Alexander Osang hat sich mit seinen hintergründigen, hellsichtigen und pointierten Reportagen ein großes Publikum erobert. In seinem zehnten Publizistik-Band beschreibt der preisgekrönte Spiegel-Journalist vor allem Menschen, die gern etwas anderes sein wollen, die von einem nächsten Leben träumen oder einen Neuanfang wagen.
Er porträtiert den Schauspieler Ulrich Mühe, der nie seiner ostdeutschen Vergangenheit entfliehen konnte, den Hollywood-Reporter Tom Kummer, der sich nicht nur Interviews mit Filmstars ausdachte, einen Pforzheimer Zuhälter, der endlich aus dem Rotlichtmilieu treten will, deutsche Rentner, die in Thailand das Paradies suchen, amerikanische Kriegsveteranen aus fünf Jahrzehnten, die keinen Frieden finden, den Musiker Cat Stevens, der sein Heil in einer neuen Religion sucht und viele andere Menschen, die auf eine zweite Chance hoffen.
Alexander Osang, geboren 1962 in Berlin, studierte in Leipzig und arbeitete nach der Wende als Chefreporter der Berliner Zeitung. Seit 1999 berichtet er als Reporter für den Spiegel, acht Jahre lang aus New York, und bis 2020 aus Tel Aviv. Für seine Reportagen erhielt er mehrfach den Egon-Erwin-Kisch-Preis und den Theodor-Wolff-Preis. Er lebt heute mit seiner Familie in Berlin.
Sein Roman 'Fast hell' (Aufbau Verlag, 2021), stand mehrere Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste. Sein Erzählungsband »Winterschwimmer« ist als Aufbau Taschenbuch lieferbar. Seit 30 Jahren erscheint sein essayistisches Werk im Ch. Links Verlag. Zuletzt erschien dort »Das letzte Einhorn. Menschen eines Jahrzehnts«.
Alexander Osang: Jahrgang 1962; Studium der Journalistik in Leipzig; Wirtschaftsredakteur, später Chefreporter der Berliner Zeitung; 1999–2006 Reporter für Spiegel und Berliner Zeitung in New York; 1993, 1999, 2001 Egon-Erwin-Kisch-Preis, 1995 Theodor-Wolff-Preis; Roman: 'Die Nachrichten', Frankfurt/Main, 2000. Bücher im Ch. Links Verlag: 'Aufsteiger – Absteiger. Karrieren in Deutschland', 1992; 'Die stumpfe Ecke. Alltag in Deutschland', 1994; 'Das Buch der Versuchungen. 20 Porträts und eine Selbstbezichtigung', 1996; 'Tamara Danz. Legenden', 1997; 'Ankunft in der neuen Mitte. Reportagen und Porträts', 1999; 'Schöne neue Welt. 50 Kolumnen aus Berlin und New York', 2001; 'Neunundachtzig. Helden-Geschichten', 2002; 'Berlin – New York. Kolumnen aus der schönen neuen Welt', 2004; 'Tierisch. Impressionen aus dem Berliner Tierpark und Zoo. Mit einem Vorwort von Alexander Osang' (Fotos von Wulf Olm), 2007.
Die ewigen Jagdgründe
Ein Vorwort
Vor zweieinhalb Jahren fragte mich der Berliner Regisseur Carsten Fiebeler, ob ich Lust hätte, gemeinsam mit ihm einen Indianerfilm zu schreiben. Ich war gerade aus New York zurückgekehrt, wo ich sieben Jahre gelebt hatte, und dachte, da gäbe es womöglich einen Zusammenhang. Im Grunde war der letzte Mohikaner ja durch die Wälder New Yorks gestreift wie ich. Carsten Fiebeler aber wollte einen Film darüber machen, wie man in den immer schneller werdenden Zeiten in Würde altern kann, sagte er. Zwei alte Indianer sollten gemeinsam zu einer letzten Reise aufbrechen. Die beiden kämen aus verschiedenen, verfeindeten Stämmen. Sie waren von der Jugend verstoßen worden, eine Notgemeinschaft, die sich auf dieser Reise näherkäme. Es sollte ein Film werden, in dem es um Herkunft und Stolz und den Tod geht. Die Hauptrollen sollten die beiden größten Indianer spielen, die das deutsche Kino je hervorgebracht hat, sagte Carsten Fiebeler.
Gojko Mitić und Pierre Brice.
In diesem Moment ahnte ich, wieso er auf mich gekommen war. Es hatte ganz sicher nichts mit den Wäldern New Yorks zu tun.
»Gojko und Winnetou. Verfeindete Stämme. Denkt man da nicht sofort wieder nur an eine Ost-West-Geschichte?«, sagte ich.
»Nicht nur«, sagte Carsten Fiebeler.
