Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent (eBook)

Eine Geschichte des neoliberalen Europa

(Autor)

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2014 | 2., Originalausgabe
447 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73868-9 (ISBN)

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Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent - Philipp Ther
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Als im November 1989 die Mauer fiel, begann ein Großexperiment kontinentalen Ausmaßes: Die ehemaligen Staaten
des »Ostblocks« wurden binnen kurzer Zeit auf eine neoliberale Ordnung getrimmt und dem Regime der Privatisierung
und Liberalisierung unterworfen. Diese Transformation brachte Gewinner und Verlierer hervor: Russland glitt in ein wirtschaftliches Chaos ab, auf dem Präsident Putin sein autoritäres Regime begründete, Länder wie Polen, Tschechien oder Ungarn erholten sich und sind heute Mitglieder der EU. Während Warschau und andere Hauptstädte sich zu Boomtowns entwickelten, verarmten ländliche Regionen.

In seinem »elektrisierenden Buch« (Jens Bisky, SZ) legt Philipp Ther eine umfassende zeithistorische Analyse der neuen Ordnung auf dem alten Kontinent vor - und zwar erstmals in gesamteuropäischer Perspektive. Er räumt mit einigen Mythen rund um »1989« auf und präsentiert eine erste Bilanz der neoliberalen Ordnung.



<p>Philipp Ther, geboren 1967, ist ein deutscher Sozial- und Kulturhistoriker. Nach Stationen u. a. an der FU Berlin, der Viadrina in Frankfurt/Oder, an der Harvard University und am European University Institute in Florenz ist er seit 2010 Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Seine Bücher <em>Die dunkle Seite der Nationalstaaten. »Ethnische Säuberungen« im modernen Europa</em> (2011), <em>Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa</em> (2014) und <em>Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa</em> (2017) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, <em>Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent</em> u. a. mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse 2015. 2019 erhielt Philipp Ther den Wittgenstein-Preis, den höchstdotierten Wissenschaftspreis Österreichs.</p>

Philipp Ther, geboren 1967, ist Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Ther war zuvor unter anderem John F. Kennedy Fellow an der Harvard University und Professor am European University Institute in Florenz. Sein Buch Ethnische Säuberungen im modernen Europa wurde 2012 vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt.

412. Krisen und Reformdebatten der achtziger Jahre

Der Niedergang des Staatssozialismus

Der Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft und des Ostblocks kam für die meisten westlichen Spezialisten und die internationale Politik völlig überraschend. Das lag unter anderem an der Außenwahrnehmung der staatssozialistischen Länder als totalitäre Systeme. In den USA war diese Sichtweise besonders verbreitet. Gemäß dem Ansatz der Totalitarismusforschung besaßen die Kommunisten unbeschränkte Macht, die Gesellschaften waren »atomisiert« und somit passiv. Dieses statische Bild des Ostblocks hatte mit den gesellschaftlichen Entwicklungen im späten Staatssozialismus wenig gemein. Zur westlichen Sichtweise gehörte es außerdem, die sowjetische Herrschaftssphäre als Einheit zu betrachten – so wie in den westdeutschen Schulatlanten, in denen sämtliche Staaten hinter dem Eisernen Vorhang in ein böses Rot getaucht und die westlichen Staaten in einem lichten Blau dargestellt wurden. Nur wenige Experten wie der deutsche Politologe Klaus Segbers oder der schwedische Ökonom Anders Åslund erkannten vor 1989 das Ausmaß der gesellschaftlichen Dynamik und der wirtschaftlichen Krise in der Sowjetunion.1

Der Niedergang des Staatssozialismus begann weit früher, in den späten sechziger Jahren. Die Niederschlagung des Prager Frühlings und damit des »Sozialismus mit einem menschlichen Antlitz« zerstörte die Hoffnungen auf eine Reformierbarkeit des Systems. Polen und Ungarn öffneten sich in den siebziger Jahren wirtschaftlich, doch der Import westlicher Technologie (zum Beispiel bei »Polski Fiat« oder in der Werftindustrie an der Ostsee) bewirkte keine gesteigerte Effizienz der Planwirtschaft, es blieben vor allem unbezahlbare Auslandsschulden. Die Sowjetunion wirkte nach außen mächtig und stagnierte ökonomisch. Sämtliche Ostblockstaaten verpassten die »digitale Revolution «, in der das Wirtschaften auf neuen 42Technologien, Produktivitätsgewinnen und internationalem Warenaustausch beruht.

