Im Angesicht des Bösen (eBook)
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-30761-2 (ISBN)
Axel Petermann Jahrgang 1952, ist Tatortanalytiker (Profiler) und Kriminalkommissar bei der Bremer Polizei. Er hat in über 1000 Fällen gewaltsamen Todes ermittelt und leitet die Dienststelle Operative Fallanalyse, die er auch begründete. Weiterhin lehrt er als Hochschuldozent Kriminalistik. Er berät die TV-Redaktion Tatort, mehrere seiner Fälle dienen als Vorlage für Produktionen dieser Sendung. Sein Buch «Auf der Spur des Bösen» war über 20 Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste.
Axel Petermann Jahrgang 1952, ist Tatortanalytiker (Profiler) und Kriminalkommissar bei der Bremer Polizei. Er hat in über 1000 Fällen gewaltsamen Todes ermittelt und leitet die Dienststelle Operative Fallanalyse, die er auch begründete. Weiterhin lehrt er als Hochschuldozent Kriminalistik. Er berät die TV-Redaktion Tatort, mehrere seiner Fälle dienen als Vorlage für Produktionen dieser Sendung. Sein Buch «Auf der Spur des Bösen» war über 20 Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste.
Ohne Erbarmen
Ein Verbrechen, wie es im Buche steht
Der Regen prasselt heftig gegen die Windschutzscheibe meines Dienstwagens, als ich die Packhäuser an der Weser erreiche. Ich schlage den Kragen meines Trenchcoats hoch und haste dem Neubau entgegen. Leben am Fluss heißt die neue Wohnphilosophie in diesem Quartier. Für mich gewinnt der Satz eine völlig neue Bedeutung. Ich bin pitschnass, als ich die ehemalige Lagerhalle erreiche. Seitdem sich der geschäftige Hafenbetrieb in die Schwesterstadt Bremerhaven verlagert hat, wo genügend Platz ist, um die modernen Containerriesen zu löschen und zu beladen, werden die leerstehenden Lager- oder Industrieräume im Bremer Hafen nach und nach zu Wohn- und Lebensraum umfunktioniert. Die Anlage mit den aufwändig renovierten Loftwohnungen, exklusiven Boutiquen, Büroräumen und Anwaltspraxen ist nach neuesten bautechnischen Erfordernissen gestaltet; weiß getünchte Wände, hellgrau gestrichener Betonboden, verglaste Oberlichter und zahlreiche Deckenstrahler sorgen für eine taghelle Atmosphäre. Doch diese Helligkeit steht im krassen Gegensatz zu der etwa einen Meter langen und fast 40 Zentimeter breiten Lache auf dem Beton. Dunkelrot ist sie, das Blut ist bereits eingetrocknet. Als Michelle Reuter hier ermordet wurde, war ich noch im Urlaub in Schweden. Nach meiner Rückkehr war ich sofort ins Büro gefahren. Es war ein Fall, der mich eine lange Zeit beschäftigen würde.
Michelle Reuter war an jenem Abend nach 20 Uhr nach Hause zurückgekehrt, nachdem sie Freundinnen besucht hatte. Sie hatte ihr weißes Cabriolet im Parkhaus abgestellt und war mit Handtasche und zwei großen Umhängetaschen zum Fahrstuhl gegangen. Allem Anschein nach hatte der Täter in dem kleinen Gang vor dem Aufzug auf sie gewartet und sie sofort mit Messerstichen attackiert. Ihre gellenden, Todesangst signalisierenden Hilfeschreie hatten die wenigen Bewohner der Anlage aus ihrer Hitzelethargie gerissen. Trotzdem waren mehrere Minuten vergangen, bis sich einer von ihnen endlich aufraffte, nach dem Grund für das Geschrei zu sehen. Er war zu seinem Entsetzen auf ein wahres «Blutmeer» gestoßen und hatte – so die Annahme der Ermittler – vermutlich den Täter gestört, der daraufhin geflüchtet war.
Die alarmierten Polizeibeamten folgten den Blutspuren und fanden Michelle Reuter in einem kleinen Raum unterhalb einer Treppe, dem sogenannten«Luftschacht». Sie lebte nicht mehr. Trotz vieler Hinweise und engagierter Ermittlungen der Mordkommission konnte das Verbrechen nicht geklärt werden. Wegen der extremen Verletzungen der Toten schlossen die Kollegen ein Beziehungsdelikt nicht aus und hatten bereits zahlreiche Freunde, Nachbarn und flüchtige Bekannte des Opfers überprüft. Es gab keine ernstzunehmende Spur.
