Das Unwohlsein der modernen Mutter (eBook)

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2021 | 1. Auflage
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00698-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Unwohlsein der modernen Mutter -  Mareice Kaiser
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Versorgerin, Businesswoman, Mom I'd like to fuck - Mütter sollen heute alles sein. Dass darunter ihr Wohlbefinden leidet, ist kein Wunder. Mareice Kaiser, Journalistin und selbst Mutter, stellt immer wieder fest: Das Mutterideal ist unerreichbar und voller Widersprüche. Nichts kann man richtig machen und niemandem etwas recht. Mutterschaft berührt dabei, natürlich, jeden Lebensbereich: Denn egal, ob es um Arbeit, Geld, Sex, Körper, Psyche oder Liebe geht - Stereotype, Klischees und gesellschaftlichen Druck gibt es überall, auf Instagram, im Bett und im Büro. Mareice Kaiser zeigt, wo Mütter heute stehen: noch immer öfter am Herd als in den Chefetagen. Und, wo sie stehen sollten: Dort, wo sie selbst sich sehen - frei und selbstbestimmt.

Mareice Kaiser, Jahrgang 1981, arbeitet als Journalistin, Autorin und Moderatorin. Sie scrollt, schreibt und spricht zu Gerechtigkeitsthemen. Mit ihrem Essay «Das Unwohlsein der modernen Mutter» war sie für den Deutschen Reporter:innenpreis nominiert, ihr gleichnamiges Buch erschien 2021 bei Rowohlt Polaris und stieg direkt in die Spiegel-Bestsellerliste ein. Sie lebt in Berlin und im Internet.

Mareice Kaiser, Jahrgang 1981, arbeitet als Journalistin, Autorin und Moderatorin. Sie scrollt, schreibt und spricht zu Gerechtigkeitsthemen. Mit ihrem Essay «Das Unwohlsein der modernen Mutter» war sie für den Deutschen Reporter:innenpreis nominiert, ihr gleichnamiges Buch erschien 2021 bei Rowohlt Polaris und stieg direkt in die Spiegel-Bestsellerliste ein. Sie lebt in Berlin und im Internet.

Ich


In der Rushhour des Lebens, genau da bin ich gerade. Ich bin auf meinem Fahrrad, ich bin auf Instagram. Ich schmiere ein Schulbrot, ich schreibe einen Tweet. Ich mache Fotos, ich höre Musik, ich singe, ich tanze, ich poste eine Instagram-Story. Ich gehe nicht ans Telefon, ich schreibe Telegram-Nachrichten, ich lese Nachrichten, ich höre Podcasts. Ich date, ich küsse, ich arbeite, ich gehe einkaufen. Manchmal bin ich krank. Dann gehe ich spazieren, wenn es wieder geht.

Ich mache Überweisungen, ich mache mir Gedanken. Ich habe Sex, ich habe Hunger, ich will alles verstehen. Ich rede, ich höre zu, ich unterbreche, und ich lasse mich unterbrechen. Ich räume die Spülmaschine ein und die Waschmaschine aus. Ich sollte meine Eltern mal wieder anrufen. Ich mache mir Sorgen, ich mache mir ein Brot. Ich hole mein Kind von der Schule ab, ich bestelle Dinge, ich putze das Klo. Ich müsste mal wieder saugen und zum Zahnarzt. Ich bringe mein Kind ins Bett und schlafe ein. Ich liebe, ich lache, ich laufe. Die Gleichzeitigkeit von allem, oder: mein Leben.

Ich bin nicht allein. So, wie es mir geht, geht es auch meinen Freundinnen, die Mütter sind. Meine Freundinnen, vor allem die, die auch Mütter sind, sehe ich selten. Meistens schreiben wir uns iMessages oder bei WhatsApp oder auf Instagram. Am meisten Zeit verbringe ich mit den Menschen, mit denen ich zusammenarbeite. Mit denen ich mittags essen gehe. Und mit meinem Kind. Sie sind, so wie die Verkäuferinnen meiner Bäckerei, die Konstanten in meinem Leben. Und die Sorgen.

Die Sorge, meinem Kind nicht gerecht zu werden. Die Geldsorgen. Die Sorge um mein Kind. Manchmal frage ich mich, wie verantwortungsvoll es war, ein Kind in diese Welt zu setzen. Diese Welt, die es so, wie sie gerade ist, bald nicht mehr geben wird, wenn wir weitermachen wie bisher. Eine Welt in der Klimakrise. Dann die Sorge, nicht genug zu machen aus meinem Leben. Könnte ich mehr tun, mehr erreichen, mehr bewegen? Die Sorge um meinen Körper.

