Das Klimafolgen-Buch (eBook)
424 Seiten
Hogrefe AG (Verlag)
978-3-456-76332-3 (ISBN)
|19|Geleitwort von Ilija Trojanow
Der „Earth-Overshot-Day“ ist der Erdüberlastungstag. Wälder, Wasser, Ackerland: Jedes Jahr verbraucht die Menschheit mehr natürliche Ressourcen, als die Erde erneuern kann. 2023 wurde dieser Tag am 2. August erreicht. Wer zweifelt schon daran, dass er im Jahre 2024 noch früher eintreffen wird (in absehbarer Zeit werden wir die Hälfte des Jahres auf Pump leben – wir brauchen eine ökologische Schuldenbremse).
Handeln tut folglich Not. Als eine Voraussetzung für eine Transformation wird – fast schon als Mantra – nachhaltiges Produzieren und Konsumieren postuliert. Allerdings hat sich der Begriff der Nachhaltigkeit in den letzten Jahren wesentlich erweitert und basiert inzwischen auf der Erkenntnis, dass Natur, Wirtschaft und Gesellschaft eng miteinander verzahnt sind und sich daher gegenseitig beeinflussen. Auf lange Sicht wird es keinen gesellschaftlichen Fortschritt ohne eine halbwegs intakte Umwelt geben. Und wenn die Mehrheit der Menschheit weiterhin um ihre bloße Existenz kämpfen muss, wird es nicht gelingen, die Natur effektiv zu schützen. Überflüssiger Konsum und wachsende Müllberge, eine unkontrollierte Ressourcennutzung, steigender Energieverbrauch und immer mehr Verkehr prägen gegenwärtig die Lebensweise in den meisten Staaten des globalen Nordens.
Seit geraumer Zeit lassen sich die Folgen des Klimawandels nicht mehr verdrängen. Hitzeperioden nie erlebten Ausmaßes und Unwetterkatastrophen in weiten Teilen der Welt sind nur eines von vielen Beispielen. Vor diesen und anderen bedrohlichen Entwicklungen wurde die Menschheit bereits vor Jahrzehnten gewarnt. Schon 1972 zeigte der „Club of Rome“ die „Grenzen des Wachstums“ auf; die 1977 in Auftrag gegebene und 1980 veröffentlichte Umweltstudie „Global 2000“ beklagte ebenso eindringlich die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Inzwischen aber stellen kritische Stimmen in Frage, dass die angesichts der Dringlichkeit von der UN-Klimakonferenz im Dezember 2015 beschlossenen Ziele überhaupt erreicht werden können: Die Beschränkung des Anstiegs der weltweiten Durchschnittstemperatur unter 1,5 °C bzw. 2 °C scheint zumindest gefährdet.
In den zurückliegenden Jahrzehnten konnte ich Erfahrungen auf vier Kontinenten sammeln. Ich recherchierte und schrieb über Diamantminen in Sierra Leone, Palmölplantagen in Guatemala, Slums in Nairobi und Textilfabriken in Karatschi. Ein Romancier muss sich von Berufs wegen in seine Figuren, also in andere Menschen hineinversetzen. Dieses Multiperspektivische, die Vorstellung, wie ein anderer Mensch die Realitäten betrachten und beurteilen würde, ist wesentlicher Teil meiner Arbeit. Und das kann nur gelingen bei einer Bereitschaft zur Empathie, zum Respekt sowie einem Misstrauen gegenüber Hierarchien. Und dabei nie die Frage aus dem Sinn verlieren, was ein lebenswertes Leben sein und woraus Glück bestehen könnte. All dies halte ich für wichtige Voraussetzungen auf unserem Weg in eine bessere, nachhaltigere, zukunftsfähige Welt.
An erster Stelle steht für mich die Frage nach unserer Wahrnehmung. Das schöne deutsche Wort „uneinsichtig“ bringt es auf den Punkt: Ich |20|kann dich nicht verstehen, weil ich dich gar nicht erst sehe. Inwieweit sind wir bereit und in der Lage, kognitiv zu erfassen, was uns fremd ist, was wir kaum kennen, was uns verunsichert und irritiert? Anders gesagt: Wie können wir die Kreise der eigenen Wahrnehmung erweitern, denn erst wenn wir einen Mitmenschen in seiner multidimensionalen Vielschichtigkeit sehen – wirklich sehen –, können wir Empathie für ihn empfinden.