Der Täter aber war möglicherweise vor dem Verbrechen von mehreren Bewohnern der Anlage gesehen worden. Eine Zeugin war am Vortag des Mordes gegen 21 Uhr zu einem Fremden in den Fahrstuhl gestiegen und hatte in einem kurzen Gespräch erwähnt, gerade von der Arbeit gekommen zu sein. Einen Tag später war ihr der Fremde erneut aufgefallen. Dieses Mal war es gegen 18 Uhr, als sie das Haus verließ und plötzlich dem Mann aus dem Fahrstuhl gegenüberstand. Sie hatte ihm noch die Haustür aufgehalten, und der Unbekannte hatte das Haus betreten.
In der nächsten Stunde war der Mann noch drei anderen Bewohnern aufgefallen: Einer jungen Frau war er fast bis zu ihrem Auto gefolgt, die beiden anderen Zeugen hatten sich darüber gewundert, wie er scheinbar ohne Ziel im Keller der Anlage herumstreunte, ehe er sie fragte, wo die Müllcontainer stünden. Das war gegen 19.15 Uhr gewesen, eine knappe Stunde bevor Michelle Reuter starb. Auch wenn es nicht erwiesen war, dass es sich bei dem Fremden um den Täter handelte, schienen die Zeugen doch ein und dieselbe Person beschrieben zu haben: ein Mann Ende 20, schlank und klein, helle Haare, Brille, Jeans und weißes T-Shirt. Keine besonderen Merkmale.
Das Verhalten des Täters ist ungewöhnlich, sein Motiv ist zu diesem Zeitpunkt unerklärlich. Ich entschließe mich daher, von der üblichen Methode einer Mordermittlung abzuweichen und stattdessen eine sogenannte Tatort- oder Fallanalyse durchzuführen. Der Begriff aus dem Amerikanischen ist den meisten geläufiger: Profiling. Obwohl ich schon seit über 20 Jahren Erfahrungen als Mordermittler gesammelt habe, beschäftige ich mich mit dem neuen analytischen Ansatz erst seit gut einem Jahr und hatte erst ein paar der zahlreichen Schulungen absolviert. Bis zur Zertifizierung zum Fallanalytiker lag noch ein weiter Weg vor mir.
Ich kann heute gar nicht mehr genau sagen, weshalb mich die Methoden des Profilings so fesselten: Waren es die beeindruckenden Fallstudien aus den USA über Serienmörder wie Ed Gein, Jeffrey Dahmer und Ted Bundy? War es die generelle Faszination des Bösen, die jeder kennt, der gerne Krimis liest oder sieht? Oder war es die Hoffnung, endlich Erklärungen für das Verhalten mancher Täter zu finden, das wir bislang als absurd, bizarr oder schlicht nicht nachvollziehbar bezeichnen mussten? Vermutlich war es eine Mischung aus allem.
Ich wusste jedenfalls, dass ich mich nicht mehr damit zufriedengeben wollte, Täter zu fangen und zu Geständnissen zu bewegen, ohne die echten Gründe herauszufinden, weshalb sie auf diese oder jene Weise getötet hatten. Ich hoffte, mehr über das einzelne Verbrechen und den Täter zu erfahren und damit auch über die unerschöpfliche Vielfalt der menschlichen Psyche. So wurde der Mord an Michelle Reuter meine erste richtige Analyse als angehender Profiler. Damals allerdings noch als Leiter der Mordkommission, das Kommissariat «Operative Fallanalyse» sollte ich erst später gründen.
Ich musste ganz anders vorgehen als bis dahin. Den bekannten Weg zu verlassen war eine ungewohnte Herausforderung. Die Fallanalyse fußt auf drei Säulen: Spuren am Tatort, Spuren an der Leiche und Persönlichkeit des Opfers. Aussagen von Zeugen und Hinweise auf den Täter außerhalb des Tatorts, die in einer üblichen Mordermittlung oft den Kern bilden, interessieren den Fallanalytiker wegen der ihnen innewohnenden Subjektivität kaum. Außer es geht um die Festlegung zeitlicher Abfolgen und um die Charakterisierung des Opfers. Hierzu benötige ich sogar möglichst viele Meinungen, um ein einigermaßen authentisches Bild zu bekommen: Welche Wesensmerkmale hatte der Mensch? Wie vertrauensselig war er, wie verhielt er sich in gefährlichen Situationen? Das Zentrum der Fallanlyse aber ist der Tatort: Die Spuren der Tat können erzählen, welchen Bedürfnissen der Täter nachgegangen ist, wie detailliert er seine Tat geplant hat und was ihn überhaupt motiviert hat, das Verbrechen zu verüben.
