Aus und davon (eBook)

Roman
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2020 | 1. Auflage
308 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76465-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aus und davon -  Anna Katharina Hahn
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Um Himmels willen, wo bleibt der Junge? Als ihr kleiner Enkel Bruno nicht zum Essen erscheint, meint Elisabeth die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren. Ihre Tochter Cornelia hat sich von ihrem Mann getrennt und nimmt sich eine »Auszeit« in Pennsylvania. Stella, Brunos hinreißende ältere Schwester, treibt sich mit ihren Peers in der Stadt herum. Und Bruno ist einfach weg. Einmal noch wollte Elisabeth Verantwortung übernehmen, Cornelia vier Wochen lang alles abnehmen, ohne Wenn und Aber. Doch seit dem Schlaganfall ihres Mannes ist der alte Schwung hin.

Virtuos erzählt Anna Katharina Hahn von einer Familie im Ausnahmezustand, vom flüchtigen Glück des Alleinseins zwischen Stuttgart, Manhattan und Meadville, von der brüchigen Liebe in Zeiten der Smartphones.



Anna Katharina Hahn, geboren 1970, lebt in Stuttgart. 2009 erschien ihr Longseller <em>Kürzere Tage</em>. Ihr zweiter Roman, <em>Am schwarzen Berg</em>, stand 2012 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse und auf Platz 1 der SWR-Bestenliste. Mit <em>Das Kleid meiner Mutter</em> hat sie 2016, so Denis Scheck, »ein großes europäisches Tableau« entworfen. Ihr Roman <em>Aus und davon</em> erschien 2020 und stand mehrfach auf der Spiegel-Bestsellerliste.

2 Avenue of the Americas


Meine Zehen in den Sandalen sehen aus wie violette Zwetschgen. Sie wackeln immerhin noch. Hallo, ihr Zwetschgen, schrecklich seht ihr aus, eure Farbe beißt sich mit dem hellblauen Nagellack. Kein Wunder, hier wird jeder Raum gekühlt wie ein Eisschrank. Aber sobald man vor die Tür geht, strömt der Schweiß aus sämtlichen Poren. Die Lobby ist eingerichtet wie eine Mischung aus Krankenhaus und Sechziger-Jahre-Wohnzimmer. Das Hotel liegt an der Avenue of the Americas, Midtown. Die Fenster gehen bis zum Boden und zeigen auf die 29th Street hinaus. Dort drängen sich Scharen gelber Taxis zwischen roten Doppeldeckerbussen und Lieferwagen. Fußgänger strömen durch die Schluchten zwischen den Hochhäusern. Wo deren Riesenschatten hinfallen, sind deutlich mehr Menschen unterwegs. Manche tragen bunte Schirme zum Schutz gegen die Sonne. Da draußen liegt Manhattan.

Ich bin zum ersten Mal hier. Es ist etwas Besonderes. Aber nicht wegen New York, sondern weil ich allein bin. Das klingt wie ausgedacht, aber es stimmt. Ich bin 45 Jahre alt und habe noch nie allein gewohnt, bin niemals ohne andere verreist. Nachdem mir das klargeworden ist, habe ich beschlossen, diesen neuen Zustand festzuhalten. Was mir durch den Kopf geht, schreibe ich in einen karierten Collegeblock. ›Stella Chatzis, 9a, Chemie‹ steht auf dem Deckblatt, und über meinen ersten Sätzen hat meine Tochter mit grünem Filzer aufgezeichnet, wie eine Redoxreaktion funktioniert. Ihren Namen durchzustreichen, bringe ich nicht fertig. Stattdessen schreibe ich meinen darüber, the long version, die ich nur in offiziellen Fällen benutze. Aber ich habe das Gefühl, alles müsse seine Ordnung haben: ›Cornelia Geiger-Chatzis, New York, Juni 2017‹.

