Meine Reise durchs Land der Riesen (eBook)
230 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-5718-0 (ISBN)
Sara Dorothea Tormöhlen wurde 1984 in Hannover geboren. Seit mittlerweile über zwanzig Jahren in Berlin beheimatet, arbeitet sie als Lehrerin für Deutsch und Englisch an einer Schule in Pankow. Nach einer Reise durch Schottland im Jahr 2017 und einem schicksalhaften Buchgeschenk entwickelte sich eine Leidenschaft fürs Weitwandern, die bis heute anhält. Der Text »Meine Reise durchs Land der Riesen« entstand nach einer Pilgerreise durch Norwegen und ist das erste Buch der Autorin. Im April 2024 erschien im Rahmen des Field Trip Awards 2023 bereits ein Kapitel in der Anthologie »Von Neugierde, Mut und Reiselust« des Reisedepeschen Verlags.
»Das Unmögliche zu schaffen, gelingt einem nur,
wenn man es für möglich befindet.«
Lewis Carroll, Alice im Wunderland
Prolog
Langsam ziehe ich das Pflaster ab, das sich mit der Wundflüssigkeit, Blut, Schweiß und Dreck zu einem etwas ekligen, kaugummiartigen Klumpen vermischt hat, und mir entweicht ein kurzes Zischen. Ich verziehe mein Gesicht vor Schmerzen und betrachte angewidert die Blase, die sich auf meinem großen Zeh gebildet hat. Kurzentschlossen tauche ich meinen Fuß in das eiskalte Wasser. Die Kälte ist wohltuend und überdeckt den Schmerz. Kurz vergesse ich die Strapazen der vergangenen Tage. Meinen Rucksack habe ich auf eine betonierte Plattform, keine Armlänge von mir entfernt, abgestellt. Bedrohlich nah am Rande dieses Sees liegt er mehr, als dass er steht, fast so, als wolle auch er sich ausruhen. Ich atme tief ein und lasse meinen Blick über das Wasser gleiten. Von meinem Platz aus kann ich beobachten, wie keine fünfzig Meter von mir entfernt ein Windsurfer scheinbar mühelos gerade Linien übers Wasser zieht. Dann erst fällt mir auf, dass der See voller Wassersportler ist. Sie rudern, schwimmen, segeln und paddeln im Stehen oder Liegen in und auf dem See. Trotz des geschäftigen Treibens geht von ihnen eine Gelassenheit und Unbekümmertheit aus, die mich schlagartig neidisch macht. Ich spüre, wie noch etwas anderes als die Hitze dieses Sommertages in meinem Körper aufsteigt. Da ist es, das Gefühl, das sich bereits seit Tagen immer wieder in diese von mir selbst gewählte Gestaltung meines Sommerurlaubs mischt, eine Mischung aus Wut und Frust. Nun sitze ich hier, habe gerade einmal 150 von den insgesamt 643 Kilometern hinter mich gebracht, von denen ich fast die Hälfte auf einem Schiff saß und tue mir selbst unendlich leid. So sollen meine Ferien also aussehen? Und warum genau habe ich mir diese Wanderung noch gleich vorgenommen?
