Überland (eBook)
352 Seiten
DuMont Reiseverlag
978-3-616-03187-3 (ISBN)
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Das E-Book basiert auf: 1. Auflage 2022, Dumont Reiseverlag
Die Geschichte von Raynor und Moth geht weiter: Nachdem sie Haus und Hof verloren hatten und den über 1000 Kilometer langen South West Coast Path gewandert waren, fanden sie in einer Farm in Wales eine neue Heimat. Moths Gesundheit stabilisierte sich, die Farm zu neuem Leben zu erwecken, war Herausforderung und Glück zugleich. Doch Stillstand ist keine Option für die beiden und so brechen sie erneut zu einer großen Wanderung auf, die sie erst durch das schottische Hochland und dann durch die schönsten und wildesten Landstriche Englands führt. Die Umstände sind andere als vor ein paar Jahren, doch die Fragen an das Leben, Raynors Glaube an die heilende Wirkung der Natur und die Liebe zwischen ihr und Moth sind geblieben. Ein Buch, das Mut macht!
Tipp: Setzen Sie Ihre persönlichen Lesezeichen an den interessanten Stellen und machen Sie sich Notizen... und durchsuchen Sie das E-Book mit der praktischen Volltextsuche!
<p>Seitdem Raynor Winn den kompletten South West Coast Path gelaufen ist, unternimmt sie regelmäßig Fernwanderungen und schreibt über Natur und Wildcampen. Sie lebt derzeit mit Ehemann Moth und Hund Monty in Cornwall. Ihr erstes Buch, 'Der Salzpfad', wurde ein internationaler Bestseller.<br /></p>
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Seitdem Raynor Winn den kompletten South West Coast Path gelaufen ist, unternimmt sie regelmäßig Fernwanderungen und schreibt über Natur und Wildcampen. Sie lebt derzeit mit Ehemann Moth und Hund Monty in Cornwall. Ihr erstes Buch, „Der Salzpfad“, wurde ein internationaler Bestseller.
1 Aus einem monotonen Grau treten kaum merklich die Töne einer fahlen Dämmerung hervor und ziehen sich durch den Raum, von ihrer nahezu weißen Quelle bis in die dunkelsten Winkel. Ein Lichtnebel, der in den Morgen kriecht. Ich weiß, dass das Zimmer Farben hat, aber sie sind verhüllt, verwaschen zu Schwarz-Weiß-Schattierungen. Über allem liegt schwer eine undurchdringliche Stille, die ich nicht zu stören wage. Ich schließe die Augen und versinke in dieser Stille, blende das Licht und den neuen Tag aus.
Doch die Dunkelheit bietet mir keine Zuflucht, sie birgt noch die nackte, ungeschminkte Wahrheit der Nacht, und so bin ich gefangen in der Morgendämmerung, zu traurig, um zurück-, und zu ängstlich, um vorwärtszugehen. Das Licht wird heller, es vertreibt das Grau, lässt Formen in gedämpften Farben erahnen und zieht mich in die Unausweichlichkeit des Tages. Langsam bewege ich mich durch das zunehmende Licht, ein grauer Wollpullover kratzt auf meiner kalten Haut, aber als ich leise die Tür etwas weiter öffne, stockt sein Atem. Ich halte inne, reglos, warte darauf, dass die Schrecken der Nacht zurückkehren, doch dann setzt wieder ein leiser Atemrhythmus ein, und ich schlüpfe durch die Tür, hinaus in den Morgen.
Draußen hängt weiß und nass der Nebel. Ich gehe vom Haus zur alten Obstwiese mit ihren knorrigen, sich dunkel abzeichnenden Bäumen, deren flechtenbewachsene Äste vor Feuchtigkeit triefen. Weiter den Hügel hinab verblassen ihre Konturen zu Weiß, bis sie ganz verschwinden und sich in Wasser und Luft auflösen. Der Bach fließt schnell zwischen der hohen Eiche und der Esche am Fuß des Abhangs hindurch, unsichtbar im dicken Nebel, der das Tal bis hinunter zum Flussarm einhüllt. Nur das Plätschern des Wassers deutet darauf hin, wie stark es bei dem Unwetter letzte Nacht geregnet hat. Unser kleiner weißer Hund ist auch irgendwo da unten, jagt Fasanen nach, die flügelschlagend und mit Warnrufen aus dem Unterholz hervorstürzen. Er taucht am verwilderten Rand der Wiese aus dem hohen Gras auf, rundum glücklich, wie seine Körperhaltung verrät; sein Morgen ist bereits ein Erfolg. Die Rehe äsen anscheinend irgendwo anders, vielleicht im Wald unten am Fluss, sonst wären auch sie zwischen den Bäumen hervorgebrochen. Der laute Moment ist vorbei. Als ich die Obstwiese verlasse, verhallt sogar das Plätschern des Baches, und die Stille kehrt zurück in die neblige Luft.