Der wachsende wirtschaftliche Abstand zwischen Ost und West unterminierte die Legitimität der regierenden Kommunisten, die in der DDR einst mit dem Motto »Überholen, ohne einzuholen« angetreten waren.2 Die Machthaber versuchten, die Bevölkerung durch eine bessere Versorgung mit Konsumgütern zufriedenzustellen, aber auch in diesem Bereich waren die Resultate mager. Etliche Konsumprodukte gab es selten oder gar nicht, wenn dann waren sie nur gegen Devisen in speziellen Geschäften wie den Intershop-, Tuzex- und Pewex-Läden erhältlich – auch daher die eingangs geschilderte Bedeutung des Schwarztauschens und des Devisenschmuggels (für den es eine »zollsichere« Lösung gab: Drei gefaltete Hundertmark-Scheine waren so dick wie ein Bahlsen-Butterkeks. In die Kekspackung kamen sie, indem man den Klebefalz mit Wasserdampf öffnete und anschließend wieder verschloss). Wegen des Machtmonopols der Partei machte die Bevölkerung die Kommunisten für die Mangelwirtschaft verantwortlich.

Wie instabil die Lage war, zeigte sich 1979/80 in Polen. Dort versuchte die Regierung, das staatliche Budgetdefizit durch Preiserhöhungen für Konsumgüter und sogar für Grundnahrungsmittel zu reduzieren. Die massenhaften Proteste und andere Missstände führten zur Gründung der Gewerkschaftsbewegung Solidarność. Damit war erstmals in einem kommunistisch regierten Land eine Massenbewegung jenseits der Partei und der offiziellen Organisationen entstanden. Ende der achtziger Jahre konnten auch die reicheren Ostblockländer den inoffiziellen contrat social, eine verbesserte Konsumgüterversorgung im Austausch für politisches Stillhalten, nicht mehr erfüllen.3 Michail Gorbatschow reagierte auf die Dauerkrise mit Glasnost und Perestroika, scheiterte aber ebenso wie die ungarischen und polnischen Reformkommunisten.

Mit Blick auf das Ende des Kalten Krieges und die Renaissance Europas nach 1989 ist vor allem von Bedeutung, dass die partielle Öffnung und Liberalisierung der Ostblockländer seit den siebziger Jahren – Rumänien und Albanien waren die einzigen Ausnahmen – zu intensiveren Ost-West-Kontakten führte. Trotz aller ideologi-43schen Gegensätze stiftete die Détente Vertrauen unter den Konfliktpartnern des Kalten Krieges.4 Die kommunistischen Machthaber verbuchten die KSZE-Schlussakte von Helsinki als Erfolg, denn die gegenseitige Akzeptanz verschiedener Systeme und das Prinzip der Nichteinmischung wirkten 1975 wie eine Bestätigung des Status quo auf Jahrzehnte hinaus. Die Ostblockstaaten unterschätzten jedoch die durch die KSZE angestoßene gesellschaftliche Dynamik. Innenpolitisch nutzte die Opposition den neuen Spielraum, ein Beispiel dafür ist die Charta 77 in der Tschechoslowakei, die sich ausdrücklich auf die Beschlüsse der KSZE berief.

Jene Polen, Ungarn und Tschechoslowaken, die reisen durften, konnten sich einen persönlichen Eindruck vom konkurrierenden System verschaffen. Der Westen wirkte wie ein Magnet, sogar der einstige deutsche »Erbfeind« in Gestalt der Bundesrepublik. Es ging dabei nicht nur um die ungleich buntere Warenwelt, sondern auch um die größeren Freiheiten in fast allen Lebensbereichen. Den meisten Bürgern der DDR blieb der Weg in den Westen verwehrt, immerhin konnten sie das westdeutsche Fernsehen empfangen und sich auf diese Weise ein Bild machen. Die eingangs erwähnte tschechische Verwandtschaft kam in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre mindestens einmal im Jahr auf Besuch, um haltbare Elektrogeräte, nicht tropfende Wasserhähne und Textilien aller Art zu erwerben. Zehntausende Polen kamen als Erntehelfer in die Bundesrepublik und nach Schweden, außerdem entsandte Polen jedes Jahr zwischen 10 000 und 30 000 Vertragsarbeiter in die DDR. Diese Saison- und Gastarbeiter verrichteten nicht nur die ihnen zugewiesenen Tätigkeiten, sondern handelten nebenbei mit gefragten Westwaren und Produkten aus anderen sozialistischen Ländern. In Polen entwickelte sich der »turizm zarobkowy« (Erwerbstourismus) zu einem derart verbreiteten Phänomen, dass er zum Gegenstand soziologischer Studien wurde. Sogar Diplomaten beteiligten sich am massenhaften Schmuggel, sehr zum Ärger der DDR-Grenzbehörden, die sie passieren lassen mussten. Warschau mauserte sich zu einem Handelszentrum für den gesamten Ostblock, von dort wurden Westprodukte verkauft und verschoben, häufig bis in die Sowjetunion.5

