Praxis Care und Case Management -

Praxis Care und Case Management (eBook)

Entwicklungslinien, Praxisbeispiele, Kommunikation
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
230 Seiten
medhochzwei Verlag
978-3-86216-971-9 (ISBN)
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Eine erfolgreiche Implementierung von Care und Case Management setzt Netzwerk-, Sozial- und Qualitätsmanagementkenntnisse ebenso voraus wie ein Wissen über Beratungsmethoden und -techniken.

In vielen Organisationen und Regionen wird Case Management seit Jahren erfolgreich umgesetzt. In diesem Buch stellen Praktikerinnen und Praktiker konkrete Implementierungsbeispiele regionaler und bundesweiter Leistungserbringer vor. Erläuterungen zu fachlichen Entwicklungslinien, zur gesetzlichen Verankerung, zur Digitalisierung sowie zu Haltungs- und Kommunikationsgrundlagen runden das Werk ab.

Die Beiträge werden ergänzt durch eine Auswahl von Bildern der Schweizer Künstlerin, Musikerin und Psychotherapeutin Verena Staggl, die während der DGCC-Jahrestagung in Münster gemalt wurden.



Prof. Dr. Hugo Mennemann, FH Münster, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management

Mona Frommelt, Vorsitzende des Vorstands der Hans-Weinberger-Akademie, stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management

Case Management goes future – Komplexität begegnen


Abstract:

Case Management wird im folgenden Beitrag zunächst umfassend in soziologische Erklärungen der (Post-)Moderne eingeordnet, um die unausweichlichen Komplexitätsherausforderungen an die Gesellschaft und einzelne Personen zu beschreiben. Mit Hilfe des Handlungskonzepts Case Management lassen sich in der Folge auf den drei Ebenen Einzelfall, Organisation und Netzwerk neue Formen komplexitätsreduzierender Wahrnehmung und der Vergemeinschaftung in Form von Räumen der Begegnung aufzeigen. So kann ein Wesenskern des Handlungskonzepts Case Management, der in die Zukunft hineintragen wird – Case Management goes future – herausgearbeitet werden. Die Attraktivität von Case Management und zugleich seine Voraussetzungen und Rahmenbedingungen lassen sich kennzeichnen, um verkürzten Lösungsansätzen argumentativ begegnen zu können.

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Case Management kann begriffen werden als personenorientiertes Handlungskonzept im Umgang mit Komplexität. Um diese Definition von Case Management richtig einzuordnen, ist es hilfreich, zunächst die Begriffe „personenorientiert“ im Rahmen eines professionellen Handlungskonzepts sowie „Komplexität“ zu erläutern.

