retten - Notfallsanitäter (eBook)
1392 Seiten
Georg Thieme Verlag KG
978-3-13-242123-3 (ISBN)
1 Entwicklung und Struktur des Rettungsdienstes in Deutschland
Definition
Rettungswesen
Das Rettungswesen ist eine öffentliche Aufgabe der organisierten nicht polizeilichen Gefahrenabwehr und der staatlichen Daseinsvorsorge und gliedert sich in Notfallrettung und Krankentransport.
Heute ist es für uns selbstverständlich, bei einem Notfall unter dem Notruf 112 zu jeder Tages- und Nachtzeit den Rettungsdienst alarmieren zu können – häufig ist bereits nach wenigen Minuten professionelle Hilfe vor Ort. Diese komfortable Situation ist das Ergebnis einer jahrhundertlangen Entwicklung, aus der insbesondere in den letzten 60 Jahren das moderne Rettungswesen entstanden ist.
1.1 Entwicklung des modernen Rettungswesens
Sebastian Koch, Marco Steinkrauß
Der Wunsch, in Not geratenen Mitmenschen zu Hilfe zu kommen, liegt in der menschlichen Natur. So wurden z.B. bereits in vorchristlicher Zeit Wiederbelebungsmaßnahmen nach Ertrinkungsunfällen durchgeführt, indem man diese kopfüber an den Füßen aufhängte – mit dem Ziel, das Wasser so wieder aus der Lunge zu entfernen (sog. Inversionsmethode). Solche aus heutiger Sicht befremdliche Techniken waren über Jahrhunderte populär. Überlieferungen von Hilfeleistungen findet man auch in der Bibel, u.a. im Neuen Testament das „Gleichnis vom barmherzigen Samariter“, der als Reisender aus Samaria einen Schwerverletzten zuerst versorgt und dann aus eigener Tasche einen Herbergswirt für dessen weitere Pflege bezahlt. Im 12. Jahrhundert entstanden ritterliche Orden, die u.a. Hospize betrieben und aus denen einige der heute tätigen Hilfsorganisationen ▶ hervorgingen.
Vom 6. bis zum 15. Jahrhundert überwog ein stark religiös orientiertes Weltbild, wonach Unfälle und Krankheit als schicksalhafte Prüfung oder Gottesstrafe angesehen wurden. Der Versuch einer Einflussnahme auf den Zeitpunkt des Todes stellte nach mittelalterlicher Ansicht ein Aufbegehren gegen die Vorsehung Gottes dar. Zahlreiche Frauen, von denen man annahm, sie praktizierten bei der Durchführung heilkundlicher Maßnahmen Zauberei bzw. stünden mit dem Teufel im Bunde, wurden bis ins 18. Jahrhundert hinein Opfer der Hexenverfolgung. Eine medizinische Behandlung Verunglückter beschränkte sich im Allgemeinen auf pflegerischen Beistand. Bis in die Neuzeit stellte sich damit eine Versorgung von Hilfsbedürftigen bei Unglücksfällen als spontane, zufällige oder im Sinne der Nächstenliebe religiös motivierte Handlung dar.
Erst zu Beginn der Neuzeit, also etwa ab 1500 n. Chr., führten neu gewonnene Erkenntnisse zur Anatomie und Physiologie des Menschen zu einer veränderten Wahrnehmung von Krankheit. Diese wurde fortan als behandelbare Fehlfunktion eines naturwissenschaftlich erklärbaren Organismus betrachtet. Im Jahr 1543 veröffentliche Andreas Vesalius nach zahlreichen Sektionen den ersten anatomischen Atlas „De humani corporis fabrica libri septem" (deutsch: Sieben Bücher über den Aufbau des menschlichen Körpers) ▶ Abb. 1.1). Er gilt als Begründer der modernen Anatomie.
Titelblatt „De humani corporis fabrica libri septem“ (Vesals Anatomie).
Abb. 1.1 Holzschnitt, ca. 43 × 28 cm. Künstler: Jan Stephan von Kalkar.
(Quelle: © Rijksmuseum Amsterdam, Niederlande.)
1.1.1 Gründung der ersten Rettungsgesellschaften
Im 18. Jahrhundert wurden Unfälle nicht mehr als schicksalhaftes Ereignis betrachtet, sondern immer mehr als Notlagen wahrgenommen, die Hilfe erforderten. Noch fehlte es allerdings an einer Organisationsstruktur, die auf den Transport und die medizinische Versorgung ausgerichtet war.
Besonders im Fokus stand der Erstickungstod Ertrinkender. Mithilfe amtlicher Verfügungen (Rettungsordnungen) sowie medizinischer Vorlesungen, die u.a. eine zeitgenössische Anleitung zur Versorgung bei Scheintod enthielten, sollte die Zahl der Ertrinkungs- und Unfallopfer gesenkt werden ( ▶ Abb. 1.2). Für die erfolgreiche Rettung der durch „plötzliche Zufälle“ verunglückten Personen wurde eine Belohnung in Aussicht gestellt. Besonders in den am Wasser gelegenen Städten mit ihrer hohen Bevölkerungsdichte und den häufigen Ertrinkungsunfällen wurde die Notwendigkeit von Rettungseinrichtungen erkannt. In Amsterdam und Hamburg entstanden daraufhin die ersten Rettungsgesellschaften:
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1767 fanden in Amsterdam Bürger in der Gesellschaft zur Rettung Ertrinkender (Maatschappij tot Redding van Drenkelingen) zusammen.
