Neuro-Palliative Care (eBook)
296 Seiten
Hogrefe AG (Verlag)
978-3-456-76270-8 (ISBN)
|13|Vorwort zur 1. Auflage
Es gibt mittlerweile zahlreiche Bücher zur Palliative Care. Diese Entwicklung ist sehr positiv, zeigt sie doch, in welchem Umfang sich dieses wichtige Gebiet immer weiter implementiert, organisiert und etabliert. Manche dieser Palliativlehrbücher enthalten auch kürzere Kapitel zur Palliativbetreuung von Menschen mit neurologischen Erkrankungen. So findet sich in einigen Palliativlehrbüchern z. B. ein Kapitel über die palliative Versorgung von Menschen mit amyotropher Lateralsklerose. Ist angesichts dieser Situation wirklich ein eigenes Buch über die Palliativversorgung von Menschen mit neurologischen Erkrankungen erforderlich? Können die Prinzipien der Palliativbetreuung, wie sie an Tumorpatienten [Aus Gründen der Lesbarkeit wurde im Text in der Regel die männliche Form gewählt. Die Angaben beziehen sich jedoch jeweils auf Angehörige beider Geschlechter] entwickelt wurden, nicht einfach auf den „neurologischen Palliativpatienten“ übertragen werden?
Es gibt verschiedene Gründe für ein eigenes Buch zur Neuro-Palliative Care, der palliativen Versorgung von Menschen mit neurologischen Erkrankungen. Die für Tumorpatienten entworfenen Prinzipien der Palliativbetreuung gehen davon aus, dass der Betroffene über seine Symptome sehr genau berichten und sie auf einer Symptomskala selbst einschätzen kann. Sie setzen außerdem in der Regel voraus, dass zusammen mit dem Betroffenen auf einer intellektuell mitunter anspruchsvollen sprachlichen Ebene seine psychosozialen und spirituellen Dimensionen bearbeitet werden können. Fortgeschritten neurologisch Erkrankte leiden häufig an kognitiven, sprachlichen und/oder neuropsychologischen Einschränkungen, die sie in ihrer Kommunikation verändern. Außerdem haben sie meist ein hohes Maß an körperlichen Einschränkungen, Lähmungen, Koordinations- und Sehstörungen, die in diesem Ausmaß bei Tumorpatienten allenfalls im Endstadium ihrer Erkrankung auftreten. Viele neurologische „Palliativpatienten“ sind von diesen Veränderungen der Kommunikation und Beweglichkeit lange Zeit gezeichnet. Es müssen daher andere, teilweise neue Wege in der Erfassung von Schmerzen und Symptomen, der Kommunikation und Begleitung beschritten werden. Der Versuch, Symptome zu erfassen, stellt sich oft wesentlich schwieriger dar. Es ist wie Spurenlesen im Sprachdschungel, wenn man versucht, die wenigen Worte, die ein Mensch mit einer Schädigung im Sprachzentrum äußern kann, zu entschlüsseln. Es ist ein extrem schwieriges und missverständnisreiches Interpretieren der Informationen, die bei einem bewusstlosen Menschen im körpernahen Dialog, etwa mittels der Basalen Stimulation, gewonnen werden. Oft müssen stellvertretende Entscheidungen getroffen werden, da der bewusstseinsgeminderte und/oder in der Kommunikation eingeschränkte Betroffene Stellvertreter braucht, die seinen Willen möglichst gut durchsetzen können. Was ist aber zu tun, wenn der gemutmaßte Wille, wie wir ihn anhand früherer Äußerungen oder Verfügungen rekonstruieren, den aktuellen körpersprachlichen Äußerungen widerspricht? Was zählt nun, der veraltete mutmaßliche oder der ungenaue und vielleicht falsch interpretierte aktuelle Wille? Zählt die gut geschriebene vor|14|letzte oder die aktuelle Auflage des Buches „Patientenwille“, auch wenn letztere aus vielen fast leeren Blättern besteht? Sie sehen, dass Fragen der Ethik in der palliativen Versorgung von Menschen mit neurologischen Erkrankungen eine ganz besondere Rolle spielen. Hier gilt es Modelle der Ethikberatung und Gesprächsführung zu nutzen, um die Situation zu verbessern.
Für die Angehörigen und das gesamte Umfeld neurologischer Palliativpatienten ergibt sich eine ganz besonders schwierige Situation. Wie schwer es einerseits fallen kann, neurologisch Erkrankte in Extremsituationen zu begleiten, wie viel Lebenssinn die Betroffenen andererseits trotz der schweren Erkrankung haben können, zeigen ergreifende literarische und verfilmte Berichte, wie der Bestseller von Mitch Albom, „Dienstags bei Morrie“, über ein Leben mit fortgeschrittener amyotropher Lateralsklerose oder das ergreifende Zeugnis eines Lebens im Locked-in-Syndrom (eingeschlossen im eigenen Körper) des französischen Modejournalisten Jean-Dominique Bauby mit dem Titel „Schmetterling und Taucherglocke“. Spektakuläre Kontroversen, z. B. um das Leben im Wachkoma von Terri Schiavo in den USA, zeigen, wie Schicksale neurologischer Palliativpatienten ganze Kulturen bis hin zu Stellungnahmen des Vatikans und des Weißen Hauses in Washington beschäftigen.
