Die Zerbrechlichkeit der Welt (eBook)

Kollaps oder Wende. Wir haben es in der Hand.
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2020 | 1. Auflage
272 Seiten
edition a (Verlag)
978-3-99001-429-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Zerbrechlichkeit der Welt -  Stefan Thurner
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Der Klimawandel schreitet voran, die Gesellschaft ist tief gespalten und der Wirtschaft droht ein Kollaps verheerenden Ausmaßes. Der Komplexitätsforscher Stefan Thurner, Berater der österreichischen Bundesregierung bei der Bekämpfung der Corona-Krise, zeigt anhand der Wissenschaft Komplexer Systeme, wie zerbrechlich die Welt geworden ist und wie wir sie mit Hilfe von Wissenschaft und Big Data doch noch zur besten aller Zeiten machen können.

Prof. Dr. Stefan Thurner, geboren 1969 in Innsbruck, ist ein Physiker und Komplexitätsforscher. Seit 2009 ist er Professor für die Wissenschaft Komplexer Systeme an der Medizinischen Universität Wien. Seit 2015 leitet er den Complexity Science Hub Vienna (CSH). Vom Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten wurde er als österreichischer Wissenschaftler des Jahres 2017 ausgezeichnet.

Prof. Dr. Stefan Thurner, geboren 1969 in Innsbruck, ist ein Physiker und Komplexitätsforscher. Seit 2009 ist er Professor für die Wissenschaft Komplexer Systeme an der Medizinischen Universität Wien. Seit 2015 leitet er den Complexity Science Hub Vienna (CSH). Vom Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten wurde er als österreichischer Wissenschaftler des Jahres 2017 ausgezeichnet.

KAPITEL 2: DIE FASZINIERENDE WELT DER KOMPLEXEN SYSTEME


Wir sind auf dem Weg, so gut wie alle Informationen dieser Welt aufzuzeichnen und zu speichern. Wir wissen aber oft noch nicht genau, was wir damit anfangen sollen. Die Wissenschaft Komplexer Systeme kann helfen, aus Daten nutzbares Wissen zu generieren. Wissen, das wir zukünftig verwenden können, um die großen Probleme unserer Zeit zu meistern.

WAS SIND KOMPLEXE SYSTEME?


Komplexe Systeme bestehen immer aus vielen einzelnen Elementen, die miteinander verknüpft sind und dadurch Netzwerke bilden. So etwa sind wir Menschen als Einzelteile des komplexen Systems »Gesellschaft« miteinander durch unser Familiennetzwerk, das Netzwerk unserer Freunde, das Netzwerk unserer Telefonate und Emails, das Netzwerk unserer Banktransaktionen oder das Netzwerk unserer Feindschaften verbunden.

Es ist eine der faszinierenden Eigenschaften komplexer Systeme, dass sich ihre Einzelteile über die Zeit hinweg verändern können. Sie verändern sich aber meistens nicht einfach so, sondern aufgrund der Netzwerke, in die sie eingebettet sind. Durch die Veränderung der Netzwerke verändern sich die Einzelteile und durch die veränderten Einzelteile verändern sich die Netzwerke.

Im Finanzsystem zum Beispiel sind die einzelnen Elemente die Banken, die mit Netzwerken von Kontrakten, Krediten oder Versicherungen miteinander verbunden sind. Die Eigenschaft einer Bank, zum Beispiel, wie viel Geld sie hat, bestimmt, welche Kontrakte sie in Zukunft eingehen kann. Die Eigenschaft »verfügbare Geldmenge« einer Bank bestimmt, wie das Netzwerk der Kontrakte sich im nächsten Augenblick verändern kann. Das Netzwerk der Kontrakte wiederum bestimmt, wie sich der Reichtum der Banken im nächsten Augenblick verändern wird, denn diese Kontrakte bestimmen den Geldfluss.

Die Quintessenz von komplexen Systemen ist, dass sich die Eigenschaften der Elemente und die Netzwerke zwischen ihnen ständig ändern und sich gegenseitig nach bestimmten Regeln beeinflussen. Der Zustand eines Elements hat Einfluss auf das Netzwerk, und das Netzwerk beeinflusst den Zustand jedes einzelnen Elements. Diese gegenseitige Beeinflussung funktioniert etwa so wie das berühmte Henne-Ei-Problem. Was war vorher da? Henne oder Ei? Eine Frage, die schwer zu lösen ist. Ohne Henne kein Ei und ohne Ei keine Henne.

