Kleine Abenteuer (eBook)
170 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7562-7755-1 (ISBN)
Frank Bick ist gebürtiger Niederrheiner aus einer Bergmannsfamilie, Baujahr 1962. Nach Realschule und Schlosserlehre kamen Bundeswehr und sieben Jahre Untertagearbeit. Es folgten Studienjahre und Anstellung auf der Universität Duisburg-Essen. Schwerpunkt Psychologie, Geographie und Medienpädagogik. Im Anschluss für zehn Jahre tätig in der Zoopädagogik und dem Naturschutz. Derzeit freiberuflich als Texter und Fotograf gemeldet.
2. Schwerin
Es gießt in Strömen, als ich im Juli Freitag morgens um 10 Uhr Richtung Schwerin losfahre. Was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß, genau während dieser Tage wird in der Eifel, etwa 100 Kilometer entfernt von meinem Zuhause in Orsoy, Land unter sein. Die Konsequenzen für die Missachtung der Natur und ihrer Kräfte nimmt größere Ausmaße an und rückt näher und näher. In der Eifel sind das Problem vor allem der Weinbau, die Wasserspeicher, Bodenversiegelungen und die Flussbegradigungen. Die Starkregenereignisse hingegen sind Ergebnis des Klimawandels. Das Abschmelzen der Gletscher bringt nicht nur mehr Wasser in den Kreislauf, die Klimazonen verändern sich. Ja sogar die Schiefstellung der Erdachse wird verändert, denn das abschmelzende Eis fließt davon und führt zu einer anderen Gewichtsverteilung. Die Schiefstellung ist bedeutsam, sie beeinflusst unsere Jahreszeiten durch den Winkel zur Sonne. Bereits vor 30 Jahren beim Geographiestudium auf der Universität Duisburg-Essen, bis zurück zu Büchern aus den 70er Jahren waren alle Probleme und Konsequenzen bezüglich des Raubbaus an der Natur bekannt. Doch der Konsumrausch ergriff die westlichen Länder und es war weder politisch noch wirtschaftlich möglich, den drohenden Veränderungen Einhalt zu gebieten. Der Sinn des Daseins wurde vollends über Mobilität und Konsum definiert und alle Länder der Erde bis in die entlegensten Orte mit diesem Virus angesteckt. Mehr Kilometer zurücklegen, mehr PS, mehr Verbrauch, viele Reisen, viele Fahrzeuge. Mein Konzept hingegen entwickelt sich weitestgehend gegenläufig. So sitze ich nun im Regen auf der Autobahn in einem 16 Jahre alten Transporter, der 6 Liter Diesel auf 100 Kilometer benötigt. Er gilt vor allem deshalb als umweltunfreundlich, weil die Vergleichswerte die das bezeugen, von Lobbyisten mit speziellen Interessen aufgestellt werden. Ihr grundlegendes Motiv ist aber niemals Nachhaltigkeit oder der Umweltschutz. Autos sollen spätestens alle vier Jahre verkauft werden, das ist vorrangiges Ziel. Hat also jemand im gleichen Zeitraum eine Reihe von neuen Autos in den Umlauf gebracht, bin ich in begrenzter Ewigkeit umweltfreundlicher unterwegs. Wer keinen Feinstaub durch Gummiabrieb und geringen Spritverbrauch verantworten will, ist gehalten schmale Reifen auf leistungsschwachen, kleinen Fahrzeugen zu betreiben. Genau dahin verläuft ja die Entwicklung der Autos und Motorräder seit Langem?
