Kinderschutz nach dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (eBook)
112 Seiten
Walhalla Digital (Verlag)
978-3-8029-5720-8 (ISBN)
Schnelle Orientierung im neuen Recht
Kinder und Jugendliche durch mehr Kooperation der verantwortlichen Akteure besser schützen - das ist die Intention des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG):
- Bessere Zusammenarbeit aller beteiligten Stellen aus den Bereichen der Justiz, Kinder- und Jugendhilfe, Medizin, Pädagogik, Psychologie, Psychotherapie und Sozialen Arbeit
- Neue Qualifikationsanforderungen für Familien- und Jugendrichterinnen, -richter, Jugendstaatsanwältinnen und Jugendstaatsanwälte sowie Verfahrensbeistände
In dieser Arbeitshilfe Kinderschutz nach dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz werden alle neuen Verfahrensregelungen im Bereich Kinderschutz jeweils den einzelnen Berufsgruppen zugeordnet und erläutert. So erhalten alle beteiligten Akteure einen guten Überblick über die Neuerungen im eigenen Aufgabenbereich sowie über die Kooperationsvorgaben mit anderen Stellen.
Die damit zusammenhängenden Datenschutzfragen sowie die Frage zur strafbewehrten Schweigepflicht werden dabei ebenso erörtert wie die Regelungen zur Prävention durch das Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder.
Marion Hundt, Professorin für Öffentliches Recht an der Evangelischen Hochschule Berlin (EHB) auf den Gebieten des Verwaltungs-, Bildungs- und Migrationsrechts und der Kinder- und Jugendhilfe, zuvor Verwaltungsrichterin in Berlin. Erfolgreiche Referentin und Fachbuchautorin.
2.2 Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII
Die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen durch das Jugendamt wird in § 42 SGB VIII geregelt. 60 Nach § 42 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist das örtliche Jugendamt 61 berechtigt und verpflichtet zur Inobhutnahme, wenn das Kind oder die bzw. der Jugendliche hierum bittet (sog. Selbstmeldende), eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder die bzw. den Jugendlichen besteht und die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann oder ausländische Minderjährige unbegleitet 62 in die Bundesrepublik Deutschland einreisen. Bei der in der Praxis vor allem relevanten zweiten Fallalternative handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Notkompetenz in akuten, nicht anders abwendbaren Gefährdungssituationen (Nachrangigkeit der Inobhutnahme). 63 Dass die Vorschrift eine Inobhutnahme nur dann gestattet, wenn eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann, verdeutlicht, dass diese Maßnahme zum einen nur vorübergehenden Charakter haben soll und zum anderen nachrangig gegenüber familiengerichtlichen Entscheidungen ist. Der Schutz des Kindes oder Jugendlichen darf ein Abwarten der Entscheidung des Familiengerichts nicht erlauben. 64 Eine dringende Gefahr im Sinne der genannten Bestimmung muss indes – angesichts des mit der Inobhutnahme bewirkten schwerwiegenden Eingriffs in das Elternrecht – stets eine konkrete Gefahr sein. Eine lediglich latente bzw. abstrakte Gefahr für das Kindeswohl reicht zur Rechtfertigung einer Inobhutnahme hingegen nicht aus. 65
Die Inobhutnahme ist eine vorläufige Unterbringung eines Kindes bei einer geeigneten Person oder in einer Einrichtung oder sonstigen betreuten Wohnform. 66 Aus den Bestimmungen wird aber auch deutlich, dass die Inobhutnahme nicht nur eine vorläufige Unterbringung darstellt, sondern es sich dabei um eine sozialpädagogische Schutzmaßnahme in einer akuten Krisen- bzw. Gefahrensituation handelt. 67 Bei einer dringenden Gefahr darf das Jugendamt das Kind oder die bzw. den Jugendlichen anderen Personen einschließlich der Eltern wegnehmen (§ 42 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbs. SGB VIII).
Nach § 42 Abs. 2 Satz 3 SGB VIII wird klargestellt, dass das Jugendamt während der Zeit der Inobhutnahme für das Wohl der Minderjährigen verantwortlich ist (Sicherstellung des Unterhalts und der Krankenhilfe). Das Jugendamt erhält die Befugnis, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl dieses Minderjährigen notwendig sind, hat jedoch bei seinen Entscheidungen den mutmaßlichen Willen der Personensorge- bzw. der Erziehungsberechtigten angemessen zu berücksichtigen (§ 42 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII). Die Inobhutnahme verschafft dem Jugendamt eine Position, die das elterliche Sorgerecht für die gesamte Dauer der Inobhutnahme vorübergehend und teilweise überlagert und insoweit eine öffentlich-rechtliche Notkompetenz 68 verschafft. Allerdings bewirkt die Inobhutnahme nicht den Verlust des Personensorgerechts der Eltern, solange es nicht durch das Familiengericht beschränkt oder entzogen ist.
Das Jugendamt hat während der Inobhutnahme unverzüglich 69 das Kind oder die bzw. den Jugendlichen umfassend und in einer verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form über diese Maßnahme aufzuklären und die Situation, die zur Inobhutnahme geführt hat, zusammen mit dem Kind oder der bzw. dem Jugendlichen zu klären sowie Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung aufzuzeigen (§ 42 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Außerdem ist dem Kind oder der bzw. dem Jugendlichen unverzüglich Gelegenheit zu geben, eine Vertrauensperson 70 zu benachrichtigen.
