht darüber, dass während der Begegnung eine jeweils spezifische Beziehung zwischen Forschenden und »Beforschten« aufgebaut wird, die nur im Moment des Aufeinandertreffens so möglich ist und daher einzigartigen Charakter hat (vgl. Schmidt-Lauber 2001). In diesem Punkt korrespondiert die ethnografische Praxis mit der methodologischen Prämisse der Oral History, nach der Interviews stets Momentaufnahmen sind: »Biographische Erinnerung ist im Unterschied zum alltäglichen Gedächtnisgebrauch ein fortschreitender Prozess, in dem ein lebensgeschichtliches oder themenspezifisches Interview nur eine Momentaufnahme darstellt. Der erzählte Lebensrückblick ist ein aktueller Entwurf der individuellen Erfahrungsrekapitulation« (Jureit 2009, 86).
Die Vertreter*innen der Oral History haben wiederholt darauf hingewiesen, dass lebensgeschichtliche Erzählungen stets durch die Erfahrungen und aktuellen Deutungen der Interviewten geprägt sind: »Die Erzählung ist immer von der gegenwärtigen Lebenssituation des Erzählers bestimmt, die Gegenwartsperspektive prägt den Rückblick auf die Vergangenheit« (Stephan 2005, 15). Insofern stelle das »gesprochene Wort […] die Verbindung zwischen gestern und heute her« (Andresen et al. 2015, 7).
Dass der hier angesprochene Parameter »Zeit« nicht nur in Bezug auf den Zusammenhang von Erzählen und Erinnern eine zentrale Rolle spielt, sondern auch eine relevante Größe in der empirischen Forschung vor Ort darstellen und die Erhebungssituation maßgeblich prägen kann, offenbart sich in der methodischen Reflexion des Ausreiseprojekts: Wie viel Zeit für das Interview zur Verfügung stand, zu welchem Zeitpunkt man sich innerhalb der kommunikativen Begegnung mit der Forscherin dem Ausreisethema widmen sollte,29 wie mit Unterbrechungen bzw. Störungen im Interview umzugehen war, wann eine Pause angebracht war und wie diese zu gestalten sei, wann genau das Interview abgeschlossen und ob es zu einem anderen Zeitpunkt fortgesetzt werden sollte30 – all dies waren Fragen, die in allen Interviews explizit wie implizit zutage traten und zwischen den Beteiligten ausgehandelt werden mussten. Vor allem aber erschien Zeit als ein Schlüsselfaktor, der neben anderen – wie Sympathie, Offenheit, Aufmerksamkeit, Erzählbereitschaft – maßgeblich dazu beitrug, dass sich ein (maximales) Vertrauensverhältnis zwischen Forscherin und Interviewten entwickeln konnte.
Dass diese Beziehungen nichtsdestotrotz im Verlauf der kommunikativen Situation immer wieder neu austariert wurden, also einen prozesshaften und wandelbaren Charakter hatten, lässt sich am besten mittels der Kontrastierung von zwei Fallbeispielen verdeutlichen.
Bereits bei der ersten Kontaktaufnahme hatten Mutter A und Mutter B äußerst divergente Reaktionen auf mich und mein Vorhaben gezeigt – aufgeschlossenherzlich (Mutter A per E-Mail: »Wir freuen uns, dich kennenzulernen!«) versus abwartend-skeptisch: So beendete Mutter B unser erstes Telefonat mitten in meinen ausführenden Erklärungen, da sie mich für eine Callcenter-Angestellte hielt. Diese unterschiedlichen Grundhaltungen fanden dann beim realen Aufeinandertreffen zunächst ihre Entsprechung: Während Mutter A mir sogleich die gesamte Wohnung zeigte, mich zum Übernachten einlud und fragte, was ich zu Mittag essen wolle, gab sich Mutter B bei der Begrüßung äußerst wortkarg und studierte zunächst einmal schweigend den bereits vorab zugesandten Projektflyer. Im weiteren Verlauf verkehrten sich die vermeintlichen Nähe- respektive Distanz-Verhältnisse dann allerdings sukzessive ins Gegenteil: Während Mutter B im Gespräch zunehmend mehr erzählte und sich schließlich explizit freute, »auch einmal von mir berichten zu dürfen«, hielt sich Mutter A mit Auskünften über die Auswirkungen der Migration auf die Familie dezidiert zurück und wurde sehr einsilbig, als sich das Gespräch emotional behafteten Themen – wie dem Abschied von der heiratsbedingt ausgereisten Tochter – näherte.
4.3Differenzen
Generell bemühte ich mich in den Interviews um eine Haltung, die in ihrem Anspruch als »freundlich, unterstützend, ermutigend, geduldig, zugewandt, rücksichtsvoll, vorsichtig, abwartend, annehmend und aufgeschlossen« (Heinzel 1997, 407) beschrieben werden kann. Jedoch kam ich dabei immer wieder auch an Grenzen. So verspürte ich in mir eine deutliche Ungeduld, wenn die (vorwiegend älteren, männlichen) Interviewten anstelle der erwarteten familialen Migrationsgeschichten ausgreifende DDR/BRD-Systemanalysen präsentierten – im Bestreben, der deutlich jüngeren, westdeutschen...
Erscheint lt. Verlag | 7.10.2020 |
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Reihe/Serie | Forschungen zur DDR- und ostdeutschen Gesellschaft |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Schlagworte | Antragstellung • Ausreise • Ausreiseantrag • Biografieforschung • DDR • familiale Antragsgemeinschaft • Geschwister • Grenze • Mauer • Migration • Ostdeutschland • Ost-West-Migration • Rückverbindung • Westverwandte |
ISBN-10 | 3-86284-486-2 / 3862844862 |
ISBN-13 | 978-3-86284-486-9 / 9783862844869 |
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Größe: 1,1 MB
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