Die Fahrt bei strömendem Regen hat schon mal den Vorteil, dass kaum Feinstaub in der Luft ist. Die Reibung zwischen Reifen und Asphalt nimmt ab. Lange Strecken lassen sich am einfachsten an Regentagen Reifenabrieb schonend realisieren. Gut dass es durch die Klimaerwärmung immer mehr regnen wird, das schont die Umwelt und senkt die Kosten für Reifen. Kurz vor Hamburg strömte das Wasser dann 20 cm hoch auf der Autobahn und der gesamte Verkehr wurde umgelenkt. Etwa drei Stunden stehe ich zusammen mit anderen Genervten auf 4 bis 18 Rädern still in einem Vorort von Hamburg. Das ist außerordentlich reifenschonend. Es schüttet und prasselt auf die Scheiben. Jetzt kommt es hoffentlich nicht zum Harndrang. Durch das älter werden, kann die Blase häufiger mal den Wunsch äußern, sich zu entleeren. Und das plätschernde Wasser an der Frontscheibe ermutigt das in die Jahre gekommene Organ auch noch dabei. Das Porta Potti steht hinten, momentan nutzlos eingeklemmt zwischen Gepäck und dem kleinen Motorrad. Ich gucke rüber zu einem Familienfahrzeug und beobachtete die zwei Kinder auf den Rücksitzen. Sie schauen irgendetwas an Bildschirmen in den Rückenlehnen. Von dieser postmodernen, familiären Idylle inspiriert, klemme ich mein Fairphone, das erste modulare Smartphone, das fair produziert wird, quer in einem Halter ein und vertreibe die Langweile mit vier Teilen einer albernen Serie bei Netflix. Dazu gibt es grob geschätzt zwanzig Möhren und Wasser, das war das Einzige, was ich vorne Essbares zu liegen hatte. So in dieser Art stellt man sich den Aufenthalt im Gefängnis vor. Gegen 21 Uhr treffe ich bei meinem ersten Anlaufpunkt in Schwerin ein und werde von einem Freund, Renaldo, mit Essen und Bier für die Strapazen der Anreise entlohnt.
Renaldo, wie ich Baujahr 1962, ist nicht nur ein guter Koch und Informatiklehrer an einer Waldorfschule, sondern ein begnadeter Tüftler an elektronischen, elektrischen und analogen HiFi-Geräten. Ich höre täglich Musik, habe 1200 COMPACT DISC und etwa 400 Langspielplatten. Ender der achtziger Jahre änderte sich der Genuss von Musik. In erstaunlicher Geschwindigkeit verdrängte die CD die Schallplatte. Die Sterilität und Härte der ersten digitalen Produktionen und späterer, digital aufgearbeiteter Klassiker, die handelsübliche Lautsprecher praktischerweise verdeckten, wurde von filigranen, teuren Systemen verständlicherweise aufgedeckt. Die Freude an musikalischem High-End verringerte sich im Ergebnis spürbar. Die über Jahrzehnte entstandene Musikkultur einer großen Gemeinde wurde mehr und mehr vom Musikkonsum der breiten Masse überlagert. Nur noch im Jazz und in der Klassik wird ein organischer, natürlicher Klang angestrebt. Musik ist weniger Lebensstil und keine Lebenseinstellung mehr, sondern wird mittelmäßig aber gewinnbringend produziert und hat, genau wie die dazugehörigen Produkte, gewaltig an Qualität verloren. Hier in Renaldos Musikzimmer hingegen stehen der musikalische Genuss und die Klangqualität im Vordergrund.
Unser Blick auf die Stereoanlage. Besonders die weißen Hörner fallen auf.
Wir öffnen einen von mir mitgebrachten Whisky der Marke Laphroaig mit einem Geschmack wie die raue See, also torfig, salzig und ölig, dazu ein paar Flaschen Bier. Das ungewöhnliche Herzstück von Renaldos Stereoanlage sind die beiden großen Hörner, mit eigens modifizierten Treibern und Weichen. Die Technik sendet die Musik unsagbar direkt und ungefiltert ans Ohr, ist mit üblichen Boxen mit eingebauten Chassis kaum vergleichbar. Klar und ehrlich, ohne dabei je störend, zischelnd, beißend oder aufdringlich zu sein. Auch bei hohen Lautstärken kommt kein unerwünschter Ton dazu. Ein Eckhorn liefert den Bass. Die Grundidee dieser Technik ist genial. Das Horn steht in einer Raumecke wie das Mundstück eines Musikinstruments, der Raum selbst wird zum Körper des Instruments. Ein trockener, tiefer Bass erfüllt den Raum. Wir hören die Schallplatte „Die Kluge“ von Carl Orff, eine Oper in einem Akt von 1943.