*
Drei Stunden zuvor. Ich sitze auf dem Skibladner. Ein alter Raddampfer aus dem 19. Jahrhundert schippert mit mir über den Mjøsa-See, den größten Binnensee Norwegens. Lange habe ich mit mir gerungen, ob ich die Etappe heute ausfallen lasse oder nicht. Nun starre ich vom Schiff aus auf den Weg, den ich gegangen wäre und bin froh, dass der dröhnende Schiffslärm meine Gedanken übertönt. Die Sonne strahlt mit der guten Laune der meisten Passagiere um die Wette und ich ziehe meine Schirmmütze tiefer in die Stirn, um mein missmutiges Gesicht zu verbergen. Meinen Rucksack und meine Wanderschuhe möchte ich am liebsten verstecken, um den üblichen Fragen nach meinen Reiseplänen auszuweichen. Auf dem Schiff befinden sich viele Einheimische. Sie stehen und sitzen in Gruppen, Paaren und Familien zusammen und unterhalten sich auf Norwegisch. Ich sitze allein auf einer Bank mitten auf dem Schiffsdeck und habe die Beine auf den Rucksack gelegt. Später werde ich genau dort, wo meine Shorts enden und meine Socken beginnen, einen reizenden, knallroten Sonnenbrand bekommen, der mich bis zum Ende des Sommers begleiten wird. Eine ältere Dame, die mir gegenübersitzt, schmiert fleißig ihre Arme mit Sonnencreme ein. Eine Unternehmung, an der ich mir ein Beispiel hätte nehmen sollen. Sie wirkt geschäftig und nimmt wenig Notiz von den Menschen und der sich allmählich wechselnden Landschaft um sie herum.
Links von mir sitzt ein Vater, der seiner Tochter aus einem Buch vorliest. Es ist Alice im Wunderland von Lewis Carroll. Ich muss lächeln. Nachdem sie es beiseitegelegt haben, bleibt mein Blick noch eine Weile auf dem Buchdeckel haften. Es ist eine schöne Ausgabe mit einem blauen Einband und einem stilisierten Baum, auf dem eine Katze sitzt. Vor dem Baum schaut die charakteristische Darstellung einer blonden Alice in weißem Kleid und Schleife im Haar zur Katze hinauf. Der junge Vater hat gerade seiner Tochter erlaubt näher an die Schiffsrehling heranzutreten und fängt meinen Blick auf.
»Tolles Buch, oder?«, fragt er auf Englisch. Ich nicke und beteuere, dass es eines meiner Lieblingsbücher ist.
»Ist heute auch dein Nichtgeburtstag?«, fragt er mich aufmunternd.
»Ja«, sage ich lächelnd, »deiner auch?« Wir müssen beide lachen. Der Mann, der sich mir als Arjen vorstellt, trägt eine modische Sonnenbrille und ein blaues Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hat. Nach einer kurzen Pause frage ich, ob sie auch in Hamar aussteigen würden. Er nickt und fragt:
»Warst du schon einmal dort?« Ich schüttele den Kopf und wir schweigen kurz.
»Wir sind gerade hierhergezogen. Meine Frau arbeitete bis vor kurzem in Oslo und ich komme aus Amsterdam.«
»Was hat euch nach Hamar verschlagen?«
»Wir hatten die Großstadt satt und es war schnell klar, dass wir in Norwegen und nicht in den Niederlanden leben würden. Meine Schwiegereltern wohnen in Hamar und mir hat es sofort gefallen. Du wirst sehen, es ist eine sehr schöne Stadt.« Bei diesen Worten blicke ich erwartungsvoll nach vorn, nur um dann enttäuscht festzustellen, dass noch keine Stadt in Sicht ist.
»Fiel es dir schwer deine alte Heimat hinter dir zu lassen?«, frage ich.
Während Arjen überlegt, blickt er zu seiner Tochter hinüber, die an der Reling lehnend die Seevögel beobachtet. Mir fällt auf, dass sie mit ihren langen blonden Haaren und dem hellen Sommerkleid selbst ein bisschen Ähnlichkeit mit Alice hat. »Hast du Kinder?«, fragt er unvermittelt.
»Nein«, sage ich und merke, wie mich diese Frage immer ein bisschen auf meinem Stuhl herumrutschen lässt.
»Weißt du«, sagt er dann, »wenn man Kinder hat, wird alles irgendwie zweitrangig. Selbst Freunde, die jahrelang deine wichtigsten Bezugspersonen waren, rücken für die Familie in den Hintergrund. Das ist so. Wir haben uns dafür entschieden, was für Emmi und uns das Beste war. In Hamar haben wir viel Platz und Emmi hat zumindest Oma und Opa, also meine Schwiegereltern, da. In Amsterdam wäre das alles etwas anders gewesen. Und wie gesagt, Großstadt wollten wir nicht mehr.« Ich nicke stumm.
