Lehrbuch der Biophysik (eBook)
2076 Seiten
Wiley-VCH (Verlag)
978-3-527-41284-6 (ISBN)
Die Biophysik ist ein sich sehr rasant entwickelndes Wissenschaftsfeld an der Grenze zwischen Physik, Chemie und Biologie. Biophysik behandelt die Kontrolle der Selbstorganisation lebender Materie und deren Funktion durch die Physik. Die Themen reichen von der Steuerung der Struktur und Funktion zellulärer Organellen durch molekulare Kräfte und Zell-Signalsysteme bis zur Physik der Immunologie, Hörphysiologie und Biorhythmen.
Das Lehrbuch der bekannten Biophysiker Erich Sackmann und Rudolf Merkel gibt eine umfassende Einführung in das spannende Gebiet der Biophysik, wie es an Hochschulen und Universitäten im deutschsprachigen Raum gelehrt wird. Die Autoren behandeln ausführlich die Mechanik, Thermodynamik und Elektrodynamik der Bausteine lebendiger Systeme wie Proteine, Zelle, Membranen und Vesikel. Ausgehend von diesen Grundlagen werden fortgeschrittenere Themen beleuchtet wie die Dynamik und Selbstorganisation in biologischen Systemen.
Die vorliegende zweite Auflage wurde vollständig überarbeitet und mit neuen Themen ergänzt: Messung anisotroper Kräfte in Proteinen, Statistische Mechanik der Nichtgleichgewichtszustände in Proteinen, Entdeckung von Mechano-Enzymen, elektrohydrophobe Aktivierung von Membranproteinen, Physik der Zell-Adhäsion, -Migration und -Proliferation, statische und dynamische Struktur des Chromatins.
Erich Sackmann war einer der bedeutendsten Biophysiker Deutschlands. Nach Tätigkeiten als Wissenschaftler an den Bell Labs in den USA und am Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie in Göttingen arbeitete er bis zu seiner Emeritierung als Ordinarius für Experimentalphysik an der Universität Ulm und der Technischen Universität München. Er war Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Biophysik und des Arbeitskreises für Biologische Physik der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. Für seine bahnbrechenden Arbeiten zum Verständnis der Physik biologischer Materialien erhielt Professor Sackmann 2006 den Stern-Gerlach-Preis der Deutschen Physikalischen Gesellschaft.
Rudolf Merkel ist Institutsleiter am Institut für Biologische Informationsprozesse des Forschungszentrums Jülich. Seine Forschung befasst sich mit mechanischen Eigenschaften und Prozessen lebender Zellen sowie mit den Reaktionen lebender Zellen auf äußere mechanische Reize. Er studierte und promovierte in Physik und habilitierte sich nach wissenschaftlicher Tätigkeit in München und Vancouver an der Technischen Universität München.
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Eine Einführung in das Studium der Biophysik
1.1 Woher kommt und wozu treiben wir Biophysik
Die Biophysik bildet die Brücke zwischen der Physik und den Lebenswissenschaften. Sie bringt etwas vom Geist des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts zurück, als Naturforscher wie Thomas Young1 oder Hermann von Helmholtz2 die Physiologie begründeten und der Physik völlig neue Gebiete eröffneten. Heute ist die Biologische Physik eng mit der Physik weicher Materie und komplexer Systeme verknüpft und viele Fragestellungen sind Bestandteil der Statistischen Physik geworden. Ein völlig neuer und für Physiker ungewohnter Aspekt kommt jedoch dadurch ins Spiel, dass biologische Systeme (wie Zellen) aus modularen Untersystemen mit spezifischen Funktionen (wie z. B. den Chromosomen als Informationsspeichern) aufgebaut sind, die über biochemische Signalsysteme untereinander vernetzt sind. Die Systeme befinden sich weit außerhalb des thermodynamischen Gleichgewichts und verhalten sich meist nichtlinear. Eine kleine Störung der Zusammensetzung einer Zelle, wie die Änderung einer Aminosäure eines Proteins durch Mutation, kann fatale Folgen haben. Ein Beispiel ist die Sichelzellanämie, die durch eine einzige punktuelle Mutation des Hämoglobins hervorgerufen wird. Man muss auch stets bedenken, dass eine aus einem Organ isolierte Zelle (z. B. eine Blutzelle) oder ein aus der Zelle entnommenes Organell auch unter physiologischen Bedingungen (wie Blutzellen in physiologischer Kochsalzlösung) völlig andere physikalische Eigenschaften besitzen kann als in seiner natürlichen Umgebung. Mit anderen Worten: Biologische Materialien verhalten sich wie komplexe Maschinen (z. B. ein Auto), in denen jeder Bestandteil mit allen anderen wechselwirken kann. Deshalb ist es notwendig, dass Physiker, die auf einem Gebiet der Lebenswissenschaften arbeiten, etwas von der Denkweise der Ingenieure übernehmen, die gelernt haben, dass man bei der Untersuchung einer Maschine das Zusammenwirken aller Bauteile im Auge behalten muss.
