Missgeschicke der Evolution (eBook)
384 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-12585-1 (ISBN)
Wie pflanzen sich Spinnen fort, und warum ist das Urzeitpferdchen noch nicht ausgestorben?
Im Zuge der Evolution haben sich unzählige skurrile Tierarten entwickelt, von deren Existenz die meisten Menschen nichts wissen. Und natürlich gibt es auch viele Tiere, die zwar gemeinhin bekannt sind, mit denen sich aber nur die Wenigsten näher befassen möchten.
Die promovierte Biologin Lisa Signorile stellt 37 bemerkenswerte Arten vor, von Insekten über Reptilien und Vögeln bis hin zu Säugetieren, und wartet dabei mit beeindruckenden Erkenntnissen, spannenden Geschichten und unvermuteten Überraschungen auf: Begeben Sie sich geschrumpft in ihr eigenes Bett, wo Sie sich Auge in Auge einer Hausstaubmilbe gegenübersehen. Lernen Sie echte Vampire kennen, gewinnen Sie winzige Beutelratten lieb, die wie Äffchen aussehen, und staunen Sie über Elysia, ein Mischwesen aus Schnecke und Pflanze.
Lisa Signorile hat nach ihrem Diplom in Biologie und einer Laufbahn als Biochemikerin an verschiedenen Orten der Welt gearbeitet, um Lurche umzusiedeln oder tropische Mäuse zu zählen. Zurzeit lebt sie in London, wo sie sich mit Populationsgenetik beschäftigt.
Vampire aus der Hölle
Vampyroteuthis infernalis
Es herrscht Dunkelheit in der sogenannten Dämmerzone der Ozeane, zwischen 500 und 1000 Metern Tiefe. Das Sonnenlicht dringt nicht so weit vor. Nie. Die gleichbleibende Temperatur entspricht der einer Krypta. Sie liegt zwischen 2 und 6 °C und verändert sich nicht einmal im Sommer. Es fehlt die Luft in diesem Unterseegrab: Der Sauerstoffgehalt ist derart gering (rund 3 % gegenüber den 21 % der Erdatmosphäre), dass hier kaum ein Tier normal atmen kann. Deshalb wird die Dämmerzone auch Oxygen Minimum Zone (OMZ) genannt. Sie ist eine leblose, finstere und kalte Wüste, der sich die Lebewesen in allen Weltmeeren fernhalten.
Und dennoch streift durch diese Abgründe seit Hunderten von Millionen Jahren ein schwarzes Gespenst. Ein auf wunderbare Weise an diesen unwirtlichen Ort angepasstes Geschöpf, das einfach erstaunlich, ja geradezu außerirdisch erscheint.
Der Vampyroteuthis infernalis ist der letzte Vertreter der Vampyromorpha (oder Vampirtintenfischähnlichen), aber das war nicht immer so. Die Vorfahren dieser zarten Wesen entwickelten sich in der Trias aus den Nautiliden, und im Jura, als die Dinosaurier über die Erde herrschten, bevölkerten die Vampyromorpha in vielfältiger Form die Meere. Doch unter dem Druck immer schnellerer und wettbewerbsfähigerer Arten starben sie schließlich einer nach dem anderen aus. Der einzige Überlebende, der Vampirtintenfisch, hat bis in unsere Zeit überdauert, weil es ihm gelungen ist, »in die Hölle« zu gehen, also in jene unmöglichen Gewässer der OMZ, und sich dort anzupassen.
Der Name dieses Tintenfisches ist allerdings irreführend, denn mit einem Vampir hat er nichts gemeinsam. Er saugt niemandem das Blut aus (schon deshalb nicht, weil es, selbst wenn er es wollte, niemanden gibt, dem er es aussaugen könnte). Vielmehr ernährt er sich von Ruderfußkrebsen, Garnelen und Nesseltieren, von kleinen Tieren also, die es zumindest für kurze Zeit schaffen, den Sauerstoffmangel zu kompensieren. Der Vampirtintenfisch ist ein Zwischenglied zwischen Kalamaren und Kraken, von beiden hat er einige Merkmale. Das heißt jedoch nicht, dass eine direkte Abstammungslinie besteht. Die Evolution ist, wie man weiß, unberechenbar, und es gibt zu wenige Fossilien dieser weichen, gallertartigen Geschöpfe, als dass über ihre Entwicklungsgeschichte Gewissheit herrschen könnte.