Wir saßen im Garten des Restaurants »Brot & Rosen« am Friedrichshain, ab und zu platterte ein sanfter Schuttregen auf den Baldachin über unseren Köpfen, der Hausbesitzer baute das Dachgeschoss aus, von dem aus man sicher einen wunderbaren Blick über die ganze Stadt haben würde. Das Viertel hatte sich in der Zeit, in der ich in Amerika war, komplett verändert. Es gab jetzt zehnmal so viele italienische Feinkostläden und Kinderwagen wie vor meiner Abreise, und im vietnamesischen Lebensmittelladen lag die Wochenendausgabe der New York Times. Ich sah auf den Volkspark Friedrichshain, durch den ich als Junge mit Pfeil und Bogen gerannt war. Der Bogen war aus Haselnussholz gewesen, im Pfeil steckte eine lange Stricknadel, die ich meiner Mutter geklaut hatte. Im Sommer schossen wir mit unseren Stricknadelpfeilen auf die verlassenen Wagen des Zirkus Aeros, die auf einem großen Platz hinter unserem Wohngebiet abgestellt worden waren. Dort waren meine Jagdgründe. Ich war klein, dick und sommersprossig, im Herzen aber eine Rothaut. Einmal hätte ich in dieser Rolle Andreas Hohensee aus dem Nebenaufgang unseres Wohnblockes mit meiner Stricknadel fast ein Auge ausgeschossen. Ich sehe noch heute meinen Pfeil, der knapp neben Andreas’ Kopf im Zirkuswagenholz zitterte. »Sag’ ma, spinnst du oda wat!«, schrie Hohni, wie wir ihn nannten. Ich sah ihn mitleidlos an. Die Sonne brannte auf den Prenzlauer Berg, wir waren zehn oder elf, Charaktere wie aus dem »Herrn der Fliegen«.
Carsten Fiebeler erzählte von einer deutschen Indianerbegeisterung, die weltweit einmalig sei und erstmal nichts mit Ost und West zu tun habe. Ähnlich wie den Italowestern gab es ja den deutschen Indianerfilm, ein eigenes Filmgenre sozusagen. In den deutschen Wildwestgeschichten sind fast immer die Indianer die Helden, sagte Fiebeler, der, wie mir auffiel, selbst ein wenig aussah wie ein älter gewordener Indianer.
Ich dachte darüber nach, wie schnell Pierre Brice und Gojko Mitić momentan aufs Pferd kamen. Es war doch schon sehr lange her. Meine Liebe zum DEFA-Indianerfilm erlosch vor etwa 40 Jahren, als Gojko Mitic nicht mehr Phantasieindianer spielen durfte, sondern nur noch historisch verbürgte Charaktere wie Tecumseh und Osceola, die sich, wie wir, mit dem US-amerikanischen Imperialismus auseinandersetzen mussten. Bis dahin aber hatte ich mich auf jeden Indianerfilm gefreut wie auf Weihnachten. Ich renne heute nicht mehr mit Pfeil und Bogen durch den Park, ich spiele jetzt dort Tennis. Der Indianer in mir war ein wenig hüftsteif geworden, aber er trieb mich immer noch um die Welt. Womöglich konnte ich von den beiden Alten lernen, wo die Reise hinging.
Ja, sagte ich, das interessiert mich sehr.
Wir fingen damit an, dass wir die große Karl-May-Ausstellung besuchten, die gerade im Deutschen Historischen Museum stattfand. Ich lief zwischen den Tipis, Indianerhauben, Fransenwesten und Phantasiewaffen hin und her, dem Bärentöter und der Silberbüchse, ich sah mir die Fotos von Karl May an, las die Briefe und betrachtete die Buchumschläge. Am Ende seines Lebens konnte Karl May das Land seiner Träume schließlich bereisen. Er durchquerte den Staat New York und schaffte es bis zu den Niagarafällen. Kurz danach verlor er den Verstand.
Manchmal denke ich, mir geht es genauso.
Als Junge habe ich Amerika, ähnlich wie Karl May, nur im Geiste bereist. Ich habe Mark Twain verschlungen, Raymond Chandler, Salinger, Updike und Kerouac. Aus dem, was ich dort las, aus dem, was ich im großen amerikanischen Verschwörungskino der 70er Jahre sah, den »Drei Tagen des Condor«, dem »Marathonmann« und dem »Unternehmen Capricorn«, und aus dem, was ich bei Bob Dylan, Lynyrd Skynyrd und Bruce Springsteen hörte, habe ich mir ein Bild vom gelobten Land gebastelt. Ich saß in meinem Ostberliner Kinderzimmer und starrte stundenlang auf das Cover der AMIGA-Lizenzplatte von Simon & Garfunkel. Die Schuhe und die Hosen, die die beiden trugen, der Maschendrahtzaun, vor dem sie saßen, das Licht, so stellte ich mir das vor: The Only Living Boy In New York. Das waren die Bilder, die ich hinter der Mauer vermutete. Ein staubiges Paradies. Entsprechend überrascht war ich, als ich im November 1989 zum ersten Mal Westberlin sah, wo es praktisch gar keinen Staub gab. Und auch Amerika, das ich erstmals im Sommer 1990 bereiste, hatte es nicht leicht, mit meinen Erwartungen mitzuhalten.