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Personen (lat. persona) sind Menschen mit bestimmten Eigenschaften. In Beratungskontexten, so auch im Case Management, sind Auftrag und Ziel, Personen mit ihren spezifischen Bewusstseins- und Verhaltensweisen in ihrer Umgebung wahrzunehmen und angemessene Hilfeformen zu finden. Personen sind und werden im Austausch mit Umwelt begriffen, weil sie diese mitgestalten und sich von ihr zentrale Bewusstseins- und Handlungsformen aneignen – das meint auch seit der Aufklärung der Begriff des Subjekts (lat. subiectum: das dem Menschen Unterworfene oder Zugrundeliegende ist seine Vernunft, bewusst mit der Umwelt umzugehen). Im professionellen Kontext gibt es für die Beratenden stets eine gesetzliche und funktionsbezogene Beschreibung der Zuständigkeit sowie eine fachlich-selektierende Perspektive auf die Personen und ihren Hilfebedarf. In diesem Zusammenhang macht es Sinn, die Begriffe Bedürfnis und Bedarf zu unterscheiden. Bedürfnisse sind subjektive Wünsche, Anliegen und Perspektiven der Personen mit Unterstützungsbedarf. Der Bedarf als Grundlage eines professionellen Hilfeprozesses ist bereits ein Aushandlungsergebnis eines Gespräches. Denn in den Bedarf fließen sowohl die subjektiven Bedürfnisse ein als auch eine fachliche (Zuständigkeits-)Bewertung. Ausgangspunkt des Beratungsgesprächs sind zunächst die geschilderten Phänomene und die Bedürfnisse der Menschen. Grundlage des Hilfeprozesses ist der gemeinsam zwischen Personen, die Hilfe benötigen, und Berater:innen benannte Bedarf. Ein personenorientiertes Handlungskonzept beinhaltet demnach die Ermittlung des Bedarfs als Ausgangspunkt des professionellen Hilfeprozesses. Die Orientierung an Personen mit Unterstützungsbedarf meint die Berücksichtigung der Bedürfnisse, der Fachlichkeit, des (gesetzlichen und fachlichen) Auftrags sowie die Rahmenbedingungen der Organisationen. Personenorientierte Handlungskonzepte sollten nicht missverstanden werden als Ausrichtung der Hilfe nur an den Bedürfnissen und Wünschen der Personen. In Beratungskontexten der Sozialen Arbeit taucht das bezeichnete Spannungsverhältnis im doppelten (Individuum, Gesellschaft), dreifachen (Individuum, Gesellschaft, eigene Fachlichkeit inklusive der Menschenrechte) oder vierfachem (Individuum, Gesellschaft, eigene Fachlichkeit, Rahmenbedingungen der Organisation) Mandat auf (Mennemann/Dummann 2022, S. 46–53). Dieses Spannungsverhältnis ist im professionellen Kontext nicht aufhebbar. Vielmehr ist zentral, dass Beratende mit diesem Spannungsverhältnis einen transparenten und rollenklaren Umgang finden.

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Komplexität meint das Interagieren unterschiedlicher Inhalte zueinander mit einem nicht vorherbestimmbaren Ergebnis. Im Gegensatz zum Komplexitätsbegriff meint Kompliziertheit, dass Probleme und Herausforderungen vorhersehbar, planbar, lösbar sind. Eine umfangreiche Mathematikaufgabe, die einen richtigen Lösungsweg kennt, ist der subjektiven Bewertung nach möglicherweise kompliziert. Soziale Zusammenhänge, z. B. Erziehung oder psychosoziale Beratung, sind immer komplex, weil die Wirkung der Intervention beim anderen Menschen nicht vorhersehbar ist. Kausale Erwartungshaltungen zwischen Intervention und Ergebnis funktionieren nicht regelhaft. Eine Intervention kann ganz Anderes bis hin zum Gegenteil bewirken als das Geplante bzw. Erhoffte. Insofern müssen komplexe, soziale Situationen immer in Spannungsverhältnissen gedacht und im kommunikativen Prozess bearbeitet werden.

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Nun kann zurecht gesagt werden, dass Beratungssituationen immer schon komplex waren. Worin besteht nun das Besondere, das Thema der Komplexität in unserer Zeit aufzunehmen?

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Auf gesellschaftlicher Ebene, die die Rahmung für Implementierungsmodelle von Case Management darstellt, lässt sich die zunehmende Komplexität der Herausforderungen schnell beschreiben. Wir erleben eine massive ökologische Krise, deren Bewältigung weltweit geleistet werden müsste, und deren konsequente Bearbeitung überlagert wird von weiteren Krisen. Ein gelingender Umgang mit der ökologischen Krise ist schwer und wird möglicherweise auch nicht erreicht. Nicht zuletzt der Ukraine-Krieg bringt vielfache weltweite ökonomische Notlagen und Versorgungsengpässe, unter anderem in den Bereichen Energie sowie Ernährung mit sich. Darüber hinaus leben wir in gesundheitlichen Krisen, die durch Pandemien, wie zuletzt die weltweite Coronapandemie, verursacht werden. Die Digitalisierung und deren Abhängigkeiten führen zu weiteren massiven Veränderungen, deren Nebenfolgen – Manipulationen, Abhängigkeiten einzelner Personen, Organisationen und von Staaten sowie neue Herrschaftsverhältnisse, Ausgrenzungen sozialer Gruppen und neue Erpressungsformen – noch gar nicht absehbar sind. Diese Veränderungen und Krisenanlässe alleine – ökologische und ökonomische Krisen, vielfältige soziale Krisen von Krieg über Flüchtlingsströme bis zu Hungersnöten, weltweite gesundheitliche Krisen z. B. über Pandemien und Digitalisierung – bringen uns in eine komplexe Krisensituation, in der niemand sagen kann, wie die einzelnen Merkmale zueinander wirken und in welchen gesellschaftlichen Verhältnissen wir in ein paar Jahren leben werden.

