Indien (eBook)

Ein Länderporträt

(Autor)

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2016 | 2. Auflage
208 Seiten
Links, Ch (Verlag)
978-3-86284-305-3 (ISBN)

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Indien - Bernard Imhasly
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Die Vielfältigkeit Indiens ist fast schon ein Klischee. Ein Land der Widersprüche, das changiert zwischen Kastenwesen und Demokratie, zwischen Götterglaube und High-Tech, blanker Armut und neuer Wirtschaftskraft mit glitzernden Shopping-Malls. Bernard Imhasly lebt seit Jahrzehnten in Indien und kann wie kaum ein Zweiter vom Subkontinent erzählen, etwa, indem er von der indischen »Hochzeitsindustrie« mit einem Jahresumsatz von circa 40 Milliarden US-Dollar berichtet oder von der nicht zu unterschätzenden Rolle der indischen Mythologie in der aktuellen Politik.
Ein Länderporträt, das die großen Unterschiede Indiens berücksichtigt und alle gesellschaftlichen Bereiche behandelt.

Jahrgang 1946, besuchte Indien zum ersten Mal vor 45 Jahren und lebt inzwischen seit 30 Jahren dort, zuerst als Schweizer Diplomat, dann als Südasien-Korrespondent der NZZ. Er schrieb auch für die taz und das Handelsblatt. Heute arbeitet er mit Sozialorganisationen. Imhasly studierte Linguistik und Ethnologie an der Universität Zürich. Als Diplomat diente er in Genf, London und Delhi. Bernard Imhasly ist verheiratet mit Rashna Gandhy; sie haben eine Tochter, Anisha, und leben in der Nähe von Mumbai.

Geschichte: Die Geschichte eines Teichs – und eines Landes


Nur noch der Name Gowalia Tank erinnert daran, dass an dieser Stelle des kleinen schmuddeligen Parks im alten Stadtzentrum von Mumbai einmal ein Trinkwasserbecken lag. Eine der Straßen, die zu ihm führt, trägt den hübschen Namen Laburnum Road. Nicht der Goldregen der Laburnum-Blüten bringt mich öfter in diese Gegend, sondern das etwas versteckt zwischen den Bäumen liegende Haus, in dem Mahatma Gandhi wohnte, wenn er in Bombay war – wie Mumbai bis 1995 hieß. Heute ist der Mani Bhavan ein kleines Gandhi-Museum und ein beliebtes Touristenziel.

Heutige Besucher haben keinen Anlass, die paar Schritte zum Gowalia Tank weiterzugehen. Zur Zeit Gandhis führte er noch Wasser. Er war umsäumt von Kokospalmen und den Wochenendhäusern reicher Bewohner der Stadt – englische Kolonialbeamte, Richter und Anwälte sowie einheimische Geschäftsfamilien. Von dort aus bot sich ein schöner Blick auf den Marine Drive entlang der Chowpatty-Bucht, an dessen Ende schon damals der Rajabai-Turm sichtbar wurde, das Wahrzeichen der Universität Bombay.

Hinter dem Teich lagen die zwei bewaldeten Hügelrippen des Malabar Hill und des Cumballa Hill. Die Parsen hatten einige hundert Meter nördlich des Teichs ihre Türme des Schweigens errichtet. Dort setzten diese Anhänger Zarathustras ihre Toten den Geiern aus, um die sakralen Elemente Feuer und Erde nicht zu verunreinigen.

Auch einige Tempel und Schulen standen damals in der Nähe des Gowalia Tanks, darunter das Sanskrit-College. Dank Schulen wie dieser besaß Bombay Ende des 19. Jahrhunderts eine lokale englischsprechende Elite. Hundert Jahre zuvor war die Stadt noch klar durch koloniale Grenzzäune getrennt gewesen: Im Fort an der Südspitze der Stadt lebten Handelsagenten und Verwaltungsbeamte der East India Company, in der sogenannten Black Town zwischen den Stadtmauern und den beiden Hügelzügen des Malabar- und Cumballa Hill wohnte die einheimische Bevölkerung der Handwerker, Fischer, Bauern und Händler. In Richtung des Landesinneren im Osten entstanden auf frisch aufgeschüttetem Boden Salzpfannen und die ersten Textilfabriken.

Die großen Veränderungen hatten 1813 begonnen, als die Britische Krone das Handelsmonopol der Ostindischen Gesellschaft in Indien aufhob. Sie lud Händlerkasten aus der Küstenregion von Gujarat, darunter die Parsen und Jains, ein, sich in Bombay niederzulassen. Kurz darauf durften die ersten Vertreter der englischen Staatskirche einreisen. Sie verkündeten das Evangelium, doch im Unterschied zu anderen Konquistadoren taten sie es nicht mit dem Schwert, sondern dem Griffel.

