Mexiko (eBook)

Ein Länderporträt
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2017 | 3. Auflage
224 Seiten
Links, Ch (Verlag)
978-3-86284-169-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mexiko - Jürgen Neubauer
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Mexiko ist ein Fest der Farben und der Fülle, ein Land, in dem sich die Natur von ihrer sinnlichsten Seite zeigt, in dem achtzig Ethnien leben und sechzig Sprachen gesprochen werden. Mexiko ist aber auch geprägt von schroffen Gegensätzen zwischen Brauchtum und Moderne, Katholizismus und Eventgesellschaft, Arm und Reich, ein Land, das warm und herzlich sein kann, aber auch grausam und herzlos.
Jürgen Neubauer, der seit 2004 in Mexiko lebt, erzählt vom Alltag der Mexikaner. Er schreibt über Marienkult und Drogenkrieg, Fußballfieber und Familienleben, über Tortilla und Chili, den reichsten und den dicksten Mann der Welt, über Musik und Fiesta, Bürokraten und Schamanen - und über bunte Totenfeiern. Ein Buch, so facettenreich wie das Land.

Jahrgang 1967, war Buchhändler in London, Dozent in Pennsylvania und Sachbuchlektor in Frankfurt, ehe er 2004 nach Mexiko auswanderte. Nach einigen Jahren in der Hauptstadt und in einem Bergdorf lebt er heute in der Universitätsstadt Xalapa und übersetzt für deutsche Buchverlage. Zusammen mit José de Villa schrieb er die Castro-Biografie "Máximo Líder" (Berlin 2006).

La Caña
Das bittere Geschäft mit dem Süßen


Für einen Moment taucht das Auto in eine dichte Rauchwolke ein, auf der Windschutzscheibe landet Asche und etwas, das aussieht wie verkohlte Papierfetzchen. Dann ist die Sicht wieder frei. Durch wogende, grüne Felder mit drei Meter hohem Zuckerrohr fahre ich von der veracruzanischen Universitätsstadt Xalapa aus in Richtung eines kleinen Dorfes namens Mahuixtlán. Hinter dem Coca-Cola-Werk und einer Lagerhalle mit der Aufschrift »Zucarmex« biege ich links ab. Einige Kilometer weiter kommt der hohe Schlot der Zuckerfabrik in den Blick, aus dem dicker, schwarzer Rauch aufsteigt.

Auf der schmalen, mit Schlaglöchern übersäten Landstraße überhole ich ein paar hoch mit Zuckerrohr beladene, betagte Lastwagen, die rußend in Richtung des ingenio, der Zuckerfabrik rumpeln. Überall auf der Straße liegen plattgefahrene, meterlange Halme. Am Ortseingang komme ich an einer Wiegestation vorbei, an der ein halbes Dutzend Lastwagen Schlange steht. Über die Werksmauer ragt ein gewaltiges Wellblechdach, aus dem dichte Dampfwolken quellen. Als ich aussteige, werde ich fast von dem schweren Zuckerduft erschlagen, der mich entfernt an Lakritze erinnert.

Am Eingang trage ich mich in eine Besucherliste ein und muss meinen Führerschein abgeben – zur Sicherheit, falls ich drinnen etwas anstelle. Ein junger Mann im Guayavera, dem für die Golfregion und die Karibik typischen weißen Leinenhemd, führt mich in den Innenhof einer alten Hacienda. An den Büros in den offenen Arkaden und am alten Springbrunnen in der Mitte des Hofs gehe ich vorbei und weiter eine breite Außentreppe hinauf in den ersten Stock. Den ganzen Weg über begleitet mich ein dumpfes Grollen von Maschinen. Der junge Mann bittet mich zu warten und verschwindet in einer Tür.

Ich habe eine Verabredung mit Joel Domínguez, dem Geschäftsführer des Zuckerwerks. Es war nicht ganz einfach, den Termin für unser Gespräch zu bekommen. Bei meinem ersten Besuch dachte ich noch, ich könnte einfach in das Werk spazieren, doch am Eingang wurde ich schnell eines Besseren belehrt. Es gälten »strenge Sicherheitsvorschriften«, erklärte mir ein Wachmann damals. Aber ich solle doch eine E-Mail an den Direktor schreiben und ihm mein Anliegen vortragen. Das tat ich dann auch – und erhielt nie eine Antwort. Alles andere hätte mich auch gewundert, denn Mexikaner verschicken per E-Mail zwar für ihr Leben gern Kettenbriefe und erbauliche Powerpoint-Diashows, aber geschäftliche E-Mails ignorieren sie – besonders von Leuten, die sie nicht kennen. Ohne persönliche Kontakte geht gar nichts, und mit persönlichen Kontakten kommt man bis zum Präsidenten. Als ich ein paar Tage später mit einem Freund ein Bier trinken ging und ihm von meinem missglückten Versuch berichtete, sagte der: »Den kenne ich, mit dem bin ich in die Schule gegangen!« Er zog sein Handy aus der Tasche und rief seinen Kumpel an. Nach einem kurzen Gespräch hatte ich meinen Termin.