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Wie kommt es zu dieser komplexen Gesellschaftslage, die mit den benannten Krisen und Veränderungen skizziert werden kann und die mit „Zeitenwende“ oder einer „Welt, die aus den Fugen gerät“ beschrieben wird? Und was bedeutet die Zunahme an Komplexität für die Implementierung von Case Management?

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Will man das Entstehen von Komplexität erläutern, macht es Sinn, kurz auf die Zeit der Aufklärung und ihre Auswirkungen zurückzugehen. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ – in diesen prominenten Satz fasst Immanuel Kant das Programm der Aufklärung in dem Essay „Was ist Aufklärung?“ aus dem Jahr 1784 zusammen. Die Vernunft war das notwendige und das sich als wirkungsvoll erweisende Mittel der Menschen, die sich im 19. Jahrhundert auf den Weg zu Bürgerinnen und Bürgern machten, sich aus der Abhängigkeit von Klerus und Adel zu befreien. Martin Luther übersetzte im 16. Jahrhundert die Bibel in die deutsche Sprache, um allen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich ihrer selbst in der Welt bewusst zu werden. Der Buchdruck kurz zuvor, die Renaissance der Schriften von Aristoteles und vielfache wissenschaftliche Entdeckungen markieren den Beginn der „Neuzeit“. „Ich denke, also bin ich“ lautet der Wahlspruch des Rationalismus nach René Descartes. Mittels unseres Bewusstseins vergegenständlichen wir Gefühle, unsere Körper und jegliche Umwelt. Alles, was uns umgibt und ausmacht, wird zum Gegenstand bzw. Objekt unseres Denkens. So werden wir als einzelne Personen durch die Jahrhunderte immer unabhängiger, handlungsfähiger und selbstbestimmter. Aber gerade bei Descartes war die Problematik der Prioritätensetzung auf alles Kognitive erkennbar und Kant weist auf dem Zenit der Aufklärung zugleich auf ihre Grenzen hin. Und in religiös-spiritueller Hinsicht stellt sich die Frage nach den Grundlagen und dem Zusammenhalt innerhalb von Gemeinschaft, wenn bisherige Werte und Normen in Frage gestellt werden. Unsere westliche Kultur baut auf Aufklärung als Fundament auf. Gesellschaftliche Machtverteilung wird seit dem 19. Jahrhundert zusehends demokratisch gedacht und konzipiert. Strukturierendes Anreizsystem wird wirtschaftlicher Erfolg – nicht zuletzt vorangetrieben über eine protestantische Ethik. Gesellschaftliche Ziele und „zivilisierte Orte“ werden definiert. Wissenschaften differenzieren sich aus und werden immer spezifischer. Die Umwelt insgesamt – die Tiere, die Pflanzen, die Natur – werden primär zum Objekt wirtschaftlicher Interessen. Primäres Anreizsystem wird spätestens mit Beginn der Industrialisierung immer mehr individuelle Wirtschaftlichkeit. Eine Gesellschaft, die auf Aufklärung basiert, bringt auf der Ebene der einzelnen Menschen Prozesse der Individualisierung hervor, d. h. Prozesse der Freisetzung der Menschen aus tradierten Rollenmustern, des Stabilitätsverlusts durch Entzauberung gesellschaftlich bindender Kräfte und neue Formen gesellschaftlicher Kontrolle mit Blick auf...

Erscheint lt. Verlag 8.8.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Pflege
ISBN-10 3-86216-971-5 / 3862169715
ISBN-13 978-3-86216-971-9 / 9783862169719
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