Vor Jahren habe ich in New York an der NYU unterrichtet. Ich durfte mir das Thema frei aussuchen. Ich habe – etwas eigenwillig – das Thema „Poetik und Politik des Gehens“ gewählt und im Laufe des Seminars festgestellt, dass die Studentinnen und Studenten in ihrem Leben noch nie längere Strecken gegangen waren. Also verabredeten wir uns, an einem der folgenden Tage Manhattan und die Bronx zu durchstreifen. Es war eine für alle Beteiligten erstaunliche Erfahrung. Ich habe bald festgestellt, dass die jungen Leute immer nur geradeaus geguckt haben – so, als würden sie auf einen Bildschirm schauen. Das war ein sehr eingeschränktes Sichtfeld. Das heißt, wir mussten lernen, dass man nach oben, nach unten sowie um sich herumschauen kann – wir mussten eine 360-Grad-Wahrnehmung einüben. Einer der Studenten wurde nervös, begann zu schwitzen. Auf die Frage, was denn los sei, antwortete er: „Ich weiß nicht, wo ich bin.“ Ich erklärte ihm: „Hier ist die Kreuzung, da sind die Gebäude …“ Er unterbrach mich: „Nein, du verstehst nicht! Ich weiß nicht, wo ich on the grid (deutsch: im Netz) bin.“ Im weiteren Gespräch stellte sich heraus, dass er nirgendwo hingeht, ohne auf „Google Maps“ zu überprüfen, wo er sich befindet. Dies ist ein treffendes Beispiel für eine eingeschränkte Wahrnehmung, die erst einmal aufgebrochen werden muss. Das muss man schulen, um eine existenzielle Verbundenheit zu erreichen, vergleichbar mit einem atrophierten Muskel, der lange nicht mehr gebraucht worden ist.
Viele von uns leben mit einer starken Unverbundenheit zum Existenziellen, zum Wesentlichen. Es fängt damit an, dass wir Geburt und Tod aus dem Alltag ausklammern – das geschieht abgeschottet in Ghettos der Verwandlung. Es setzt sich damit fort, dass viele von uns gar nicht wissen, wie ein Tier geschlachtet wird. Früher hieß es, dass solche Entfremdung Folge der hochspezialisierten Arbeitsweise sei. Inzwischen handelt es sich um ein breiteres Phänomen – eine Unverbundenheit mit der Basis des menschlichen Lebens in ihrer modernen, hochindustrialisierten Form. Wir haben uns entfremdet von den Grundlagen unserer Nahrung, wir haben zum Beispiel nicht mehr vor Augen, wie wir bei der Massentierhaltung mit den Tieren umgehen. Folglich übersehen wir geflissentlich, dass die industrielle Tierhaltung einen großen Anteil an der Klimaveränderung hat. Nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) ist sie für 14,5 % der von Menschen verursachten Treibhausgase verantwortlich – das unabhängige Worldwatch Institute kommt sogar auf einen Anteil von mindestens 51 %, da in dessen Berechnungen die Faktoren Landnutzung, Verdauung (Methan), Düngung und Produktionskosten mitberücksichtigt wurden.
Ebenso unverbunden ist unser Verhältnis mit dem globalen Süden. Höchst erfolgreich blenden wir aus, unter welchen menschenunwürdigen Bedingungen all das produziert wird, was vielen hierzulande einen hedonistischen Luxus erst ermöglicht.
Die Textilfabriken in Asien sind ein treffendes Beispiel. Die Tatsache, dass wir uns alle sechs Wochen für einen erschwinglichen Preis etwas Neues zum Anziehen kaufen können, ist mit dem Blutschweiß und dem Leid der Menschen in Dhaka, Karatschi und anderswo verbunden. Zumal erzeugt die globale Bekleidungsherstellung – zusammen mit der Schuhindustrie – ganze zehn Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Wenn wir uns dies wirklich vor Augen führen würden, anstatt es beharrlich wegzuschieben, wenn wir uns diesen Zusammenhängen nicht eskapistisch verweigern würden, sondern die Realitäten auch mit unserem Gewissen, mit jenem ethischen Kern, den fast |21|jeder Mensch hin sich trägt, wahrnehmen würden, würde sich etwas ändern.
Um nachhaltiger zu leben, müssten wir uns identifizieren mit jenen Menschen, Tieren oder auch Bäumen, die Opfer mangelnder Nachhaltigkeit sind. Wir müssten eine gemeinsame essenzielle Grundlage erkennen. Wir müssten uns in ihnen wiedererkennen und eingestehen, dass sie etwas mit uns zu tun haben. Es musste also eine Ebene der gegenseitigen Verknüpfung geben, aus der heraus Verantwortung entstünde, die von Empathie und Respekt getragen wird.
Über Nachhaltigkeit wird meist im Sinne einer sozioökonomischen Transformation gesprochen. Doch wahre Nachhaltigkeit müsste sich spiegeln in einer individuellen Nachhaltigkeit im Inneren. Das bedeutet, dass es nicht genügt, etwas vermeintlich zu verstehen, sondern dass dieses Verständnis umgesetzt werden sollte in eine Haltung und eine Lebenspraxis, die sich verlässlich nicht verführen lässt von den Einflüsterungen von Konsumangeboten, von den Bequemlichkeiten des Alltags.
Der Mensch neigt dazu, bestimmte Autoritäten als gegeben und wichtig zu akzeptieren und ihnen zu folgen. Es gibt bekanntlich einen...
Erscheint lt. Verlag | 11.11.2024 |
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Zusatzinfo | 52 Abbildungen |
Verlagsort | Bern |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Pflege |
Schlagworte | Biodiversität • Erderwärmung • Gesundheitliche Auswirkungen • Green Hospital • Klimakrise • Klimawandel • Planetary health |
ISBN-10 | 3-456-76332-8 / 3456763328 |
ISBN-13 | 978-3-456-76332-3 / 9783456763323 |
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