Die Biophysik verfolgt mehrere Stoßrichtungen. Die eine befasst sich mit der Entwicklung von Methoden zur Untersuchung der Architektur biologischer Materialien von molekularen bis makroskopischen Skalen und versucht, ihre physikalischen Eigenschaften unter möglichst natürlichen Bedingungen (in vivo) zu messen. Hier eröffnet sich eine breite Spielwiese für junge Physiker mit Freude am Entdecken. Man kann mit einfachen Methoden (z. B. mit optischen oder magnetischen Pinzetten oder einer Glaspipette gepaart mit einem guten Mikroskop) die physikalischen Eigenschaften der Zellen studieren, vorausgesetzt, man ist bereit, sich in die Zellbiologie einzuarbeiten. Wer lieber mit großen Maschinen arbeitet, kann die Struktur und Dynamik biologischer Materialien mit Neutronen‐ und Röntgenbeugung erforschen. Moderne Methoden der Röntgenbeugung mit fokussierten Strahlen eröffnen völlig neue Einblicke in die molekulare Architektur von Gewebe, Knochen oder Holz [1]. Man kann mit einigem Optimismus erwarten, dass die Entwicklung der Spallations‐Neutronenquellen und des Freie‐ Elektronen‐Lasers neue Einsichten in die Grundlagen des molekularen Erkennens zwischen Proteinen und DNA oder die physikalischen Grundlagen der Proteinfaltung liefern wird.
Eine zweite Forschungsrichtung ist die von der Biologie inspirierte Physik. Sie versucht, möglichst realistische Modelle lebender Materie (wie Membranen, Gewebe oder Knochen) aufzubauen, um spezifische biologische Prozesse zu imitieren oder zu untersuchen. Solche Modelle spielen eine wichtige Rolle, beispielsweise um die Verlässlichkeit neuer physikalischer Methoden zu testen oder um nach den wesentlichen physikalischen Parametern zu suchen, welche das biologische Verhalten eines Systems bestimmen. Parallele Untersuchungen von natürlichen Systemen und Modellen helfen auch, Bezüge zur Physik kondensierter Materie herzustellen. Im Hintergrund steht der Gedanke, die Strategie der biologischen Selbstorganisation zur Herstellung neuartiger smarter Materialien einzusetzen. Beispiele dieses Bionik genannten Gebietes sind Materialien, die ihre Eigenschaften an wechselnde Umgebungsbedingungen anpassen können, wie sich selbst reinigende Oberflächen3 oder bruchfeste Keramiken, wie sie in Prozessen der Biomineralisierung entstehen. Im Grenzbereich zwischen Physik und Technik sind Bemühungen angesiedelt, Methoden der Navigation in der Tierwelt zu imitieren. So hat die Echoortung der Fledermaus die Radartechniker zum Bau des Zirp‐Radars inspiriert. Auch beim Bau von Robotern lässt man sich gern von der Biologie inspirieren. So gibt es derzeit zahlreiche Versuche, die Fähigkeit von Insekten und Salamandern zu imitieren, an Wänden hochzulaufen – vielleicht kann man auf diese Weise eines Tages Roboter zum Fensterputzen bauen.
Ein anderer zukunftsträchtiger Zweig der angewandten Biologischen Physik ist der Bau von Biosensoren durch Aufbau von Enzymsystemen, Biomembranen oder Nervenzellen aus elektro‐optischen Bauelementen (beispielsweise zweidimensionalen Anordnungen von Punkt‐Transistoren, die als Nano‐Voltmeter fungieren [2, 3]). Hier gibt es auch zahlreiche Querverbindungen zur Nanotechnik oder Mikro‐Optik, denn die dort entwickelten Methoden eröffnen neue Möglichkeiten zur Messung physikalischer Eigenschaften von Zellen in natürlicher Umgebung.