Der Alltag mit den Kindern fehlt mir bisher kein bisschen. Es fehlt mir nicht, von Stella angepflaumt, von Bruno vollgejammert zu werden, während ich lauter schreie als beide zusammen, damit sie nicht zu spät zum Unterricht kommen oder ich meinen ersten Patienten warten lassen muss. Auf die endlose Karawane von Hausarbeiten, gehetzten Einkäufen, Schul- und Arztterminen kann ich gut verzichten. Auch Staubmäuse, Schmutzränder im Waschbecken, das verräterische Müffeln aus dem Kühlschrank, mein ganzes Ungenügen in dieser Hinsicht brauche ich nicht. Aber als ich mein vom Schlafen im Flugzeug zerwühltes Haar bürste, muss ich an Stella denken, die sich manchmal von mir helfen lässt, weil sie eine Flechtfrisur nicht alleine hinkriegt. Ich meine, ihre weichen Strähnen an meinen Händen zu spüren, und sehne mich plötzlich nach ihr. Brunos Abschiedsumarmung, in der die ganze Verletzlichkeit seiner speckumhüllten Existenz liegt, fehlt mir auch. Ich möchte ihn beschützen, weil er das selbst nicht kann. Ich hoffe, sie sind okay. Ob Mami das alles schafft? Am Flughafen kam sie mir traurig vor. So ganz verstehe ich das nicht. Papa ist doch gut aufgehoben. Wahrscheinlich fällt sie in das schwarze Loch, nachdem sie ihm vorher am liebsten den Hals umgedreht hätte. Typisch für pflegende Ehepartner. Hätte ich doch zu Hause bleiben sollen? Aber ich bin hier. Ich darf das. Ich habe es mir verdient. Und nachher skypen wir.

Mami schwört, sie habe alles im Griff. Ihre Nachrichten bestehen fast nur aus hochgereckten Daumen und Smileys. Das macht mich misstrauisch. Aber Stella hat nachmittags, während ich noch in der Luft war, das Bild einer Grille in einem aus Gras geflochtenen Häuschen auf Instagram eingestellt und über mögliche Fortsetzungen der vierten Staffel von ›Chinese Beams‹ gemutmaßt. Sie ist fest davon überzeugt, dass Yi Min und Emma sich kriegen, die Hausgrillenfarm ein Erfolg wird und der alte Jadebauch zu einer Triade gehört. Wenn der Haussegen schief hängt, schreibt sie über andere Sachen.

Im Flieger gab es die neue Staffel auf Englisch, ich hab sie mir vollständig reingezogen, anstatt meine Reiseführer durchzuarbeiten. Hat sich wirklich gelohnt. ›Chinese Beams‹ ist genauso spannend wie seinerzeit ›Breaking Bad‹. Dazu kommt der ständige Kick, wenn die eigene Heimat in einer internationalen Serie als Hauptschauplatz auftaucht: Stuttgart, Peking, Washington D. ‌C. Das Beste: Ich kann vor meiner Tochter mit Insiderwissen angeben. Drohen, sie zu spoilern, falls sie nicht spurt. Stella und ich haben gerade nur zwei Dinge gemeinsam – ›Chinese Beams‹ und Nagellacke tauschen. Wenn sie wüsste, dass ich mit beidem – der Serie und den Farborgien auf meinen viel zu kurzen Fingernägeln – nur angefangen habe, um ihr näher zu sein, würde sie mich noch mehr verachten, als sie es ohnehin schon tut. Ich hätte ihren Vater ziehen lassen, ach was, ihn vertrieben. »Warum sind wir nicht alle zusammen nach Griechenland gegangen?« Außerdem sei es meine Schuld, dass wir »leben wie die Hartzer, in einem Keller, mit Ratten im Garten«. Wenn Stella wüsste, was für ein Palazzo unsere Ostendwohnung ist – im Vergleich zu den Löchern, die Dimi und ich uns sonst noch angesehen haben! So zweifelt sie an mir, weil ich trotz eines vernünftigen Gehalts nicht dazu in der Lage bin, für eine ordentliche Behausung zu sorgen. Manchmal stehe ich kurz davor, ihr zu sagen, wer hier als Erster aus unserer Familie rauswollte, aber ich bring es einfach nicht fertig, Stellas Bild von Dimi zu zerstören. »Mein Papa, der liebste Mensch der Welt.« Das war schon immer so. Gegenseitige Anbetung, rund um die Uhr.