Ähnlich schwierig ist die Frage zu klären, wie sich der Einfluss des Netzwerkes auf die Elemente und der gleichzeitige Einfluss der Elemente auf das Netzwerk auswirken. Während man das eine auf Basis des anderen verstehen möchte, verändert sich das andere. Das macht die Sache ungemein schwierig, eben komplex.

Der Mensch kann mit Komplexität nicht besonders gut umgehen. Komplexität übersteigt schnell jede mentale Kapazität. Für ein biologisches Gehirn ist es schlicht unmöglich, die vielen Bauteile eines komplexen Systems im Blick zu behalten. Noch viel unmöglicher ist es, die Netzwerke der gegenseitigen Abhängigkeiten zu verstehen und die Konsequenzen der gegenseitigen Beeinflussungen und die dadurch hervorgerufenen Veränderungen der Bestandteile nachzuvollziehen. Wenn ein Netzwerk aus einer bestimmten Anzahl von Knoten besteht, sagen wir, diese Anzahl ist »N«, dann gibt es N2-N Möglichkeiten, wie sie sich beeinflussen können. Wenn ein Netzwerk zum Beispiel aus tausend Bestandteilen besteht, gibt es fast eine Million mögliche Beziehungen zwischen ihnen.

Auch die Wissenschaft konnte solcher Systeme bislang nicht Herr werden. Über Jahrhunderte konnte sie praktisch keine vernünftigen Schlüsse über Komplexität ziehen. Gleichzeitig ist der Mensch permanent mit komplexen Systemen konfrontiert, muss also mit Komplexität leben und mit ihr umgehen. Komplexe Systeme umgeben uns überall, egal wohin wir blicken. Praktisch alles, was wir interessant finden, ist ein komplexes System. Alles Lebende, jedes gesellschaftliche, ökologische, wirtschaftliche, finanzielle System ist komplex.

Komplexe Systeme zeigen eine ungemeine Vielfalt an Phänomenen, die sich nicht verstehen lassen, wenn man die Elemente einzeln betrachtet. Um mit einer scheinbar unbeherrschbar komplexen, vernetzten Welt umgehen zu können, hat sich der Mensch im Laufe der Geschichte deshalb allerlei ausgedacht. Lange Zeit sah man hinter vielen komplexen Phänomenen übernatürliche Kräfte am Werk, die man letztlich nur mit Göttern, Dämonen, dem Schicksal oder den Sternen »verstehen« konnte. Nur mit Hilfe höherer Einflüsse und göttlicher Lenkung konnte man »erklären«, wodurch es zu Krankheiten und Seuchen kommt, warum Kriege ausbrechen, warum Menschen Städte bauen, oder warum sich Vogel- und Fischschwärme bilden.

Die Naturwissenschaft konzentrierte sich in den vergangenen 300 Jahren auf die Erforschung einfacher Systeme, denen keine dynamischen Netzwerke zugrunde liegen. Das Erfolgsrezept war der sogenannte Reduktionismus, eine philosophische und naturwissenschaftliche Vorgehensweise, bei der man versucht, ein System in seine Einzelteile zu zerlegen, diese – weil sie meistens einfacher sind, als »das Ganze« – zu verstehen, um dann aus der Funktionsweise der Einzelteile zu schließen, wie »das Ganze« funktioniert. Man versucht kurz gesagt, das Ganze aus den Eigenschaften seiner Einzelteile heraus zu verstehen.

Wie weit wir mit dieser Vorgehensweise gekommen sind, zeigen uns die Physik, die Chemie und die Molekularbiologie. Wir ernähren derzeit fast acht Milliarden Menschen, alle können miteinander jederzeit von Angesicht zu Angesicht kommunizieren, indem sie in Glasplatten sprechen. Wir verstehen die Funktionsweise von Viren und haben bereits vor einem halben Jahrhundert nicht nur Menschen auf den Mond geschickt, sondern auch, wenn auch vollkommen sinnlos, ein dazugehöriges Auto, das Lunar Roving Vehicle.

