Defekte Visionen (eBook)
155 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45732-1 (ISBN)
Alexander Thiele ist Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Europarecht an der universitären »Fakultät Rechtswissenschaften« der BSP Business and Law School in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Demokratietheorie, der allgemeinen Staatslehre und der Finanzierung des Staates.
Alexander Thiele ist Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Europarecht an der universitären »Fakultät Rechtswissenschaften« der BSP Business and Law School in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Demokratietheorie, der allgemeinen Staatslehre und der Finanzierung des Staates.
1.Defekte Visionen
In den zurückliegenden Jahrzehnten hat es an prominenten Visionen für die Zukunft der Europäischen Union nicht gemangelt – und es dürften weitere folgen. Mit beeindruckenden Beschreibungen wurde und wird dort selten gegeizt: Europäischer Bundesstaat, Föderation, Republik, Einheit, Souveränität135 – es findet sich kaum ein staatstheoretischer Großbegriff, der in dieser Debatte nicht bereits als Leitmotiv fungiert hat. Dennoch scheint die Finalitätsdebatte am Anfang des 21. Jahrhunderts in eine Sackgasse geraten zu sein. Die letzte umfangreiche Vertragsänderung, der Vertrag von Lissabon (in Kraft seit 2009), liegt Jahre zurück, neue umfassende politische Initiativen sind nicht erkennbar oder zumindest nicht Erfolg versprechend.136 Die Konferenz zur Zukunft Europas hat Mitte 2022 ihre Ergebnisse präsentiert, dennoch geht es nicht voran, vermutlich dürften auch diese bald verpuffen. Schon 2023 sprach kaum noch jemand über sie, in der Öffentlichkeit haben ohnehin nur wenige von der Konferenz, geschweige denn ihren Vorschlägen gehört. Wir tippeln auf der Stelle; seit dem Vertrag von Lissabon, eigentlich aber schon seit dem gescheiterten Verfassungsvertrag aus dem Jahr 2005, wirkt die Debatte festgefahren. Die Verunsicherung ist groß. Nach dem Austritt Großbritanniens137 hat sich die Situation nicht verbessert, im Gegenteil: Die Auseinandersetzung mit Polen138 und Ungarn hat sich eher verschärft, der Austritt aus der Europäischen Union ist – trotz der Erfahrungen mit dem »Brexit« – in einzelnen Mitgliedstaaten kein grundsätzliches Tabuthema mehr. Anstatt über die weitere Entwicklung der Integration zu sprechen, scheint es eher darum zu gehen, das Bestehende zu bewahren und zu verhindern, dass es zu signifikanten Integrationsrückschritten kommt.139 Auch die nachfolgend skizzierten Visionen spielen daher trotz ihrer prominenten Vertreterinnen und Vertreter kaum eine Rolle, werden allenfalls pflichtschuldig zitiert und wieder weggelegt. Warum?
Die hier vertretene These lautet: Es mangelt diesen Visionen an einem normativen Maßstab, einer sie tragenden Leitidee. Sie zeigen zwar Modelle auf, wie die Europäische Union in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren aussehen könnte, es fehlt aber an belastbaren und nachvollziehbaren Gründen, die – von einer Europaeuphorie oder erkennbaren politischen Interessen abgesehen – für die eigene Vision vorgebracht werden könnten. Welches aktuelle Integrationsproblem wird durch sie gelöst? Warum handelt es sich um einen zwingenden Integrationsschritt und nicht nur um ein individuelles politisches Anliegen? Teilweise scheinen die Visionen den aktuellen Integrationsproblemen sogar völlig entrückt. Joschka Fischer betont diese Distanz in seiner Rede ausdrücklich.140 Anstatt Wege aufzuzeigen, wie das eigene Integrationsziel ausgehend vom Status quo Stück für Stück verwirklicht werden kann, wird eine Debatte über staatstheoretische Großbegriffe geführt, die sich von den vermeintlich banalen Gegenwartsproblemen völlig entkoppelt. Die Geschichte der europäischen Integration ist aber seit jeher eine Geschichte ständig neuer Herausforderungen und Krisen.141 Wenn die Zukunftsdebatte von diesen gelöst verhandelt wird, wird man sie nie ernsthaft führen können – irgendein anderes und neuartiges Problem steht immer an, einschließlich völkerrechtswidriger russischer Angriffskriege.142 Schon deshalb ist eine vertiefte Debatte über diese Visionen nicht möglich, jedenfalls keine, die sich nicht in einer Darstellung subjektiver Präferenzen für die eine oder andere Option erschöpft. Man übersieht dabei zugleich, dass die heutige Krisenlösung Pfadabhängigkeiten für die mittelfristige Entwicklung begründet, die kurzfristige von der langfristigen Vision schon deshalb nicht getrennt werden darf. Die Diskussion und Beantwortung der Finalitätsfrage wird auf diese Weise ständig in die Zukunft verschoben, Wiedervorlage nach der Krise – auf die aber schon die nächste folgt.143 Die hier präsentierten Visionen erweisen sich daher als in vielerlei Hinsicht anregend und bedenkenswert, doch mangels normativ nachvollziehbarem Maßstab gleichwohl unbefriedigend: Es sind defekte Visionen, die bestätigen, dass wir in mehr als zwei Jahrzehnten kaum vorangekommen sind – die hier behandelten Visionen stehen damit beispielhaft für ein generelles Problem der aktuellen Finalitätsdebatte. Hätte Joschka Fischer seine Rede nicht auch in diesem Jahr halten können?