»Ich meine, natürlich vermisse ich meine Freunde. Wir sind in Kontakt und sehen uns, so oft es geht. Das klingt jetzt, als hätte ich sie gegen ein anderes Leben eingetauscht.« Er lacht bei diesen letzten Worten kurz schallend auf.
»Ich glaube, ich verstehe, was du meinst«, entgegne ich und wir schweigen eine Weile. Ich beobachte nun auch die Seevögel, die immer wieder das Schiffsdeck ansteuern, in der Hoffnung etwas Essbares zu ergattern. Dann erkläre ich: »Ich habe immer gedacht, ich sei eine Großstadtpflanze durch und durch. Als meine Eltern mit uns aufs Land zogen, habe ich zwei Monate lang nicht mit ihnen geredet, so sauer war ich auf sie. Mit Achtzehn bin ich dann sofort nach Berlin. Ich musste rein ins Getümmel, ins echte Leben. Mittlerweile flüchte ich vermehrt aus der Enge der Großstadt und sehne mich nach mehr Platz.« Mein Zuhörer nickt nun selbst teilnahmsvoll. »Und wenn deine Tochter es später will, kann sie immer noch in die Großstadt ziehen und ihre Eltern dafür verfluchen, dass sie mit ihr in irgendein Dorf in Norwegen gezogen sind.«
Ich grinse ihn an, doch er sagt nur: »Wart’s mal ab! Hamar wird dir gefallen.«
Wie aufs Stichwort zeichnet sich vor dem Schiffsbug die Silhouette einer Stadt ab.
»Papa!«, ruft die kleine Alice, die eigentlich Emmi heißt, und rennt aufgeregt zu ihrem Vater. Sie unterhalten sich auf Norwegisch und es scheint um die Mutter zu gehen. Ich löse mich langsam aus meiner entspannten Sitzposition und strecke meine steifen Glieder. Dann setze ich meinen Rucksack auf die Bank, auf der ich bis eben saß und hocke mich davor, um mir das Aufsetzen des Rucksacks zu erleichtern. Mit wenigen Handgriffen sind die Gurte festgezurrt. Unwillkürlich erinnert mein Körper sich daran, was es bedeutet eine Pilgerin zu sein. Das Schiff ist dem Ufer nun deutlich näher und steuert seitlich an den Landungssteg heran. Ich sehe, wie viele Menschen dichtgedrängt auf einer etwas erhöhten Plattform stehen und die Ankunft des Schiffes erwarten. Dabei fällt mir eine hochgewachsene, schlanke Frau mit langen glatten Haaren auf, die das Schiff nach jemandem abzusuchen scheint. Nach einigen weiteren Minuten, in denen das Schiff rangiert wird, ist die Position gefunden und das Dröhnen der Motoren, das während der gesamten Fahrt akustischer Begleiter war, verstummt.
Die Menschen drängen vom Schiff und ich reihe mich in die Schlange der von Bord Gehenden ein. Weiter vorne kann ich Arjen und Emmi erkennen. Sie winken begeistert einer Frau auf der Plattform zu. Als ich ihren Blicken folge, erkenne ich sogleich die großgewachsene Frau wieder, die mir zuvor aufgefallen war. Das unablässige Lächeln und Winken bedeuten mir, dass sich die eine Seite ebenso sehr auf das Wiedersehen freut wie die andere. Emmi springt auf und ab und ruft immer wieder nach ihrer Mutter. Nachdem die Passagiere einer nach dem anderen von Bord gelassen werden, fällt mir ein, dass ich mir noch keinen Stempel in meinen Pilgerpass habe geben lassen...
Erscheint lt. Verlag | 21.10.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte ► Europa |
Schlagworte | Norwegen • Olavsweg • Pilgern • Trekking • Wandern |
ISBN-10 | 3-7597-5718-9 / 3759757189 |
ISBN-13 | 978-3-7597-5718-0 / 9783759757180 |
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