Nun beschäftigt sich die Neurologie heute bereits in erheblichem Umfang mit der symptomlindernden Therapie. Ist es da wirklich notwendig, den neuen palliativen Ansatz hier zu implementieren, wo doch schon so viel Wissen vorhanden ist? Palliative Care geht mit einer anderen und umfassenderen Haltung an die Situation heran. Entsprechend dem palliativen Paradigma der radikalen Patientenorientierung müssen diese in der Neurologie implementierten symptombehandelnden Maßnahmen in ihrer Zielrichtung radikal an der Lebensqualität des betroffenen Menschen ausgerichtet werden. Wenn ein Parkinson-Betroffener z. B. einen minimalen Rigor, den der behandelnde Arzt und das Pflege- bzw. Physiotherapeutenteam gar nicht erfassen können, als schmerzhaft und störend empfindet, sollte er durch eine Dosiserhöhung der Parkinson-Medikamente behandelt werden. Oder wenn ein Betroffener seine spastische Muskeltonuserhöhung förderlich findet, weil sie ihm in seinen Bewegungen Stabilität gibt, muss die Dosis reduziert und so an seine individuellen Wünsche angepasst werden. Das palliative Paradigma, dass Schmerz das ist, was der Betroffene als Schmerz empfindet, muss auf diese anderen Symptome übertragen werden und das ist ein Paradigmenwechsel! Da viele neurologisch Kranke unter Veränderungen der kognitiven und sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten leiden, ist eine suchende Haltung notwendig. Trotz erschwerter oder unmöglicher sprachlicher Kommunikation muss dennoch nach möglichen Symptomen und deren Auswirkungen, nach Wünschen und Bedürfnissen gesucht werden, so schwer und vieldeutig das auch sein mag. Außerdem kommt die multidimensionale Sichtweise der Palliative Care, wie sie im Total-Pain-Modell von Cicely Saunders exemplarisch dargestellt wurde, zum Einsatz. Danach gibt es nicht nur die körperliche, sondern auch die psychische, soziale und spirituelle Ebene, auf der der Betroffene bestmöglich versorgt werden muss.
Zur Palliativversorgung von Menschen mit neurologischen Erkrankungen bedarf es daher sowohl einer sehr ausgeprägten palliativen Haltung und Expertise als auch guter neurologischer Kenntnisse. Nach Überzeugung des Autors kann diese Aufgabe daher nur von einem palliativen Team gemeinsam mit einem neurologischen Team geleistet werden. Deshalb sind Modelle der Vernetzung, Organisationsentwicklung, palliativen Beratung, des Case Managements zur Koordination der verschiedenen Behandler vonnöten.
Der Autor selbst arbeitet in einer Doppelrolle sowohl als Neurologe als auch als Palliativspezialist an einem Allgemeinkrankenhaus. An diesem Schnittpunkt engagiert er sich, die Aktivitäten des Palliativkonsiliarteams und des |15|neurologischen Behandlungsteams zu koordinieren. Er ist in ein Palliativnetzwerk, an dem neben Krankenhäusern auch zahlreiche ambulante Strukturen und Heime teilnehmen, eingebunden. Er arbeitet dort daran, die palliativen Bedürfnisse von Menschen mit neurologischen Erkrankungen in unterschiedlichen Versorgungsstrukturen zu begreifen und zu vernetzen. Im Rahmen von Palliativkursen und hausinternen Schulungen begegnet er ebenso wie in der Arbeitsgruppe Palliativmedizin für Nichttumorpatienten der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin professionell tätigen Menschen aus verschiedenen Berufsgruppen und Kontexten. Ziel seiner Arbeit ist es, die palliativen Bedürfnisse der Betroffenen, wie sie sich in unterschiedlicher Weise in diesen verschiedenen Kontexten zeigen, möglichst intensiv wahrzunehmen und zu versorgen.
Der Autor dankt allen Weggefährten, Mitstreitern, Freunden, Patienten, Angehörigen, den Kursteilnehmern der zahlreichen Palliativkurse, Mitarbeitern und Studenten, ohne die dieses Buch nicht möglich gewesen wäre. Allen voran sei das Zentrum für Palliativmedizin in Bonn, namentlich Martina Kern, Monika Müller und Prof. Dr. Friedemann Nauck genannt, bei denen der Autor in Kursen zur Zusatzbezeichnung Palliativmedizin, zum Master Palliative Care und zum Trainer bzw....
Erscheint lt. Verlag | 7.10.2024 |
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Zusatzinfo | 9 Abbildungen |
Verlagsort | Bern |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Pflege |
Schlagworte | Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) • Demenz • fatigue • Kognition • Koma • Nervensystem • Neurologie • Palliativpflege • Parkinson • Schlaganfall |
ISBN-10 | 3-456-76270-4 / 3456762704 |
ISBN-13 | 978-3-456-76270-8 / 9783456762708 |
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