Meine Wohnung sieht nicht so schön aus wie die Wohnungen auf Instagram, mein Bauch ist schwabbeliger als die Bäuche, die in Magazinen zu sehen sind. Ich schlafe oft ein, während ich meine Tochter ins Bett bringe. Ich bin so müde. Dabei will ich mehr schreiben und mehr tanzen und singen, wieder singen. In der Realität bin ich froh, wenn ich es schaffe, meine Fingernägel zu schneiden und manchmal, wenn es richtig gut läuft, sie zu lackieren.

 

Und ja, ich kenne all die Feel-good- und Selfcare-Sprüche, und ich weiß, dass ich nicht alles schaffen muss. Dass es okay ist, an den eigenen Ansprüchen zu scheitern. Dass es okay ist, die Fingernägel nicht zu lackieren. Dass alle die gleichen Probleme, ähnliche Sorgen haben. Dass Fehler und Unzulänglichkeiten mich smarter machen. Bei anderen kann ich das genau so sehen. Mit mir selbst bin ich weniger nachsichtig. Meine Sorgen bleiben.

Nur manchmal, für kurze Momente, oft mit meiner Tochter, sind sie weg. Momente, in denen sie Dinge sagt wie: «Mama, Kindsein ist wunderschön», und fragt: «Mamasein bestimmt auch, oder?»

Ja. Ich liebe es, Mutter zu sein. Ich habe mich bewusst dazu entschieden, Mutter zu werden. Dabei war Kinder zu bekommen kein zwingender Teil meines Lebensplans. Ich dachte nicht: Davon hängt mein Lebensglück ab. Aber ich hatte Lust darauf. Lust darauf, mit diesem Mann ein Kind zu machen. Und dann noch eins. Und für beide Sorge zu tragen.

Als ich Mutter wurde, wurde ich es mit aller Wucht. Meine erste Tochter kam mit einem seltenen Chromosomenfehler und dadurch mehrfach behindert zur Welt. Mit ihrer Geburt wurde ich zur Übermutter gemacht. Denn Eltern behinderter Kinder – und vor allem ihre Mütter – werden, ob sie wollen oder nicht, auf einen Sockel gestellt. Ein Sockel aus Mitleid und Ehrfurcht. Ihr Vater und ich waren nicht nur ihre Eltern, sondern auch ihre Pflegerin und ihr Pfleger. Zuletzt waren wir ihre Sterbebegleiterin und ihr Sterbebegleiter.

Über die vier gemeinsamen Jahre mit meiner ersten Tochter habe ich in einem anderen Buch geschrieben. Mein Leben und auch das Buch, welches Sie jetzt in den Händen halten, ist geprägt durch die Zeit mit ihr. Ich weiß, wie es ist, das eigene Kind zu verlieren. Ich weiß auch, wie es ist, nicht mehr zu können. Und damit meine ich nicht, zu denken, nicht mehr zu können, sondern wirklich nicht mehr zu können. Körperlich und psychisch.

Ich weiß, wie es ist, mit einem Kind im Krankenhaus zu leben. Wie es ist, wenn das Kind im OP liegt und man bangt, ob es wieder aufwachen wird aus der Narkose. Wie es ist, als Mutter Mitleid für die Mutterschaft zu bekommen. Wie es ist, ein Kind zu lieben, bei dem andere fragen: Musste das denn sein?

Ich weiß den Wert des Lebens zu schätzen. Vor allem weil ich weiß, wie es ist, wenn das Leben wieder geht. Geblieben ist meine zweite Tochter, die gerade siebenjährig durchs Leben hüpft. Sie hat mich nicht zur Mutter gemacht, aber sie sorgt dafür, dass ich es im täglichen Handeln bleiben darf.

Mutter zu sein ist für mich keine Selbstverständlichkeit. Es ist – und das schreibe ich auf die Gefahr hin, kitschig zu klingen – jeden Tag ein Geschenk für mich. Merken Sie sich diesen Satz gern für spätere Abschnitte dieses Buchs. Meine Liebe und meine Demut stecken in jedem Satz – auch in denen, in denen Sie sie vielleicht nicht vermuten.

Also: Ich liebe es, Mutter zu sein. Was ich nicht liebe: die Strukturen unserer Gesellschaft, die weder gemacht sind für Menschen mit Kindern noch für Kinder selbst. Und eine Gesellschaft, die Menschen in binäre Geschlechterrollen (Mann – Frau) einteilt und Frauen noch immer anders behandelt und bewertet als Männer.

Als Mutter spüre ich das alles, jeden Tag. Es wundert mich nicht, dass eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung belegt: In den sieben Jahren nach der Geburt eines Kindes verschlechtert sich das mentale Wohlbefinden von einem Drittel aller Mütter deutlich. Es handelt sich, so die Studie, um eine «substanzielle Verschlechterung». Das Unwohlsein der befragten Mütter äußert sich in drei Dimensionen: mentaler Stress, stressbedingter und sozialer Rückzug, depressive Verstimmungen und Angstgefühle.