Vom Kraken hat er seine allgemeine Gestalt, die Flossen auf dem Kopf (die für eine primitivere Krakenform, die sogenannten Cirrata, typisch sind), acht mit Membranen verbundene Tentakeln und das einzelgängerische Gebaren. Vom Kalamar hat er zwei weitere, längere Tentakeln, die allerdings einziehbar und für anderes bestimmt sind, den inneren Knorpel, ein Überbleibsel der Gehäuse der Nautiliden, sowie die fehlende Mantelhöhle.
Und dann sind da natürlich noch die Adaptationen an die Hölle. Die wichtigste betrifft das Überleben unter Sauerstoffmangel: Die beiden Kiemen sind im Verhältnis zur Körpergröße riesig, und das Blut wird durch drei Herzen dorthin gepumpt. Wie alle Tintenfische (oder Coleoidea), so hat auch der Vampirtintenfisch blaues Blut, das Hämocyanin enthält – einen dem Hämoglobin entsprechenden Stoff mit Kupfer an Stelle von Eisen. Das Hämocyanin des Vampyroteuthis ist allerdings in besonderer Weise verändert, so dass es in der Lage ist, das bisschen vorhandenen Sauerstoff zu binden und nach und nach dem Gewebe zuzuführen. Ohne diese Besonderheit könnte auch der Vampirtintenfisch nicht in der Dämmerzone überleben. Allerdings ist er auf diese Weise für ein Leben an irgendeinem anderen Ort der Welt ungeeignet: Im Aquarium beispielsweise sterben Vampyroteuthis nach einem mehrmonatigen Todeskampf.
Mag das Hämocyanin des Vampirtintenfisches auch ganz besonders sein, waren doch weitere Anpassungen nötig. So hat sich beispielsweise der Stoffwechsel auf ein unglaubliches Maß reduziert. Es ist der niedrigste Stoffwechsel für ein Tier dieser Größe. Beim Schwimmen bedient er sich nicht, wie alle anderen Kopffüßer, des Rückstoßantriebes durch Herauspressen des Wassers durch einen Trichter, sondern benutzt die seitlichen Kopfflossen und scheint dabei sanft durch sein schwarzes Meer zu schweben. Die Bewegungen werden dadurch langsamer, der Energieverbrauch verringert sich. Der Körper ist gallertartig, von der Konsistenz einer Qualle, und reich an Ammonium1, das ihm dieselbe Dichte wie Wasser verleiht, so dass das Treibenlassen keinerlei Anstrengung erfordert. Nur ganz junge Vampirtintenfische benutzen den Rückstoßantrieb zur Fortbewegung: Es ist ja bekannt, dass die Jugend voller Energie steckt.
Fühlt er sich bedroht, greift der Vampirtintenfisch auf energiesparende Verteidigungssysteme zurück. Er stülpt sich um wie ein Handschuh und kehrt die mit stachelartigen Zirren übersäte Mantelinnenseite nach außen. In dieser sogenannten Kürbishaltung sieht er fast aus wie ein Igel. Wahlweise »entzündet« er auch seine großen biolumineszenten Leuchtorgane, die sogenannten Photophoren, die sich am Flossenansatz befinden. Die leuchtenden Photophoren sehen aus wie Augen, und Räuber mögen es nicht, beobachtet zu werden. Dann lässt er sie nach und nach erlöschen und erzeugt so den Eindruck, als würde er sich entfernen. Alternativ dazu bedient er sich eines Systems, das den Gegenlichteffekt ausnutzt: Indem er die auf der Körperoberfläche verteilten Photophoren zum Leuchten bringt, insbesondere jene an den Tentakelenden, lässt er seine Umrisse »erstrahlen«, die in den Augen eines an die Dunkelheit gewöhnten Räubers somit undeutlich und verschwommen erscheinen.