So kommt es, dass ich an diesem Morgen auf der Treppe stehe und warte. Nach einigen Minuten kommt ein kräftiger Mann aus der Tür, über dessen stattlichem Bauch sich ein blau gestreiftes Hemd spannt. Joel Domínguez muss ungefähr fünfzig Jahre alt sein, und ich würde ihn auf 1,90 Meter schätzen.

»Ich kann dir leider keine Führung geben«, sagt er mir gleich zur Begrüßung. »Wir haben hier strengste Hygienevorschriften. Wenn meine Kunden nur ein Haar im Zucker finden, dann schicken die mir die komplette Lieferung zurück. Aber ich kann dir die Anlage von hier oben aus zeigen.«

Er öffnet ein Fenster im Treppenhaus, und sofort dringt ein furchtbares Zischen, Rattern und Dröhnen herein. Ich blicke auf ein unübersichtliches Gewirr aus Rohren, Tanks, Ventilen, Förderbändern, Rädern und Keilriemen, dazwischen sehe ich einige Leitern und Stege. Auf einer Brüstung stehen drei Arbeiter mit Helmen und beugen sich über eine Instrumententafel. Auf dem Boden liegen zerquetschte Zuckerrohrfasern und Berge von Häckselabfällen herum. Ich frage mich, was das eine oder andere Haar von mir da noch ausmachen sollte. Andererseits bin ich ganz froh, dass ich mir die Anlage aus sicherer Entfernung ansehen kann und nicht auf den Leitern zwischen den lärmenden Maschinen herumklettern muss.

»Da hinten kommt das Zuckerrohr rein« – Señor Domínguez zeigt hinaus und ich beuge mich weit vor, um eine Rampe zu sehen, an der ein voll beladener Lastwagen steht – »und wird gehäckselt. Dann wird es viermal gepresst: hier, hier, da, und da hinten.« Er zeigt auf fast identische Maschinen, die von außen auch Milchtanks sein könnten, die aber so rattern und klappern, wie man das von Häckslern, Pressen und Zentrifugen eben erwarten würde.

Señor Domínguez zeigt auf einen riesigen Berg von Fasern hinter der letzten Maschine. »Die verbrennen wir, um die Dampfturbine anzutreiben und den Saft einzukochen.« Er zeigt auf einen mehrere Stockwerke hohen Blechverschlag, aus dem dicke weiße Wolken quellen. Dann wird ihm die Schreierei offenbar zu anstrengend. »Gehen wir in mein Büro«, ruft er.

Wir betreten einen großen, mit dunklem Holzpaneel getäfelten Raum. In einer Ecke steht verloren ein großer Schreibtisch aus falschem Mahagoni, in einer anderen ein runder Konferenztisch. Ansonsten ist der Raum kahl, an den Wänden hängt nicht einmal ein Kalender des Zuckerkonzerns Zucarmex, dem das ingenio gehört. Auf dem Schreibtisch steht ein großer Bildschirm, auf einem Beistelltisch ein Telefon. Señor Domínguez hat offenbar keine Sekretärin und schreibt alles selbst.

Mit einer einladenden Handbewegung zeigt Señor Domínguez auf einen wackeligen Klappstuhl vor seinem Schreibtisch. Er selbst nimmt hinter seinem Tisch auf einem lederbezogenen Schreibtischstuhl Platz. Mexikaner machen gern klar, wer aus ihrer Sicht wo steht. Deshalb duzt er mich auch, während ich mich entscheide, ihn lieber mit Usted und Señor Domínguez anzusprechen. Und deshalb stellt er die ersten Fragen: »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie man Zucker herstellt?«

Ich hatte eine Ausstellung besucht, ein Buch gelesen und mich mit dem Vertreter einer der Bauerngewerkschaften unterhalten. Außerdem hatte ich im Bundesstaat Morelos einmal zugesehen, wie Kleinbauern mit einer primitiven, von einer Kuh betriebenen Holzmühle ihr Zuckerrohr ausquetschen und den Saft einkochen. Ich fühle mich einigermaßen vorbereitet.