In den neu gegründeten Schulen wurde das alleinige Heil Christi verkündet. Aber auch die sozialreformerischen Anliegen des Neuen Testaments kamen zur Sprache und mit ihnen die Idee von Menschenrechten, wie sie die Französische und die Amerikanische Revolution verkündet hatten. Um ihnen Gehör zu verschaffen, lernten die Missionare einheimische Sprachen, sie schrieben Grammatiken und Wörterbücher. Das offizielle Ziel der zivilisatorischen Mission war nun (in den Worten des Kolonialbeamten Thomas Macaulay) die Heranbildung einer lokalen Elite als »Vermittler zwischen uns und den Millionen, über die wir herrschen, eine Klasse von Leuten, indisch in Blut und Hautfarbe, englisch im Geschmack, in ihren Einstellungen, in Moral und Intellekt«.

Die nächste Zäsur erfolgte 1858. Im Jahr zuvor hatte die Kolonialmacht in Nordindien eine Revolte ihrer lokalen Soldaten, der Sepoys, niedergeschlagen. Sie drohte sich zum Flächenbrand auszuweiten, wurde dann aber von den englischen Rotjacken, loyalen Gurkhas und Sikhs brutal beendet. Den Mogulkaiser schickte man ins burmesische Exil. Das strategisch günstig in der zentralen Gangesebene gelegene Königreich Avadh wurde formell annektiert.

Der Schock der sogenannten Sepoy Mutiny war für die Kolonialmacht auch der Anlass zu einem Strategiewechsel. Die Zeit war reif, das Pachtverhältnis mit der East India Company aufzulösen, das diese seit ihrer Gründung im Jahr 1602 über ihren südasiatischen Besitz ausgeübt hatte. Indien wurde formell eine Kronkolonie.

Damit stellte sich auch die Frage nach dem rechtlichen Status der Untertanen. In einer in ganz Indien verlesenen Proklamation versprach Königin Victoria 1858 ihren Untertanen, deren lokale Religionen und Bräuche zu respektieren. Sie sollten gleichzeitig in den »Genuss des gleichen und unparteiischen Schutzes des Rechts« kommen, das auch ihren Untertanen in England zustand. Auch der Staatsdienst sollte ihnen offenstehen, »so far as may be«.

Diese Redewendung deutet die Meinungsverschiedenheiten zwischen Konservativen und Liberalen im Westminster-Parlament an. Sie spiegelten sich auch in dessen größter Kolonie wider. Zahlreiche Kolonialbeamte waren gegen eine Gleichberechtigung der Einheimischen. Noch mehr galt dies für die Plantagenbesitzer, die Tee, Opium und Indigo anpflanzten und ihren Pächtern eine Art Zwangsarbeit auferlegten. Liberal gesinnte Beamte dagegen waren mit Macaulay der Ansicht, dass die britische Herrschaft langfristig gestärkt würde, wenn sie die einheimische Elite von den Früchten ihrer Herrschaft kosten ließe.

Die Vizekönige, die London alle paar Jahre nach Indien schickte, reflektierten diese Meinungsverschiedenheiten. Als der liberale Lord Ripon 1882 Vizekönig wurde, erließ er ein Gesetz, nach dem auch indische Richter über Engländer zu Gericht sitzen durften. Der Entrüstungssturm, der sich daraufhin gegen ihn erhob, zwang Ripon, den Entwurf zurückzuziehen. Doch die Proteste hielten an und führten 1884 zu seinem Rücktritt.

Dieses Ereignis brachte den Stein für die Gründung der ersten politischen Bewegung in Indien ins Rollen. Auf der letzten Zugfahrt von seiner Sommerresidenz in Simla nach Kalkutta und von dort nach Bombay wurde Ripon an zahlreichen Bahnhöfen mit Ehrungen lokaler Komitees begrüßt. In Bombay erhielt er 154 Abschiedsadressen, und eine große Menschenmenge begleitete ihn zum Gateway.

Ein Freund Ripons, der ehemalige Kolonialbeamte Allan Octavian Hume, wollte es nicht dabei bewenden lassen. Hume war Schotte und der Sohn eines radikal-liberalen Unterhausmitglieds. Nach seiner Pensionierung vom Dienst bei der Ostindischen Gesellschaft verbrachte er seinen Lebensabend in Indien zunächst mit dem Sammeln von Vogeleiern (seine Kollektion von 82 000 Vögeln und Eiern liegt heute im Victoria and Albert-Museum in London). Die Erfahrung des Sepoy-Aufstands hatte ihn aber aufgerüttelt. Hume vertrat die Meinung, dass Indien innerhalb des Kolonialreichs eine weitgehende Autonomie anstreben müsse.