Das Jugendamt hat bei der Inobhutnahme auch gegenüber den Personensorge- und Erziehungsberechtigten eine Benachrichtigungs- und Informationspflicht, § 42 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII. Sie sind zunächst unverzüglich 71 von der Inobhutnahme zu unterrichten. Sie haben einen Anspruch darauf, schnellstmöglich von der Tatsache der Inobhutnahme durch das Jugendamt zu erfahren. Auch hier wurde durch das KJSG ergänzt, dass die Informationen in einer verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form erfolgen und umfassend über die Maßnahme aufgeklärt werden soll. Zusätzlich ist mit den Personensorge- oder Erziehungsberechtigten das Gefährdungsrisiko abzuschätzen (§ 42 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII).
Widersprechen die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten der Inobhutnahme, hat das Jugendamt das Kind oder die bzw. den Jugendlichen den Personensorge- oder Erziehungsberechtigten in zwei Fallkonstellationen zu übergeben 72 :
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Sofern nach Einschätzung des Jugendamtes eine Gefährdung des Kindeswohls nicht besteht oder
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sofern die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten bereit und in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden (§ 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB VIII).
Andernfalls verbleiben weiterhin gefährdete Kinder bzw. Jugendliche in der Obhut des Jugendamtes, bis festgestellt ist, dass die Gefährdungssituation nicht besteht oder beseitigt ist. Für den Widerspruch gem. § 42 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII gibt es keine Form- und Fristvorgaben, das bedeutet, dass während der gesamten Zeit der Inobhutnahme ein (auch mündlicher) Widerspruch möglich ist.
Ist der Personensorge- oder Erziehungsberechtigte mit der Inobhutnahme nicht einverstanden, ist das Jugendamt verpflichtet, die Entscheidung des Familiengerichts herbeizuführen, wenn es der Auffassung ist, dass der Personensorgeberechtigte nicht bereit oder in der Lage ist, die Gefährdung abzuwenden (§ 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIII) oder wenn es den Personensorgeberechtigten oder den Erziehungsberechtigten nicht erreichen kann (§ 42 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII). Die familiengerichtliche Entscheidung beinhaltet nicht die Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme zu überprüfen, vielmehr stehen je nach Ausgangslage entweder ein Verfahren auf Kindesherausgabe oder aber auch ein von den Eltern oder dem Jugendamt angeregtes Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung im Mittelpunkt der Prüfung. Das Verfahren gestattet dem Gericht die Überprüfung, ob tatsächlich eine dringende Gefahr für das Kind besteht, und ob und inwieweit die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, Gefahren für das Kind abzuwenden. 73 Während das Verwaltungsgericht für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme zuständig ist.
Widersprechen die Personensorgeberechtigten nicht, ist das Jugendamt verpflichtet, ein Hilfeplanverfahren zur Gewährung einer Hilfe einzuleiten. 74
Nach § 42 Abs. 5 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt, das Kind oder die bzw. den Jugendlichen geschlossen unterzubringen, wenn dies erforderlich ist, um eine Gefahr für Leib oder Leben des Kindes oder der bzw. des Jugendlichen oder Dritter abzuwenden. Diese Maßnahme ist nach der gesetzlichen Vorschrift wieder aufzuheben, wenn nicht spätestens um 24.00 Uhr des folgenden Tages eine gerichtliche Entscheidung vorliegt. Für die freiheitsentziehende Maßnahme bedarf es eines gesonderten Verwaltungsakts. 75
Die Befugnis zur Inobhutnahme beinhaltet nicht die Befugnis zur Anwendung unmittelbaren Zwangs (§ 42 Abs. 6 SGB VIII). Sollte es erforderlich sein, im Rahmen der Inobhutnahme auf Personen oder Sachen durch körperliche Gewalt einzuwirken (Unterdrückung von Gegenwehr von Personen oder Aufbrechen der Wohnungstür), bedarf es der Hinzuziehung von Beamten des allgemeinen Polizeivollzugsdienstes. Die Fachkräfte des Jugendamtes selbst dürfen nur in der Ausnahmesituation des rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB) Gewalt einsetzen, also nur bei einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leib oder Leben des Kindes oder anderer Personen, wenn eine Abwägung der widerstreitenden Interessen ergibt, dass durch die Gewaltanwendung das hierdurch geschützte Interesse wesentlich überwiegt.
Erscheint lt. Verlag | 8.2.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Recht / Steuern ► Arbeits- / Sozialrecht |
Recht / Steuern ► Privatrecht / Bürgerliches Recht | |
Schlagworte | Berufsgeheimnisträger • Datenschutz • Jugendamt • Jugendrichter • Jugendstaatsanwalt • Kinderartz • Kinderrechte • Kinderschutzverfahren • Kinder- und Jugendhilfe • Kindesmisshandlung • Kindschaftssachen • KJSG • Kooperationsvorgaben • Präventionsmaßnahmen • Schweigepflicht • Sexualisierte Gewalt an Kinderrn • Sexueller Missbrauch • SGB VIII • Soziale Arbeit • Tagesmutter • Verfahrensbeistand |
ISBN-10 | 3-8029-5720-2 / 3802957202 |
ISBN-13 | 978-3-8029-5720-8 / 9783802957208 |
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