44Es wäre naiv, diese Kontakte im Sinn einer Völkerverständigung zu deuten, denn oft genug bestätigten die persönlichen Begegnungen vorhandene Vorurteile, schufen Konkurrenzverhältnisse (zum Beispiel wenn polnische »Touristen« den Ostdeutschen in Frankfurt an der Oder das letzte Paar Kinderschuhe oder die letzte Bratpfanne wegschnappten – das erzählten Bewohner der Grenzstadt noch 2004 mit gewisser Entrüstung) und endeten in Missverständnissen. Doch immer weitere Kreise der polnischen Gesellschaft erwarben auf diesem Weg marktwirtschaftliche Kompetenzen.

Das galt auch für staatliche Wirtschaftsfunktionäre, die sich 1989/90 überlegen konnten, ob sie ihre Kenntnisse und Kontakte für eine weiche Landung im neuen System nutzen oder die alte Ordnung mit Gewalt aufrechterhalten wollten. Die Biographie des DDR-Außenhandelsfunktionärs Alexander Schalck-Golodkowski zeigt, dass man nach dem Zusammenbruch des Systems sogar unbehelligt im Westen weiterleben konnte. Die Formel »Wandel durch Annäherung« funktionierte nicht, weil sich der Ostblock zu wenig wandelte, aber ein »Rapprochement« zwischen Ost und West ist auf verschiedenen Ebenen von offiziellen diplomatischen Begegnungen bis zum Tourismus nachweisbar.

Ein ähnlicher Mechanismus wirkte auch in Bezug auf das Verhältnis zwischen den kommunistischen Machthabern und der Opposition. Die langwierigen und vielfältigen Auseinandersetzungen zwischen den Regimes und ihren Widersachern führten dazu, dass sich beide Seiten langsam zu »Konfliktpartnern« entwickelten. Dies gilt insbesondere für die Sowjetunion sowie für Polen und Ungarn in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Die Reformkommunisten übernahmen manche Argumente der Opposition und waren vermehrt zu Veränderungen bereit. Sogar in der reformfeindlichen DDR und der ČSSR verbreiteten sich ursprünglich oppositionelle Ideen in der offiziellen Publizistik. Ein Beispiel dafür sind die Europa-Visionen, die in Gorbatschows Vorschlag eines »gemeinsamen Hauses« einmündeten.6 Die Cold War History hat die Ernsthaftigkeit und Tragweite dieser Visionen infrage gestellt, aber sie zeugen ähnlich wie die Konzepte der Friedensbewegung von einem blockübergreifenden Denken.

45Die offiziellen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ost und West hatten ohnehin eine eigene Dynamik. Die Ölkrisen von 1973 und 1979 und die anschließenden Rezessionen führten zu einer westlichen Hinwendung zum Ostblock, der als Rohstofflieferant, Handelspartner und sogar als potenzieller Absatzmarkt angesehen wurde. Nur so lässt sich erklären, dass trotz des Endes der Détente im Jahr 1979 wenig später der »Deal of the Century« besiegelt wurde. Die deutsch-sowjetischen...

Erscheint lt. Verlag 20.10.2014
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte Brexit • EU Europäische Union • Eurokrise • Europa • Gorbatschow • grexit • Griechenland • Michail • Michail Gorbatschow • Neoliberalismus • Politik • Preis der Leipziger Buchmesse 2015 • Richard G. Plaschka-Preis 2006 • ST 4663 • ST4663 • suhrkamp taschenbuch 4663 • Ukraine • Ukrainekonflikt • Wittgenstein-Preis 2019 • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-518-73868-2 / 3518738682
ISBN-13 978-3-518-73868-9 / 9783518738689
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