Joschka Fischer: Die Europäische Föderation
Vor mehr als zwei Jahrzehnten – am 12. Mai 2000 – erwartete die Humboldt-Universität zu Berlin mit dem Außenminister der damaligen rot-grünen Bundesregierung, Joschka Fischer, hohen Besuch. Der Titel des angekündigten Vortrags machte deutlich, dass Fischer grundsätzlich werden wollte: »Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration.«144 Fischer ging es um einen persönlichen Debattenbeitrag zur »Finalität«, verstanden als die »Vollendung der europäischen Integration«, vorgetragen von einem überzeugten Europäer und deutschen Parlamentarier.145
Er sah den Fortgang der Integration als »die wohl wichtigste Herausforderung, da sein Erfolg oder Scheitern oder auch nur die Stagnation dieses Einigungsprozesses für die Zukunft von uns allen, vor allem aber für die Zukunft der jungen Generation von überragender Bedeutung sein kann.« Es gehe ihm daher um »grundsätzlichere und konzeptionelle Überlegungen über die zukünftige Gestalt Europas.« Dass es mit der Integration weitergehen musste, stand für Fischer freilich außer Frage: »Für einen Rückschritt oder auch nur einen Stillstand und ein Verharren beim Erreichten würde Europa, würden alle an der EU beteiligten Mitgliedstaaten und auch alle diejenigen, die Mitglied werden wollen, würden also vor allem unsere Menschen, einen hohen Preis zu entrichten haben.« Der Sache nach knüpfte Fischer an die bekannte Fahrrad-Metapher Walter Hallsteins an: Steht die Integration still, fällt sie um.
Er unterschied im Folgenden zwischen akut anstehenden Großprojekten und der Frage nach der endgültigen Gestalt einer »großen Europäischen Union«. Kurzfristig anzugehende Großprojekte seien die schnellstmögliche Erweiterung146 und die Sicherung der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Zentral seien drei Kernfragen: die Zusammensetzung der Kommission, die Stimmengewichtung im Rat und die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen. Ihrer Lösung komme »als nächster praktischer Schritt« unbedingte Priorität zu.
Davon zu unterscheiden sei seine persönliche Zukunftsvision, bei der es um einen langen Zeitraum, weit jenseits laufender Regierungskonferenzen gehe. Deshalb müsse »sich niemand vor diesen Thesen fürchten.« Die angestrebte Erweiterung werde eine grundlegende Reform der europäischen Institutionen unverzichtbar machen, um die notwendige Akzeptanz bei den Unionsbürgerinnen und -bürgern zu sichern. Überraschenderweise hielt Fischer insoweit dann aber eine »einfache Antwort« bereit: »den Übergang vom Staatenverbund der Union hin zur vollen Parlamentarisierung in einer Europäischen Föderation, die Robert Schuman bereits vor 50 Jahren gefordert hat.«
Fischer erinnerte zunächst daran, dass die Nationalstaaten nicht wegzudenkende Realitäten seien: »Die Vollendung der europäischen Integration lässt sich erfolgreich nur denken, wenn dies auf der Grundlage einer Souveränitätsteilung von Europa und Nationalstaat geschieht.« Daher müsse das Europäische Parlament immer ein Doppeltes repräsentieren, nämlich »das Europa der Nationalstaaten und ein Europa der Bürger.« Für eine engere Verzahnung der beiden Ebenen schlug er deshalb vor, zukünftig zumindest einige Abgeordnete zu wählen, die sowohl dem nationalen als auch dem europäischen Parlament angehören. Fischer plädierte zudem für die Errichtung einer echten zweiten Kammer, legte sich organisatorisch aber nicht fest zwischen einem US-amerikanischen Senatsmodell oder einer Staatenkammer analog des deutschen Bundesrates. Auch für die Exekutive hielt Fischer zwei Optionen bereit: Die Entwicklung des...
Erscheint lt. Verlag | 17.1.2024 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Recht / Steuern ► EU / Internationales Recht |
Schlagworte | Brüssel • Bundesrepublik Deutschland • Emmanuel Macron • EU • Europa • Europäische Union • Europarecht • Europawahl 2024 • Geschichte • herrschaftsorganisation • Joschka Fischer • Legitimität der Europäischen Union • Olaf Scholz • Politik • Politikwissenschaft • Reform der Europäischen Union • Staatsrecht • Zukunft der Europäischen Union |
ISBN-10 | 3-593-45732-6 / 3593457326 |
ISBN-13 | 978-3-593-45732-1 / 9783593457321 |
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