Für Hume war die Zeit reif, dafür die lokale indische Elite von Lehrern, Anwälten und Journalisten, von erfolgreichen Geschäftsleuten und Magistratspersonen einzubinden. Der Abschied von Vizekönig Ripon wurde überraschend zum »beginning of national life«, wie es die Zeitung The Hindu in Madras formulierte. Als Florence Nightingale in London durch ihren Freund Hume davon hörte, schrieb sie ihm zurück: »We are watching the birth of a new Nationality in the oldest Civilization in the world.«

Mit der Unterstützung des Parsen Dadabhai Naoroji – des ersten britischen Unterhaus-Abgeordneten asiatischer Herkunft – mobilisierte Hume eine Gruppe von Persönlichkeiten aus den großen Städten des Landes. Sie sollten eine Zusammenkunft, einen Kongress, in die Wege leiten, der ein Programm ausarbeiten würde, das Versprechen Königin Victorias umzusetzen. Sie nannten es Swaraj, »Selbstbestimmung« im Schoß der Monarchie. Erst 30 Jahre später sollte ein anderer Mann, Mohandas K. Gandhi, die Bedeutung des Worts dramatisch erweitern – »Unabhängigkeit« von der Monarchie.

Der Kongress sollte im Dezember 1885 in Pune stattfinden. Kurz zuvor brach aber in der Stadt eine Choleraepidemie aus. Die Organisatoren wichen auf Bombay aus und mussten dort kurzfristig einen Tagungsort finden. Der Vorsteher des Sanskrit-College am Gowalia Tank erbot sich, die 72 Delegierten aus allen großen Städten Indiens in den letzten drei Dezembertagen zu beherbergen. Der erste Indian National Congress wurde zur Gründungsversammlung der Kongresspartei, unter deren Führung Indien 60 Jahre später die Unabhängigkeit erringen würde.

Vorläufig allerdings war es lediglich die erste einer jährlichen Zusammenkunft in jeweils anderen Städten, mit Hume als Generalsekretär. Ein langer Weg stand bevor, trotz des moderaten Forderungskatalogs, den die Delegierten verabschiedeten. Indern sollten »die Rechte von britischen Untertanen als britische Untertanen« eingeräumt werden. Sie sollten den Zugang zu englischen Universitäten erhalten und damit zum Staatsdienst.

Das koloniale Establishment sprach dem »Verein« das Recht ab, für alle Landsleute zu sprechen. Die Delegierten seien nichts als eine »mikroskopische Minderheit«, meinte Vizekönig Lord Dufferin abschätzig. Und der Kolonialbeamte John Strachey sagte: »Die wichtigste Einsicht über Indien ist diese: Es gibt keinen, und es gab nie einen ›Inder‹, und auch kein Land namens Indien, das im europäischen Verständnis irgendeine Form von Einheit gehabt hätte, sei sie geografisch, politisch, sozial oder religiös.« Jahrzehnte später sollte Winston Churchill diese Ansicht noch pointierter ausdrücken: »Indien ist eine geografische Fiktion, wie der Äquator.«

Strachey hatte recht. Die Sindhis, Panjabis, Bengalis, Madrasis, Gujaratis, Marathen, Parsis, Marwaris, Hindus und Mohammedaner, die sich am Gowalia Tank versammelt hatten, repräsentierten in erster Linie ihren Berufsstand, ihre Klasse und ihre ethnische Herkunft, aber keine indische Nation. In einem...

Erscheint lt. Verlag 12.8.2016
Reihe/Serie Länderporträts
Zusatzinfo 1 Karte/Tabelle
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber
Reisen Reiseberichte Asien
Schlagworte Arunachal Pradesh • Bharatiya Ganarajya • Delhi • Gateway of India • Gateway to India • Gujarat • Hindi • Hindu • Hinduismus • Hindu-Reich • Hyderabad • India Gate • Jharkhand • Karnataka • Madhya Pradesh • Maharashtra • Manipur • Monsun • Mukesh Ambani • Mumbai • New Delhi • Panjab • Puducherry • Ranchi • Sikhismus • Tamil Nadu • Tripura • westbengalen
ISBN-10 3-86284-305-X / 386284305X
ISBN-13 978-3-86284-305-3 / 9783862843053
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