COMPUTER VERÄNDERN ALLES


Das Verständnis komplexer Systeme wurde erst mit der Erfindung des Computers möglich. Hätten wir nur unser Gehirn, Bleistift, Papier und vielleicht noch eine einfache Rechenmaschine, wie das vor sechzig Jahren noch der Fall war, wären wir nach wie vor nicht in der Lage, komplexe Systeme zu verstehen. Wir hätten weder Daten noch die Möglichkeit, mit ihnen etwas Sinnvolles anzufangen. Wir hätten zum Beispiel keine Chance, die globalen Ausbreitungsmuster eines neuartigen Virus entlang von sozialen Kontaktnetzwerken zu verstehen. Und selbst, wenn wir genaue Daten darüber hätten, wer wen angesteckt hat, wir wüssten nicht, wie man daraus wirksame Gesundheitsmaßnahmen ableiten sollte. Wir könnten einfach nicht Schritt halten mit den sozialen Netzwerken, wie sie sich in Folge der Pandemie verändern, und damit das Verhalten der Menschen verändern, und diese wiederum die Netzwerke.

Computer, Big Data und quasi unbegrenzter Speicherplatz ermöglichen es uns, solche Systeme jetzt besser zu verstehen. Big Data liefert uns nicht nur die Daten zu allen Einzelteilen, sondern auch zu deren Verbindungen und Wechselwirkungen. Mit Hilfe von Computern und Datenbanken können wir nachverfolgen, wie sich Netzwerke und Eigenschaften gleichzeitig verändern.

Heute können wir als Menschheit dank der Informations- und Computer-Technologie im Prinzip wissen, wer mit wem kommuniziert. Man könnte es zum Beispiel in Daten der sozialen Medien oder in den Daten von Telefongesellschaften nachverfolgen. Man sieht, wer welche Inhalte im Netz anklickt und vermutlich liest, wer welche Dinge bestellt und konsumiert. Man kennt jede Zahlung mit Karte, jede Überweisung wird aufgezeichnet, man kennt das Einkaufsverhalten Einzelner und das ganzer Bevölkerungsgruppen. Man weiß, wer welche Filme sieht und kennt Netzwerke von denen, die miteinander befreundet oder verfeindet sind, man kennt durch GPS die Bewegungen all derjenigen, die es am Smartphone nutzen, man weiß, wer was produziert, wer gerade woran arbeitet und wer in welchen Verhaltensmustern gefangen ist. Man kennt die Herzschläge, Atemzüge und Blutsauerstoffwerte derer, die sie mit ihren Smartwatches in die Cloud laden. Konzerne können damit das Gesundheitsprofil der betreffenden Menschen täglich aktualisieren und mit den gekauften Medikamenten abgleichen.

In neuen Autos befinden sich bereits mehrere SIM-Karten. Manche Modelle melden direkt an den Autohersteller oder an die Versicherung, wie konzentriert der Fahrer ist und was im und um das Auto herum passiert. Man lässt Kühe Sensoren schlucken, die uns in Echtzeit sagen, was im Kuh-Magen gerade vorgeht, und die uns anzeigen, wenn eine Kuh krank zu werden droht. Man beobachtet mit Sensoren Verrottungsprozesse in Mülltonnen und erfasst den CO2-Ausstoß von Müllhalden. Man kann den Standort und die Fracht jedes Schiffes zu jeder Zeit lokalisieren, man überwacht sämtliche Flugzeuge und Passagiere und kann verfolgen, wo Bäume gefällt und wo Urwälder in Palmölplantagen umgewandelt werden.

GPS-Daten machen selbst minimale Veränderungen messbar. Die millimeterweisen Bewegungen von Bergen etwa, oder den Anstieg des Meeresspiegels. Jeder Befehl auf den Computern wird mitgeloggt, jeder Radfahrer wird gezählt, jeder LKW auf jeder Autobahn wird erfasst. Wir haben begonnen, alles, was sich auf dem Planeten tut, mitzuschreiben und zu speichern. Kameras, Chips, Speicherkarten und Sensoren übersehen praktisch nichts mehr.

Diese Vermessung der Welt findet in ungeheurem Ausmaß statt und es sieht nicht so aus, als gäbe es ernstzunehmende Tendenzen, die dem Einhalt gebieten würden. Wir produzieren mehr und mehr Sensoren. Sie nehmen die physische und digitale Wirklichkeit wahr, verwandeln sie in Daten und speichern sie. Die digitale Kopie des Planeten wird...

Erscheint lt. Verlag 26.9.2020
Verlagsort Wien
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Technik
Schlagworte droht • Komplexitätsforschung • Schützen • System • Welt • Wissenschaft • Zerbrechlichkeit • Zusammenbruch
ISBN-10 3-99001-429-3 / 3990014293
ISBN-13 978-3-99001-429-5 / 9783990014295
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