Um darauf eine Antwort zu finden, stelle ich mir am Tatort sehr viele Fragen, bei denen es immer um die Bewertung des Täterverhaltens geht: Wie erfolgte die Kontaktaufnahme zum Opfer? Wie sehr hatte er sich und seine Impulse unter Kontrolle? Wie gewalttätig war sein Verhalten? War es lediglich funktionell, also erforderlich, um den Widerstand des Opfers zu überwinden? Oder war es bedürfnisorientiert? Welche Waffen setzte der Täter ein – die eigenen Hände, Stich- oder Schlagwerkzeuge? Brachte er Waffen zum Tatort mit, oder hat er sie dort zufällig gefunden, was man als «Waffen der Gelegenheit» bezeichnet? Wann hat er das Opfer verletzt: vor oder nach dem Tod? Oder während des Sterbens? Wie tötete der Täter? Würgte oder drosselte er zunächst und stach dann auf das Opfer ein? Oder tötete er in umgekehrter Reihenfolge? Wie war das sexuelle Verhalten? Gab es dies überhaupt? Wenn ja, deutete es auf ungewöhnliche sexuelle Bedürfnisse hin, wie Fetischismus oder Sadismus? Verging sich der Täter an dem Mordopfer? Und was machte er mit der Leiche? Ließ er sie einfach liegen, versteckte er sie, oder brachte er sie an einen anderen Ort? Versuchte der Täter, Spuren wie Fingerabdrücke oder Sperma zu vermeiden, die ihn identifizieren könnten? Trug er also Handschuhe oder benutzte er ein Kondom? Es ist eine Menge von Fragen, die ich beantworten muss, um den Ablauf des Verbrechens möglichst realitätsnah rekonstruieren zu können. Dies bringt mich dann hoffentlich dazu, das Tatmotiv zu verstehen, die Bedürfnisse des Täters zu beschreiben und sein persönliches Profil zu bestimmen.
In dem getrockneten Blut ist das grobe und rautenförmige Profil eines Arbeitsschuhs zu erkennen, wie Stempel sind die Abdrücke der Sohle in regelmäßigen Abständen auf dem Boden zu erkennen, bis sie sich in der Tiefe des Raumes verlieren. Um die Lache sind dicke Blutstropfen verteilt, die strahlenförmig auslaufen. Eine schmale Wischspur führt von hier zu der grauen Stahltür einer Schleuse, dem Zugang zum Fahrstuhl, den Abstellräumen und dem Raum für Fahrräder.
Ich öffne die feuerhemmende Schleusentür und betrete den knapp acht Quadratmeter großen fensterlosen Vorraum. Das fahle Licht von Neonröhren beleuchtet ihn gespenstisch, zwei Stahltüren führen zu weiteren Räumen. Der Raum erinnert mich an ein Verlies.
Auf dem Boden und an den Wänden entdecke ich ebenfalls Blutspuren. Obwohl ich im Büro bereits die Fotos des Tatortes und der Leichenobduktion aufmerksam betrachtet habe, erschreckt mich das Ausmaß dieser stummen Tatzeugen. Einen solchen Ausdruck brutaler Gewalt habe ich noch nie an einem Tatort erlebt.
Um das Verbrechen rekonstruieren und verstehen zu können, muss ich das blutige Spurenbild interpretieren. Eine bedrückende Aufgabe, die hier nach unbeschwerten Urlaubstagen auf mich wartet. Der modrige Verwesungsgeruch des Blutes macht sie nicht gerade attraktiver. Es sind solche Momente, in denen es...
Erscheint lt. Verlag | 9.3.2012 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | authentisch • Kriminalfälle • Profiler • Serienmörder |
ISBN-10 | 3-644-30761-X / 364430761X |
ISBN-13 | 978-3-644-30761-2 / 9783644307612 |
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