Im Haus kriecht Monty in seinen Hundekorb unter dem Tisch, das lange Fell verfilzt von Nässe und kleinen Zweigen. Er fällt in einen seligen Schlaf, während ich den Kessel aufsetze und Tee koche. Im Haus ist die Stille noch undurchdringlicher als auf der Obstwiese, doch die absolute Lautlosigkeit beruhigt mich, und ich hülle mich darin ein, als ich es mir im Sessel gemütlich mache und der Becher meine Hände wärmt. Die nasse Januarkälte dringt in jede Ritze des Hauses. Ich könnte den Holzofen anmachen, aber von dem Lärm würde Moth aufwachen, der noch im Bett liegt, deshalb schalte ich nur ein kleines Elektroheizgerät ein und kuschele mich in eine Jacke. Vielleicht ist es die Wärme, die sich allmählich in dieser Ecke des Zimmers ausbreitet, oder die beruhigende Wirkung des heißen Tees, aber als die Erinnerungen an die Nacht zurückkehren, wehre ich sie nicht ab, sondern lasse sie zu und betrachte sie aus der Distanz des Morgens.
***
Ich war jäh aus dem Tiefschlaf erwacht und fühlte mich in dem stockdunklen Zimmer desorientiert und verwirrt. Kein Mondlicht drang durch die dünnen Musselinvorhänge, nur die absolute Dunkelheit mitten auf dem Land, wo keine Straßenlaterne die Nacht
erhellt und nur das Prasseln des Regens gegen die Scheiben eine Ahnung von den Geschehnissen draußen vermittelt. Doch das Geräusch, das mich geweckt hatte, kam nicht von draußen, sondern aus dem Bett neben mir. Ein rasselndes, keuchendes Luftholen, das beklemmende Geräusch von Luft, die sich durch blockierte Atemwege zwängt. Das ganze Bett bebte von Moths verzweifelten Versuchen zu atmen. Ich schaltete das Licht ein und half ihm, sich aufzusetzen. Sein Gesicht war angstverzerrt, und er war unfähig zu sprechen, kein Wort entrang sich seiner zugeschnürten Kehle.
»Entspann dich, kämpf nicht dagegen an, versuch dich einfach zu entspannen.«
Langsam, ganz langsam ließ der Krampf nach, und seine Atmung normalisierte sich.
»Wolltest du Wasser trinken und hast dich verschluckt?«
»Nein, ich bin aufgewacht und hab keine Luft mehr bekommen … Ich muss aufs Klo.« Auf dem Weg zur Toilette stützte er sich auf mich, weil ihn seine linke Körperhälfte nicht tragen wollte, doch als wir den schmalen Treppenabsatz erreichten, knickten ihm die Beine weg, er stürzte und zog mich mit sich auf den Boden. Eine Weile brachte vor Schreck keiner von uns ein Wort heraus.
»Dann ist es jetzt also so weit.«
»Nein, nein, bei dir wird es nicht so weit kommen, es war nur ein schlechter Moment, das geht vorüber.«
»Verdammt noch mal, Ray, hör mir zu! Ich hab keine Kraft
mehr – warum hörst du mir nicht einfach mal zu?«
Wir lagen beide da, ein Knäuel aus Teppich und Pisse, und weinten lautlos, weil das, was passierte, so unendlich traurig war. Die Krankheit, gegen die er so lange angekämpft hatte, schlang, wie es schien, nun doch ihre kräftigen Arme um ihn, aber nicht, um ihn zu umarmen, sondern um ihn zu erdrücken. Wie lange würde es dauern, bis der Moth, den ich kannte, verschwand und er im Endstadium der Krankheit nur noch ein Schatten seiner selbst sein würde, ein Körper, der seine Funktionen aufgegeben hatte?
»Na, zumindest spare ich mir jetzt den Weg zum Klo.« Wie schafft er es nur, auch noch in den schlimmsten Augenblicken zu lachen?
»Versuchen wir lieber gar nicht erst aufzustehen. Sollen wir ins Schlafzimmer kriechen?«
Als wir vom Treppenabsatz auf allen vieren ins Schlafzimmer krochen und er seinen eins achtundachtzig großen Körper mit meiner Hilfe ins Bett hievte, war selbst im Dunkeln klar, dass wir auf einem schmalen Grat zwischen Komödie und Tragödie wandelten und jederzeit abstürzen konnten, und zwar auf die Seite der puren Verzweiflung.