Woran das liegt? Bei Müttern kommen mehrere Diskriminierungsformen zusammen: die Benachteiligung aufgrund des Geschlechts und die generelle Benachteiligung von Menschen, die mit Kindern leben und für sie sorgen. Bei vielen Müttern kommen noch weitere Diskriminierungen dazu. Schwarze Mütter, Mütter mit Behinderungen, geflüchtete Mütter, rassifizierte Mütter, alleinerziehende Mütter, trans Mütter, lesbische Mütter, nicht binäre Mütter, junge Mütter, alte Mütter, Adoptivmütter, Ko-Mütter.

Meine Perspektive ist die einer weißen, queeren cis Frau ohne Behinderung[*]. Einer Frau, die in einer heterosexuellen Beziehung selbstbestimmt Mutter geworden ist. Die zwei Kinder bekommen hat, von denen eins nicht mehr lebt. Meine Perspektive ist die eines Arbeiter*innenkindes, das nicht studiert hat.

Unsere zweite Tochter lebt die Hälfte der Zeit bei mir und die andere bei ihrem Vater, wir begleiten sie gemeinsam. Dieses Buch entsteht aus meiner persönlichen Perspektive mit journalistischem Blick und dem Bemühen, weitere Diskriminierungsformen mitzudenken und sichtbar zu machen. In der Hoffnung, dass es noch viele Bücher aus den verschiedensten Mütterperspektiven geben wird.

Denn Eltern – und vor allem Mütter – fehlen im gesellschaftspolitischen Diskurs. In der Literatur, in der Kunst, in der Musik, in den Medien. Noch immer werden mehr Bücher von Männern als von Frauen verlegt, noch immer schreiben die meisten Meinungsstücke in großen Medien Männer, noch immer werden mehr Männer in Galerien ausgestellt als Frauen, noch immer bestehen die Headliner-Bands bei Festivals vor allem aus Männern, noch immer machen vorwiegend Männer Politik. Männer denken, Männer schreiben, Männer machen Musik, Männer sind Fotografen, Männer sind Künstler, Frauen übernehmen (unbezahlte) Fürsorgearbeiten.

Dabei machen feministische Autorinnen seit Jahrzehnten darauf aufmerksam. Bereits 1929 (!) thematisiert Virginia Woolf in ihrem berühmten Essay Ein Zimmer für sich allein, was Frauen brauchen, um Protagonistinnen eines kulturellen Kanons zu sein. Das Zimmer steht für einen Rückzugsraum, für geistige Freiheit; dafür, einfach mal in Ruhe gelassen zu werden, um Denken zu können – um so mit den künstlerischen Ergebnissen dieses Denkens Teil der Kulturproduktion zu werden.

Woolfs Thema ist heute aktueller denn je. In einer Zeit, in der Mütter froh sind, wenn sie zwischen Lohn- und Care-Arbeit überhaupt noch Zeit finden, die grundlegenden Beziehungen zu Freund*innen und zu sich selbst zu pflegen, ist der Gedanke an kulturelle Teilhabe und Mitgestaltung weit entfernt – geschweige denn sind die Ressourcen vorhanden, sich öffentlichkeitswirksam über die gesellschaftlichen Bedingungen aufzuregen.

Apropos aufregen: «Gibt es denn auch ein Kapitel über Väter?», war die mir am meisten gestellte Frage, wenn ich von diesem Buch erzählt habe. Nein, es gibt kein Kapitel über Väter. Denn alles, was ich zur (Un-)Vereinbarkeit von Familie und Beruf schreibe, gilt für alle Eltern – unabhängig von ihrem Geschlecht. Bei Müttern kommen dann aber noch ein paar Themen dazu, wie Sie in den folgenden Kapiteln lesen werden.

Oft heißt es, die Väter hätten keine Rollenvorbilder und würden deshalb die veraltete Rolle des Ernährers erfüllen. Ich finde, es gibt genug Rollenvorbilder, an denen sich Väter orientieren...

Erscheint lt. Verlag 21.4.2021
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Schlagworte Depression/Burnout • Eltern • Emanzipation • Erziehung • Feminismus • Frauen • Gleichberechtigung • Kinder • Mental Load • Mütter • Mutterliebe • Mutterrolle • Mutterschaft • Muttertagsgeschenk • Rabenmutter • Rollenbilder • Rollenklischee • Selfcare • Sexismus • Stress
ISBN-10 3-644-00698-9 / 3644006989
ISBN-13 978-3-644-00698-0 / 9783644006980
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