Aber mit der Zeit fand ich dort, was ich im Osten zunehmend vermisste. Alles war unfertig, weich, im Übergang, und so schien auch alles möglich.
Eine der ersten Geschichten, die ich in Amerika schrieb, handelte von einem Sioux-Indianer namens Mark White Bull. White Bull lebte in einem Reservat in South Dakota und hatte schon eine Menge hinter sich. Er war als junger Mann zu seiner großen Liebe, einer Pueblo-Indianerin, nach New Mexico gezogen, sie heirateten, bekamen drei Kinder, bei der Geburt des vierten fiel seine Frau ins Koma. Sie lag, an Maschinen angeschlossen, in einem Krankenhaus in Albuquerque, New Mexico. Anfangs besuchte White Bull sie dort, dann hielt er es nicht mehr aus. Er fing an zu trinken, und weil auch das nichts half, zog er mit seinen vier Kindern auf die andere Seite des Landes und begann in seiner alten Heimat Dakota ein neues Leben. Er hörte auf zu trinken, half anderen Indianern dabei, ihre Alkoholsucht mit traditionellen, indianischen Zeremonien zu bekämpfen, er ließ sich von seiner schlafenden Frau scheiden, heiratete neu, wurde Chef des Reservates, zog seine Kinder groß, ließ sich noch mal scheiden, heiratete noch mal. Nach 16 Jahren erwachte seine Exfrau plötzlich aus dem Koma und fragte nach ihm und den Kindern. Er reiste zurück in sein altes Leben und versuchte, sich angemessen zu verhalten.
In den Jahren, die ich in New York zubrachte, fühlte ich mich wieder wie ein Junge. Ich hatte das Gefühl, nicht zu altern, nichts zu verpassen. Man kann gut in so einem Gefühl hängenbleiben, ein Leben auf der Schwelle zum nächsten Leben. Ich kenne eine ganze Menge New Yorker, denen das so geht. Irgendwann gehen wir vielleicht zurück, sagen sie, aber jetzt noch nicht, morgen noch. Morgen fängt es an, das neue Leben. Deutsche sind, glaube ich, besonders empfänglich für diese Art von Leben, vielleicht weil wir so viel haben, was wir zurücklassen können, vielleicht auch, weil wir zuhause so wenig Zuspruch bekommen, wenn wir etwas Neues ausprobieren wollen. Ich kenne einen Malermeister aus Berlin-Mitte, der vor fünfzehn Jahren nach New York ging. Er hat dort in der ersten Woche seinen Pass verloren und kann deshalb nicht zurück, sagt er. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, wohnt in Absteigen oder bei älteren Damen, die sich irgendetwas von ihm versprechen. In seiner Freizeit trägt er Cowboysachen. Ein Ostberliner Buffalo Bill. Ich weiß nicht genau, wovor er wegrennt, aber nachdem ich einmal anbot, ihm beim Konsulat mit dem Pass zu helfen, hat er sich nie wieder bei mir gemeldet.
Ich ging nach Amerika, weil ich den Osten hinter mir lassen wollte. Ich hatte zehn Jahre lang Geschichten über die Probleme der Ostdeutschen bei der Wiedervereinigung geschrieben. Ich hatte das Gefühl, mich im Kreis zu drehen. Amerika sollte mich retten. Ich reiste kreuz und quer durch das Land, beschrieb seine Politik, seine Kriege, seine Stars und seine Katastrophen. Es ging immer weiter.
Amerika ist ein ewiges Versprechen auf einen Neuanfang. Manchmal erinnert mich das Leben dort an die Nachmittage meiner Kindheit, an denen ich stundenlang im Coverfoto einer alten Langspielplatte verlorenging. Irgendwann schaut man auf, und es ist dunkel.
Die erste Geschichte, die ich schrieb, nachdem ich wieder in Berlin war, handelte vom Schauspieler Ulrich Mühe, der nach der Wende in den Westen ging, um ein neues Leben zu beginnen. Er zog nach Salzburg, nach Hamburg und schließlich nach Berlin-Charlottenburg, ließ sich von seiner ostdeutschen Frau scheiden, heiratete eine westdeutsche, er wurde ein gesamtdeutscher Star und stand auf der Schwelle zu internationalem Ruhm. 16 Jahre nach dem Mauerfall erzählte er in einem Interview, dass seine ostdeutsche Exfrau, die im Sterben lag, einst für die Staatssicherheit gearbeitet hätte. Daraufhin brach ein Sturm der Entrüstung los, in dem Stimmen aus seinem alten und seinem neuen Leben durcheinanderschrien. Ulrich Mühe blieb stehen und versuchte, sich angemessen zu verhalten.
Wir besuchten...
Erscheint lt. Verlag | 1.1.2012 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Reisen | |
ISBN-10 | 3-86284-071-9 / 3862840719 |
ISBN-13 | 978-3-86284-071-7 / 9783862840717 |
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