Eines Tages bringt ein Bauer einen goldenen Mörser ohne Stößel mit nach Hause, den er auf dem Feld des Königs gefunden hat. Er will ihn in Erwartung einer Belohnung dem König bringen. Doch seine Tochter warnt ihn, der König würde sicher auch nach dem Stößel verlangen und den Finder der Unterschlagung bezichtigen. Die Voraussage bewahrheitet sich, der Bauer wird in den Kerker geworfen, und in seiner Verzweiflung ruft er immer wieder aus: Oh hätt’ ich meiner Tochter nur geglaubt! Damit setzt der Gesang der Oper ein.
Dieser Satz wird unzählige Male wiederholt, der Seelenschmerz des Sängers im Kerker bereitet uns Gänsehaut. Wir hören Pink Floyd und alten wie modernen Jazz, plaudern und trinken, bis um 05:00 Uhr morgens ein Eigenbau-Netzteil seine Tätigkeit einstellt. Als Renaldo am kommenden Vormittag aufsteht, ist sein Gang zunächst nicht das Klo, sondern das Netzteil. Er findet den Fehler und kann dem Tag entspannt entgegentreten. Zuletzt demonstriert mir Renaldo noch einen 3D-Drucker. Damit fertigt er einzelne Teile wie Knöpfe und Abdeckungen für Hifi-Komponenten an, aber auch Ersatzteile für Küchenmaschinen, zum Beispiel einen Drehknopf für einen alten Herd. Mir kommt der Gedanke, dass wir vieles auf einfache Art reparieren könnten, unser Wegwerfprinzip aber vollends in eine andere Richtung geführt hat. Eine Sackgasse, deren Ende vermutlich bald erreicht ist. Man kann ohne zu übertreiben sagen, das wir die Qualität des Denkens und der Produkte einem finanziellen Erfolg geopfert haben, von dem zunehmend weniger Menschen profitieren, aber weltweit viele Schaden nehmen. Ein Land gefangen in der eigen produzierten Mittelmäßigkeit. Oh hätt’ ich meiner Tochter nur geglaubt!
Wie es sich für einen echten Ostler gehört, hat Renaldo auf dem Lande, etwa 20 km von Schwerin entfernt, eine alte Datsche. Das Wort zählt zu den wenigen russischen Begriffen, die aus dem DDR-Sprachgebrauch übernommen wurden und in den gesamtdeutschen Sprachschatz eingegangen sind. Die ersten Datschen waren Gaben von Fürsten oder Zaren an treue Vasallen. Bei mir im Pott würde man die Hütte von Renaldo Schrebergarten nennen, er hat sie auch nicht vom Fürsten, sondern gemeinsam mit Ehefrau Antje gekauft. Die beiden haben uns angeboten, dort den anstehenden Urlaub zu verbringen. Das neue Dachzelt bleibt somit verschlossen. Meine Lebensgefährtin Susanne reist auf dem Sattel einer Royal Enfield Himalayan nach. Mit zusammen 33 PS werden wir die Gegend hier mal so richtig aufmischen.
Die Datsche liegt in Buchholz, etwa 12 Kilometer östlich vom Schweriner See. Es war heiß, ca. 28°C und ein milder...
Erscheint lt. Verlag | 30.3.2022 |
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Sprache | deutsch |
ISBN-10 | 3-7562-7755-0 / 3756277550 |
ISBN-13 | 978-3-7562-7755-1 / 9783756277551 |
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Größe: 27,4 MB
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