Meine Mutter giftet herum, sobald sein Name fällt. Dimi gibt sich Mühe, regelmäßig für die Kinder zu zahlen, kleckerlesweise. Natürlich läuft seine Praxis nicht so bombastisch, wie er sich das vorgestellt hat. In Griechenland hat das ›Ende der europäischen Wirtschaftskrise‹ ein anderes Gesicht als in unseren Breiten. Dort hat keiner auf Dimitrios Chatzis, Physiotherapeut mit Shiatsu-Ausbildung on top, gewartet. In den Augen seiner Landsleute spricht er noch nicht einmal lupenreines Griechisch. Aber Dimi hat seinen alten Charme, seine Zuversicht wiedergefunden, das wird ihn retten. Seit er in Parga lebt, fühlt sich die Leere leichter an. Ich vermisse ihn nicht mehr so wie am Anfang, aber gerne wäre ich ihn ganz und gar los. Manchmal stelle ich mir vor, dass er jemand Neues hat. Eine Griechin, das ist klar. Dann wäre sein Heimatpuzzle vollendet, in dem ich das unpassende Teil war. Das tut einfach weh.

Der junge Kellner kommt mit einer Thermoskanne und fragt, ob ich einen Refill möchte. Als ich verneine, nimmt er die leere Tasse mit. Seine Akne blüht heftig zwischen blonden Bartstoppeln und dem flaumigen Haaransatz. Auf der Brusttasche des Polohemds ist sein Name eingestickt: ›Holden‹. Ich lächle Holden zu, vermutlich zu heftig, in meiner Begeisterung darüber, dass er so heißt wie der Held meines Lieblingsbuchs. Er errötet und entfernt sich schnell.

Alles stehen lassen und dann weggehen wie die Sau vom Trog, das fühlt sich großartig an. Vor Papas Apoplex haben die Kinder jeden Freitag im Alosenweg übernachtet. Dann konnte ich ein bisschen im Garten rumhängen, warten, bis meine Hände aufhörten zu zittern, die Beine abschwollen und der Schwätzer in meinem Kopf keine Patiententermine und Abrechnungsziffern mehr ausspuckte, sondern sich ebenfalls beruhigte. »Sie ist doch ein faules Stück, dass sie ihren Kruschtladen nicht aufräumt, wenn die Kinder bei uns sind, sondern bloß im Hof rumsitzt.« Das sollte ich natürlich nicht hören. Trotzdem bin ich unter anderem wegen dieses Satzes nicht ohne Schadenfreude, wenn sie sich – seit der Papa-Krankheit immer öfter – bei mir meldet. Auf der Suche nach Trost, unter der Tarnkappe von Großmütterchen Nützlich ‌& ‌Patent. Ich komme mir vor wie ein Arschloch, aber ihre Schwäche zu sehen fühlt sich jedes Mal an wie Nutella auf warmem Toast. Das faule Stück war es nämlich, das ihren Hinz in die Stroke Unit geschafft hat. Das Weib ohne Ehrgeiz und Mann hat keine zwölf Stunden nach dem Schlag angefangen, mit ihm zu üben, hat mit den Ärzten gesprochen und ihn mobilisiert, während der ersten Nacht bei ihm gesessen, jeden Tag seine rechte Seite angetippt und so dafür gesorgt, dass er jetzt nicht im Rollstuhl sitzt, sondern munter am Stock hüpft. Schließlich ist es auch die viel zu nachgiebige Mutter mit den verzogenen Blagen gewesen, durch deren Kontakte man den Platz in einer ausgezeichneten Rehaklinik ergattern konnte. Bis vor die Zimmertür am Bodensee hab ich dieses Jubelpaar gekarrt, das sich plötzlich wie Hund und Katze aufführt.

Ich bin weg. Und tue damit etwas...

Erscheint lt. Verlag 18.5.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Partnerschaft / Sexualität
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ISBN-10 3-518-76465-9 / 3518764659
ISBN-13 978-3-518-76465-7 / 9783518764657
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