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1768 gründeten sich nach diesem Vorbild Rettungsgesellschaften in Hamburg und weiteren europäischen Städten.
Bereits damals kam der Gedanke auf, speziell ausgebildete „Rettungsmänner“ einzusetzen, z.B. aus den Reihen der Feuerwehr. Die Menschenrettung wurde immer mehr als öffentliche Aufgabe begriffen. Erste Rettungsstationen entstanden wegen der Vielzahl der Ertrinkungsopfer meist in der Nähe von Flussläufen.
Anleitung zur Rettung Ertrunkener (1675).
Abb. 1.2 Titelblatt eines Nachdrucks der Schrift des Lausitzer Pfarrers Sebastian Weiss aus Dittersbach in der Lausitz über die Wiederbelebung Ertrunkener.
(Aus: Scholz J, Sefrin P, Böttiger B (Hrsg.): Notfallmedizin. Stuttgart: Thieme; 2013. Foto: © Ludwig Brandt.)
Oft waren auch Katastrophenfälle Auslöser für die Gründung von Rettungsgesellschaften, z.B.:
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Wiener Freiwillige Rettungsgesellschaft: Sie wurde am Folgetag des verheerenden Brands des Wiener Ringtheaters am 8. Dezember 1881 gegründet, bei dem mind. 348 Menschen ihr Leben verloren.
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Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG): Auslöser ihrer Gründung am 19. Oktober 1913 war der Zusammenbruch der Landungsbrücke Binz am 28. Juli 1912.
Nach Gründung der ersten Rettungsgesellschaften verfasste eine Reihe von Ärzten Abhandlungen, die für die Unterweisung von Laien in Erster Hilfe bestimmt waren.
In den folgenden Jahrzenten stagnierte die Entwicklung des zivilen Rettungswesens. Den in Europa herrschenden Kriegen geschuldet, wurden die behördlichen Bemühungen auf das Militärwesen ausgerichtet.
1.1.2 Geschichte der Hilfsorganisationen
Die Wurzeln der Hilfsorganisationen, die auch heute noch Akteure im Rettungswesen sind, reichen zum Teil Jahrhunderte zurück. In ihrer derzeitigen Form gründeten sich die Hilfsorganisationen etwa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Fortschritte in der Infektionsprophylaxe, der Asepsis, der Wundbehandlung und der Chirurgie ermöglichten Therapien, bei denen der Faktor Zeit an Wichtigkeit gewann. Das Rettungswesen stand zu dieser Zeit unter der Prämisse: „Der erste Verband und der erste Transport entscheiden über das Schicksal des Verletzten.“ Aufgaben der frühen Hilfsorganisationen waren hauptsächlich, einen einfachen Notverband anzulegen und einen zügigen sachgerechten Transport des Verletzten zu einem Arzt durchzuführen. Die frühzeitige Erste Hilfe durch geschulte Laien ist noch heute wesentlicher Bestandteil bei der professionellen Notfallversorgung.
Johanniter und Malteser Der Ritterliche Orden St. Johannis vom Spital zu Jerusalem gehört zu den ältesten geistlichen Ritterorden. Kaufleute aus Amalfi (Italien) gründeten zwischen 1048 und 1071 in Jerusalem ein Hospiz für arme und kranke Pilger, das von einer Laienbruderschaft geleitet wurde. Nach der Eroberung Jerusalems durch das Heer des Ersten Kreuzzuges im Jahre 1099 schlossen sich christliche Ritter der Laienbruderschaft an.
Rund 15 Jahre später betrieb der Orden bereits 7 Hospitäler in den Herkunftsländern der Ordensritter (Italien und Frankreich) und konnte sich durch Landzukäufe im 14. Jahrhundert auch über Griechenland bis nach Kleinasien ausbreiten. Damit lässt er sich als erste übernationale Gemeinschaft Europas bezeichnen. Im Jahr 1530 wurde der Orden von Kaiser Karl V. mit Malta belehnt. Im Jahr 1538 entstand ein protestantischer Zweig des Ordens, der bis heute Johanniterorden heißt, sowie ein katholischer Zweig des Ordens, der bis heute Malteserorden (ursprünglich: Souveräner Malteser Ritter Orden) genannt wird.
Beide Ordensgemeinschaften leisteten bereits Hilfseinsätze in Kriegsgebieten, bevor im Jahr 1864 in der ▶ 1. Genfer Konvention eine bessere Versorgung von Verwundeten vertraglich vereinbart wurde. In teils selbst organisierten Lazaretteinrichtungen widmeten sie sich der Kranken- und Verwundetenpflege und transportierten Verletzte in Hospitäler.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gründeten die Ordensgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland 1952 die Johanniter-Unfall-Hilfe...
Erscheint lt. Verlag | 25.1.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Gesundheitsfachberufe ► Rettungsassistent / -sanitäter |
Schlagworte | ABCDE-Schema • Ausbildung • Intensivtransport • Lehrbuch • Notarzt • Notfallmedizin • Notfallsanitäter • Prüfung • Reanimation • Rettungsassistent • Rettungsdienst • Rettungsmedizin • Rettungssanitäter |
ISBN-10 | 3-13-242123-5 / 3132421235 |
ISBN-13 | 978-3-13-242123-3 / 9783132421233 |
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