»Das Rohr wird ausgepresst, der Saft gefiltert und mit Kalk und Schwefel neutralisiert und gebleicht, und dann reduziert bis er kristallisiert.«

Señor Domínguez nickt zustimmend. Ich habe die Prüfung offenbar halbwegs bestanden. Er holt drei Plastikbecher aus einer Schublade und stellt sie vor mich auf den Schreibtisch. Einer enthält weißen Zucker, einer hellbraunen und der dritte braunen.

»Wir stellen drei Qualitäten her. Die Farbe und Konsistenz hängt damit zusammen, wie lange der Zucker getrocknet wird und wieviel Kalk und Schwefel wir zusetzen. Der Mascabado« – er zeigt auf den braunen Zucker – »wird gar nicht gebleicht und enthält am meisten Feuchtigkeit. Der hier« – er zeigt auf den hellbraunen Zucker – »ist der normale Haushaltszucker. Und der hier« – der weiße – »ist für Puderzucker und den Export.«

Dann erklärt er mir ausführlich den gesamten Produktionsprozess in dem Werk, das er seit 15 Jahren leitet. Aber mehr als die Herstellung selbst interessieren mich eigentlich der Anbau und die Ernte des Zuckerrohrs. Denn das ingenio übernimmt nicht nur die Herstellung des Zuckers, sondern den gesamten Prozess von der Pflanzung bis zur Ernte des Zuckerrohrs.

Die böse Stiefschwester


Das Zuckerrohr stammt ursprünglich aus der Region von Neuguinea und kam von dort nach China und Indien. Während der Kreuzzüge brachten die Araber den Zucker in den Mittelmeerraum, und von dort eroberte er Europa. Noch in der Renaissance war er ein extrem teures Luxusgut, in dessen Genuss nur Könige und Bischöfe kamen. Und Kranke, denn auch Apotheker verwendeten ihn in winzigen Dosierungen, um ihre bittere Medizin zu versüßen. Gemeine Bauern oder Bürger süßten dagegen mit Fruchtsäften und Honig. Die Zuckerproduktion war ein Riesengeschäft. Deshalb nahm Kolumbus das Zuckerrohr schon auf seiner zweiten Reise in die Karibik mit, wo es prächtig gedieh. Von Kuba brachte es Hernán Cortés drei Jahrzehnte später nach Veracruz und errichtete das erste ingenio des amerikanischen Festlands in Santiago Tuxtla. Später verlagerte sich der Anbau ins Landesinnere der Kolonie, zum Beispiel in die heutigen Bundesstaaten Mexiko und Morelos, die sich in der Nähe der Hauptstadt befanden.

Im neuen Wirtschaftssystem der Kolonie war der Mais so etwas wie das Aschenputtel und das Zuckerrohr, ebenfalls ein Süßgras, die böse Stiefschwester. Die Spanier waren nicht am Mais interessiert, sondern am ersten Cash-Crop des aufkeimenden Kapitalismus. Auf den Maisfeldern der unterworfenen Ureinwohner bauten sie nun ihr Zuckerrohr an und rodeten riesige Wälder, um das Holz in ihren ingenios zu verfeuern. Und weil im Laufe des 16. Jahrhunderts geschätzte 80 Prozent der Ureinwohner durch Krankheiten und Hunger starben, brachten sie afrikanische Sklaven ins Land, die auf den Plantagen und in den ingenios arbeiteten. So entstand in der Golfregion und in anderen Teilen des Landes eine vollkommen neue Mischung aus amerikanischer, europäischer und afrikanischer Kultur. Das Zuckerrohr war einer der Totengräber der prähispanischen Kultur und das Fundament der neuen kolonialen Landschaft. Hätte der spanische König den Zuckerexport aus Neuspanien nicht verboten, wäre Mexiko vermutlich ein...

Erscheint lt. Verlag 1.7.2017
Reihe/Serie Länderporträts
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber
Reiseführer Nord- / Mittelamerika Mexiko
Schlagworte Adipositas • Alltag • Arbeit • Bräuche • Drogenkrieg • Esskultur • Familie • Feste • Fettleibigkeit • Fußball • Geschichte • Gesundheitssystem • Gewohnheiten • Katholizismus • Länderporträt • Leben • Moderne • Musik • Neokolonialismus • Politik • Religion • Soziale Unterschiede • Sprachvielfalt • Telenovelas • Tortilla • Totenfeiern • Tradition • Zuckerrohr
ISBN-10 3-86284-169-3 / 3862841693
ISBN-13 978-3-86284-169-1 / 9783862841691
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