Die Lichtproduktion basiert auf zwei Mechanismen, dem des Luciferins, das auch die Glühwürmchen verwenden, und dem des Coelenterazins, das für die Kopffüßer der Tiefsee typisch ist. Beide Systeme verbrauchen Energie, haben also einen ziemlichen Bedarf an Sauerstoff, um zu funktionieren. Plan B sieht entsprechend vor, dass der Vampirtintenfisch statt Tinte einen Schleim aus biolumineszenten Partikeln verspritzt, die an Ort und Stelle bleiben, um den Räuber zu blenden, während sich der Vampir langsam entfernt und in der Dunkelheit verliert. Allerdings in Maßen, denn auch die Erneuerung der biolumineszenten Partikeln kostet. Der Vampirtintenfisch hat teilweise die Fähigkeit bewahrt, die Farbe zu verändern, wie es für andere Kopffüßer typisch ist, etwa für Sepien, die diese Technik zur Tarnung verwenden. Doch bis in diese Tiefen dringt kein Licht vor, und eine Veränderung der Farbe ist keine große Hilfe, um sich zu verstecken. Der Vampyroteuthis hat verglichen mit den anderen Kopffüßern tatsächlich weniger Chromatophoren, hauptsächlich rote und schwarze, und ihm fehlen die Ringmuskeln, die einen raschen Farbwechsel ermöglichen. Seinem Namen entsprechend variiert die Farbe des Vampirtintenfisches zwischen Dunkelrot und Schwarz.
Dieses Tier hat seinerseits kein großes Bedürfnis nach Licht: Seine Augen sind riesig, im Verhältnis zum Körper sind es die größten der gesamten Tierwelt. Wenn es nach oben schaut, erscheint ihm die Welt wie ein gestirnter Himmel aus vagen, durchschimmernden, möglicherweise essbaren Formen. Darüber hinaus verfügt es über Reihen kleiner zusammengesetzter Organe, die das Licht wahrnehmen und es ihm ermöglichen, auch nach hinten wachsam zu sein. Für die Jagd greift es vermutlich nicht auf den Gesichtssinn zurück, sondern spürt die Beute mit den beiden langen einziehbaren Tentakeln auf, den sogenannten Filamenten, bei denen es sich um Tastorgane handelt. Als guter Vampir umschließt es die Beute mit dem um die Tentakeln gespannten Mantel und schnappt sie mit dem spitzen, schnabelähnlichen Kiefer.
Über die Fortpflanzung der Vampirtintenfische weiß man sehr wenig. Aus einer Untersuchung der Drüsen, die mit den Geschlechtsorganen in Verbindung gebracht werden, hat man den Schluss gezogen, dass die Eier sehr klein sind, und da sich die Jungtiere in ziemlicher Tiefe aufhalten, müssen jene in den tiefen Meeresschichten abgelegt werden. Viel mehr ist nicht bekannt, und niemand hat die Tiere jemals bei der Fortpflanzung beobachtet.
Die frisch geborenen Vampirtintenfischchen bewegen sich, wie bereits erwähnt, durch Rückstoßantrieb fort, aber sie haben auch ein Paar Flossen auf dem Kopf. Wenn sie älter werden, bildet sich ein zweites Flossenpaar, weshalb die Vampirchen in einem bestimmten Entwicklungsstadium wie Schmetterlinge mit vier »Flügeln« zu »fliegen« scheinen. Das erste Flossenpaar bildet sich allmählich zurück, und am Ende bleibt nur noch das zweite Paar übrig, das jedoch nach hinten wandert und seine Form leicht verändert. All diese Veränderungen der Flossen haben zunächst den Gedanken nahegelegt, es handle sich um drei verschiedene Arten des Vampyroteuthis. Es ist nicht leicht, eine Art zu untersuchen, die in derartiger Tiefe lebt und praktisch unsichtbar ist, ein schwarzes Wesen in einem schwarzen Meer. Alles, was wir über die Verhaltensweisen dieser Art wissen, verdanken wir den seltenen und zufälligen Begegnungen mit unbemannten Tauchrobotern (Remotely Operated Vehicles) während der Erkundung von Kontinentalhängen und Tiefseebecken.
Die Geheimnisse der Vampire aus der Hölle bleiben daher vorläufig in Dunkel gehüllt.
1 Was jeden Zweifel aus dem Weg räumt, falls Sie sich gefragt...
Erscheint lt. Verlag | 27.10.2014 |
---|---|
Übersetzer | Franziska Kristen |
Zusatzinfo | mit zahlreichen farb. Illus. |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | L'Orologiaio Miope |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | Arten • Artenvielfalt • Aussterben • Biologie • eBooks |
ISBN-10 | 3-641-12585-5 / 3641125855 |
ISBN-13 | 978-3-641-12585-1 / 9783641125851 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 11,6 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich