Über die Felder (eBook)
256 Seiten
Delius Klasing Verlag
978-3-667-12995-6 (ISBN)
VORWORT
EINE REISE ÜBER DIE FELDER
Mir ist es selbst nie so richtig aufgefallen: Radfahrer sind Menschen, die viel Zeit allein verbringen. Ob eine sonntägliche Ausfahrt, eine Trainingsrunde oder ein Bikepacking-Abenteuer – die meiste Zeit sind wir solo im Sattel. Und selbst dann, wenn man ein Freund von Gruppenausfahrten ist oder ohne eine Begleitung gar nicht erst das Rad von der Wand nimmt, kommt man irgendwann an einen Punkt, an dem man schweigend nebeneinanderher fährt, in Gedanken versunken, die Landschaft genießend. Das ist eine schöne Sache, denn dann passiert meist etwas, das sich so in kaum einer anderen Sportart findet: Man beschäftigt sich nur mit sich selbst. Man kommt auf Ideen, wird vielleicht kreativ, entwickelt Lösungen für die Probleme des Alltags. Man existiert dann nur für sich selbst, für das Rad und für das Ziel, an dem man sich schon vor dem inneren Auge entspannen sieht. Und man fragt sich, was es wohl mit dem Weg, auf dem man gerade vor sich hin rollt, auf sich hat, vielleicht ein besonderes Landschaftsmerkmal – ein Gebäude, ein Baum, ein Denkmal, das an einem vorüberzieht – oder den Pass, den man keuchend und schwitzend zu meistern versucht. Mir zumindest geht es jedes Mal so. Selbst wenn ich meine wöchentliche Trainingsrunde fahre, die ich inzwischen in und auswendig kenne.
Das ist es, was Radsport für mich so besonders macht. Wenn ich wie ausgewechselt nach Hause komme, vielleicht mit der ein oder anderen Idee im Kopf. Zum Beispiel für ein Buch wie dieses hier.
Als ich an einem Sommer im Elsass mit dem Gravelbike unterwegs war, recherchierte ich am Abend in meinem Hotelzimmer nach Radrennen, die durch diese Region gegangen waren. Sollte ich fündig werden, würde ich am nächsten Tag ein Etappenstück davon abfahren. Da waren zunächst natürlich vereinzelte Ausgaben der Tour de France, die einen Abstecher in das Elsass gemacht hatten. Dann die bekannte Tour Alsace, ein fünftägiges Profi-Radrennen, das bei Fans und Zuschauern inzwischen auch als »kleine Tour de France« gilt. Und dann stieß ich, über verschiedene Foren und den ganz tiefen Seiten des Netzes, auf die Schlachtfelder-Rundfahrt vom Frühjahr 1919, ein Etappenrennen, das nur sechs Monate nach Ende des Krieges stattfand, »der alle Kriege beenden sollte«. Der Circuit de Champs de Bataille wurde nur ein einziges Mal ausgetragen und verschwand anschließend für immer von der Bildfläche. Nahezu vergessen, gilt es bis heute als das härteste Radrennen aller Zeiten: Es war der absolute Irrsinn – eine PR-Veranstaltung einer Zeitung, deren Auflage schwächelte und deren sensationsversessene Verleger den Lesern einen modernen Gladiatorenkampf darbieten wollten. Die Fahrer: echte Haudegen, Draufgänger und Abenteurer, die jeder für sich versuchten, sich durch einen Sieg ein besseres Leben aufzubauen. Über jeden einzelnen von ihnen könnte man heute wohl ein ganzes Buch schreiben – so verrückt, amüsant, aber auch tragisch sind ihre Lebensläufe. Der Name der Rundfahrt sollte Programm sein: Der Streckenverlauf passierte die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges, nur sechs Monate nach dem Waffenstillstand, entgegen dem Uhrzeigersinn einmal die Westfront entlang, und das auf Straßen und durch Dörfer, die teilweise nur noch auf den Karten existierten. Über Schützengräben und verwüstete Landstriche, auf deren verminten Feldern immer noch der Tod lauerte. Was für eine Geschichte!
Der Krieg hat meine Fantasie bereits in meiner Kindheit beherrscht. Als Zehnjähriger verschlang ich Bücher über Panzer, war fasziniert von Flugzeugen, Waffen und U-Booten. Während sich andere Jungs in meinem Alter für Fußball oder Magic-Karten begeisterten, konnte ich nicht genug von großen Schlachten, Kriegsschiffen und Luftkämpfen bekommen. Ich weiß noch, wie ich meine Eltern zum Geburtstag und zu Weihnachten anbettelte, mich mit neuem Lesestoff zu versorgen – und wie begeistert ich mich dann mit einem neuen Buch auf mein Zimmer verzog, wo ich in meine eigene kleine Welt der großen Konflikte der Menschheitsgeschichte eintauchte. Selbstverständlich ist mir bewusst, dass Krieg das Schlimmste auf dieser Welt ist. Menschen sterben oder werden verstümmelt, täglich ereignen sich Abertausende von Tragödien, Landstriche werden verwüstet, Umwelt und Tiere vernichtet. All dies hatten mir bereits in diesem jungen Alter Eltern und Großeltern mit auf den Weg gegeben. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte mein Großvater an der Ostfront, mein Ur-Onkel blieb für immer im Atlantik, nachdem sein U-Boot von Wasserbomben getroffen wurde. Krieg, das wusste ich allein schon aus den Erzählungen meiner Familie, war etwas Schreckliches. Und dennoch übte er eine düstere Faszination auf mich aus, die ich mir selbst nicht so recht erklären konnte. Soldat wollte ich hingegen nie werden, die strengen hierarchischen Strukturen betrachtete ich stets mit Abscheu. Sogar der Sportunterricht war für mich zu viel Hackordnung. Bei den Pfadfindern war ich nur kurz, und als im Jugendlager der Arbeiterwohlfahrt Gruppenführer für die Nachtwache bestimmt wurden, waren meine Tage dort ebenfalls gezählt. Nach der Schule Soldat zu werden, das kam damals für mich trotz meines Militär-Faibles nie infrage.
Der Autor im Frühjahr 2023, irgendwo in Grand Est.Mit dem Radfahren verhält es sich ähnlich wie mit dem Schreiben: Es ist eine Entdeckungsreise. Gleichgültig, wie lang oder kurz die Ausfahrt, wie dick oder dünn das Buch ist.
Stattdessen trat mit Anfang 20 mit dem Radsport ein neues, genauso faszinierendes Hobby in mein Leben. Kaum hatte ich mein erstes Rennrad unterm Hintern, begeisterte ich mich für Trainingspläne, Komponenten und Radrundfahrten – und, wer hätte es gedacht, für die geschichtlichen Hintergründe. Große Rennen und Rennfahrer, schicksalhafte Tour-de-France-Etappen, große Siege, noch größere Niederlagen, sportliche Erfolge und menschliche Tragödien. Ich sog alles auf, was ich über Radsport finden konnte. Ich schaute mir auf YouTube immer wieder die packenden Rennen der Ullrich-, Armstrong- und Pantani-Ära an, nur um dann wenige Monate später eben jene Bergpässe selbst zu fahren – mal mit guten Freunden, oft aber allein. Ich lebte und atmete Radsport so sehr, dass ich 2022 mein erstes Radsportbuch veröffentlichte. Mit Auf Asphalt wollte ich meine Begeisterung für das Radfahren mit anderen teilen; meiner Begeisterung eine Form geben. Und trotz der Liebe und Faszination für das Radfahren las ich immer noch gerne meine militärgeschichtlichen Bücher. Abends im Bett, wenn die Beine nach einer langen Ausfahrt schwer wogen und die Gesichtshaut brannte, weil ich mal wieder vergessen hatte, Sonnencreme aufzutragen.
Ich habe meine Militär-Leidenschaft nie an die große Glocke gehängt. Sie war immer da; aber es war mein Geheimnis. Viele könnten davon abgeschreckt werden, oder es einfach nicht verstehen, so dachte ich. Es war eben eine ganz private Sache. Bis zum Zeitpunkt dieses Vorworts.
Als ich nun also im Elsass beim schwachen Schein meiner Nachttischlampe in meinem Hotelzimmer auf dem Bett saß, fasziniert versunken in die Geschichten jenes nasskalten Frühlings 1919, schien sich urplötzlich alles miteinander zu verbinden: Meine Faszination für Radsport, für Geschichte, mein Hang zu Rad-Abenteuern. Den Gedanken, ein Buch darüber zu schreiben, konnte ich auch auf meiner Heimreise nicht mehr abschütteln. Und noch ehe ich zu Hause über die Türschwelle trat, war dieser Gedanke dem Vorhaben gewichen.
Mit dem Radfahren verhält es sich ähnlich wie mit dem Schreiben: Es ist eine Entdeckungsreise. Gleichgültig, wie lang oder kurz die Ausfahrt, wie dick oder dünn das Buch ist. Sich auf die Spuren des Circuit de Champs de Bataille zu begeben, bedeutete für mich aber vor allem eines: Den Blick von der Straße zu lösen und Dinge zu erkunden, die beim bloßen »Abspulen« der Kilometer unentdeckt bleiben würden. Die Regionen, durch die das Radrennen einst führte, sind reich an Kultur, Kulinarik und Zeitgeschichte. Und obwohl dieses Buch nicht den Anspruch eines Reiseführers hat, so ist es doch ein Stück weit genau das. Die Verschriftlichung einer Entdeckungsreise auf dem Gravelbike.
Unterwegs auf der fünften Etappe: Ein wahres Privileg.Diese Reise geht über Felder, auf denen es einiges zu entdecken gibt: mal Beeindruckendes, Faszinierendes, fast immer Köstliches, Unbeschreibliches und Wunderschönes. Aber auch Tragisches und Trauriges, insbesondere wenn man sich die nördlichen Regionen ansieht, durch die das Rennen 1919 führte. Nur sechs Monate zuvor hatte es hier nichts anderes als Tod, Zerstörung und unendliches Leid gegeben. Und dann poltert da plötzlich so ein Radsport-Zirkus die ehemaligen Frontlinien entlang. Und auch, wenn die wahren Hintergründe der Organisatoren der...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2024 |
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Verlagsort | Bielefeld |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen ► Bildbände ► Europa |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
Schlagworte | Geschichte des Radsports • Gravelbike • Historie Tour de France • Historische Etappen • Kulinarische Entdeckungen • Landschaftserkundung • Radrennen • rennen von 1919 • Schlachtfelder-Rundfahrt • Tour de France |
ISBN-10 | 3-667-12995-5 / 3667129955 |
ISBN-13 | 978-3-667-12995-6 / 9783667129956 |
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