Ich sah zu, wie er langsam zurück in einen tiefen Schlaf sank, dann schaltete ich das Licht aus und lauschte seinen gleichmäßigen Atemzügen. Jetzt war es real. Die Krankheit, von der wir gehofft hatten, sie würde immer auf der Türschwelle bleiben, war hereingekommen: bösartig, finster und sehr präsent. Sie war durch die Tür getreten und hatte das Kommando übernommen, hatte alles Lebendige aus dem Haus geworfen, um Platz für sich selbst zu schaffen. Ein Kuckuck im Nest, der alles zerstörte, was vor ihm dagewesen war.
***
Der frühmorgendliche Nebel steigt hinauf in einen Himmel mit tief hängenden, dichten Wolken. Es sieht nicht nach Regen aus, aber die Sonne wird auch nicht herauskommen: ein kalter, trüber Januartag. Ich werkle leise im Haus herum und lausche ständig, ob sich oben etwas rührt, aber Fehlanzeige. Am frühen Nachmittag wacht er schließlich auf.
»Mir ist schwindlig, und diese Schmerzen tief drin in meinem Kopf …« Die Worte kommen langsam aus ihm heraus, sie sprudeln nicht hervor wie früher, dem Strom seiner sich überschlagenden Gedanken folgend, sondern werden sorgfältig gebildet und zögernd ausgesprochen. Seit die Tage kürzer werden, gibt es diese sich lange hinziehenden Augenblicke zwischen uns, in denen er nach Worten sucht. Augenblicke, die unkommentiert bleiben, unerklärt, es sind nur stumme Momente des Wartens, des Wissens, dass in diesen ungeformten Worten und unausgesprochenen Gedanken eine Welt der Traurigkeit, des Leidens und des Verlusts liegt, die erst noch entdeckt werden muss.
»Ich hab dir Tee gebracht. Möchtest du ihn trinken und dann versuchen aufzustehen? Du fühlst dich bestimmt besser, wenn wir …«
»Nein. Ich kann nicht. Ich kann mich nicht ständig zwingen.« Das graue Licht des Nachmittags zieht sich langsam zu seiner Quelle zurück und lässt Schatten entstehen, als der Tee nicht mehr dampft und der Raum vor Stille dröhnt.
»Ich tu so, als würde ich leben, dabei wissen wir doch inzwischen beide, dass ich eigentlich gerade lerne zu sterben.«
Am späten Nachmittag rinnt Regen die Scheiben hinunter, die Schatten werden dunkler. Mit genügend Zeit kann man sich darauf trainieren, eine reglose Miene aufzusetzen, die die Emotionen hinter der Fassade nicht verrät. Die glatte Haut, die entspannten Muskeln kaschieren einen gequälten Schrei der Traurigkeit, des Selbstmitleids und der Angst.
»Ich hole frischen Tee. Der hier ist kalt geworden.«
***
Das Tageslicht kehrt zurück, beharrlich, unausweichlich. Der Morgen geht in einen neuen Tag über, dem man sich stellen muss. Ich höre nicht, wie er aufsteht und sich anzieht, ich sehe nur, wie er ohne Hilfe die Treppe herunterkommt.
»Ich habe dich gar nicht aufstehen gehört – du hättest mich rufen sollen.« Fast jeder Morgen beginnt damit, dass ich ihm Tee bringe und ihm dabei helfe, sich aufzusetzen. Ein deprimierender Moment, und es braucht in der Regel eine zweite Tasse Tee, um darüber hinwegzukommen.
»Ich hab’s allein geschafft; im Bett waren so viele Kissen, dass ich sowieso fast aufrecht saß. Ich geh runter zur alten Obstwiese und mache mit dem Schneiden weiter.«
»Was? Warum das denn? Nach so einer Nacht und gestern? Iss wenigstens vorher was.«
»Ich hab keinen Hunger.«
Ich sehe ihm nach, wie er langsam mit unsicheren Schritten zwischen den Bäumen...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2022 |
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Reihe/Serie | DuMont Welt - Menschen - Reisen E-Book | DuMont Welt - Menschen - Reisen E-Book |
Verlagsort | Ostfildern |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Landlines |
Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte ► Europa |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
Schlagworte | England • Raynor Winn • Reisebericht • Resilienz • Wahre GEschichte • Wandern • Wandern und Gesundheit • Weitwandern • wild zelten |
ISBN-10 | 3-616-03187-7 / 3616031877 |
ISBN-13 | 978-3-616-03187-3 / 9783616031873 |
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