Auf fundamentalere Fragen der Biologie zielt die oft als Systembiophysik bezeichnete Erforschung der Regulation biologischer Prozesse durch das Wechselspiel zwischen biochemischen und genetischen Signalkaskaden, der dadurch bedingten Modifikation der Materialeigenschaften und der biologischen Funktion. Hier arbeiten Physiker, Mathematiker und Ingenieure eng zusammen. Eine besonders faszinierende Fragestellung dieser Kategorie ist die Entwicklung eines befruchteten Eis zum Embryo (oft Morphogenese genannt). Was steuert die Differenzierung der zunächst völlig identisch erscheinenden Zellen des befruchteten Eis in Neuronen oder Muskelzellen und was legt den Zeitplan der embryonalen Entwicklung fest? Ist dies alles im genetischen Code vorbestimmt oder bestimmt die Kopplung zwischen externen äußeren Kräften (wie chemischen Potentialen oder mechanischen Kräften) und dem genetischen Apparat den Prozess der Morphogenese? Es gibt durchaus Hinweise, dass die im genetischen Code gespeicherten Informationen nicht ausreichen, um die Entwicklung komplexer Organe festzulegen, dass also noch andere Kräfte ins Spiel kommen müssen. Alan Turing,4 der geistige Vater des Programmierens, hat uns erstmals gelehrt, wie raumzeitliche Muster (beispielsweise von Signalmolekülen, welche die Entwicklung von Organen steuern) allein durch das Zusammenspiel chemischer Potentiale und autokatalytischer Prozesse entstehen können.
Wir wissen heute, dass die Entwicklung vom befruchteten Ei zum ausgewachsenen Lebewesen vor allem durch die zeitliche Abfolge der Expression von Genen bestimmt ist. Andererseits zeigt sich auch immer mehr, dass die Zell‐Zell‐Erkennung und insbesondere mechanische Kräfte die Differenzierung und räumliche Organisation der Zellen steuern können [4]. Die Aufklärung des Wechselspiels zwischen Morphogenese und der Physik der Zelle ist eine besonders reizvolle Aufgabe für Experimentatoren und Theoretiker.
Immer mehr Physiker finden Interesse an der Gehirnforschung und versuchen zu verstehen, wie das Gehirn die Umwelt wahrnimmt. Ein Meilenstein auf dem Weg zur quantitativen Gehirnforschung war die große Entdeckung von David Hubel5 und Torsten Wiesel,6 dass optische Muster, die auf die Netzhaut der Augen projiziert werden, im visuellen Kortex als Erregungsmuster abgebildet werden. Diese Experimente brachten der Physik neuronaler Netzwerke einen enormen Aufschwung [5].
Es gibt auch einen gesellschaftlichen Grund, die fundamentalen Gesetzmäßigkeiten der Selbstorganisation und Funktion biologischer Systeme systematisch aufzuklären. Wir lernen dabei, wie Mutter Natur es schafft, Tausende von Molekülsorten auf engstem Raum zu Funktionssystemen zusammenzuführen und deren Wechselwirkung untereinander so zu organisieren, dass chaotisches Verhalten vermieden wird. Schließlich schafft die Ausbildung der Studenten auf dem Gebiet der Biophysik eine neue Generation von Physikern, die gelernt hat, mit komplexen Systemen umzugehen, und denen die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Biologen, Mathematikern, Chemikern und Ingenieuren Freude macht. Wenn wir die wachsenden Probleme in unserer Umwelt lösen wollen, werden breit ausgebildete Wissenschaftler dringend benötigt.
1.2 Eine kurze Geschichte der Biologischen Physik
Physik und Biologie haben gemeinsame Ursprünge und haben einander im Laufe ihrer Geschichte oft gegenseitig befruchtet. Viele Erfindungen neuer physikalischer Messmethoden haben zu einem Entwicklungsschub in der Biologie geführt. Es gibt aber auch viele Beispiele dafür, wie Beobachtungen der Biologen zu neuen Denkanstößen in der Physik führten.
Ein erster Geburtshelfer der modernen Biologie war der Delfter Kaufmann und geniale Hobbyforscher Antoni van Leeuwenhoek7, der um 1670 einfache Mikroskope baute, mit denen er 200‐fache Vergrößerung erreichte (Abb. 1.1a). Diese bestanden aus einer auf einem...
Erscheint lt. Verlag | 1.8.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Naturwissenschaften ► Physik / Astronomie |
Schlagworte | Biochemie u. Chemische Biologie • Biophysik • Biowissenschaften • Chemie • Physik • Physik in Medizin u. Gesundheitswesen • Zell- u. Molekularbiologie |
ISBN-10 | 3-527-41284-0 / 3527412840 |
ISBN-13 | 978-3-527-41284-6 / 9783527412846 |
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Größe: 79,0 MB
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