Leben mit Contergan (eBook)
335 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-041442-6 (ISBN)
Dr. med. Christina Ding-Greiner ist Ärztin und Diplom-Gerontologin. Während ihrer langjährigen Tätigkeit am Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg befasste sie sich mit dem Altern von Menschen mit geistiger Behinderung und chronisch psychischer Erkrankung. Seit 2010 widmet sie sich den Auswirkungen und Langzeitfolgen von Contergan bei betroffenen Menschen. Mit Beiträgen von: Ana Maria Salar Alfaro, Javier Almela-Baeza, Irmela Aurich, Heinz Barnbeck, Matthias Berg, Rudolf Beyer, Ramona Bohlender, Lisa Böning, Delia Brkitsch, Petra Brückner, Alexander Brunotte, Kaharina Carl, Inga Dalewski, Wolfgang Debold, Bärbel Drohmann, Binta Dunker, Christina Fernandez Koch, Anthonia Fernandez Koch, Alfonso Fernandenz Garcia, Juan Luis Fernandez Jimenez, Toni Kathrin Fuchs, Hildegunde Haeusler, Miles Hafeneth, Stephan Hafeneth, Andrea Heerdt, Walter Herter, Klaus Knapp-Boetticher, Friederike Koch, Sigrid Kwella, Johannes Kwella, Raphael Kwella, Monika Maria Leipelt, Doris Leipelt, Heike Mattes, Rudolf Mattes, Andreas Meyer, Ruth Müller, Alexander Niecke, Fernando Rodríguez Escaño, Petra Schad, Rosa Maria Schad, Britta Schade, Anne Schara, Christina Schara, Florentine Schara, Susanne Schara-Voss, Jan Schulte-Hillen, Jutta Sattler, Nina Sörensen, Irmela Stracke-Herker, Thomas Stein, Bianca Vogel, Constanze von Canal, Christa von Plato, Stefan Weinert, Sabine Wendlandt, Ludger Wimmelbücker, Friederike Winter, Marianne Zippert und Viktor Zippert.
Dr. med. Christina Ding-Greiner ist Ärztin und Diplom-Gerontologin. Während ihrer langjährigen Tätigkeit am Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg befasste sie sich mit dem Altern von Menschen mit geistiger Behinderung und chronisch psychischer Erkrankung. Seit 2010 widmet sie sich den Auswirkungen und Langzeitfolgen von Contergan bei betroffenen Menschen. Mit Beiträgen von: Ana Maria Salar Alfaro, Javier Almela-Baeza, Irmela Aurich, Heinz Barnbeck, Matthias Berg, Rudolf Beyer, Ramona Bohlender, Lisa Böning, Delia Brkitsch, Petra Brückner, Alexander Brunotte, Kaharina Carl, Inga Dalewski, Wolfgang Debold, Bärbel Drohmann, Binta Dunker, Christina Fernandez Koch, Anthonia Fernandez Koch, Alfonso Fernandenz Garcia, Juan Luis Fernandez Jimenez, Toni Kathrin Fuchs, Hildegunde Haeusler, Miles Hafeneth, Stephan Hafeneth, Andrea Heerdt, Walter Herter, Klaus Knapp-Boetticher, Friederike Koch, Sigrid Kwella, Johannes Kwella, Raphael Kwella, Monika Maria Leipelt, Doris Leipelt, Heike Mattes, Rudolf Mattes, Andreas Meyer, Ruth Müller, Alexander Niecke, Fernando Rodríguez Escaño, Petra Schad, Rosa Maria Schad, Britta Schade, Anne Schara, Christina Schara, Florentine Schara, Susanne Schara-Voss, Jan Schulte-Hillen, Jutta Sattler, Nina Sörensen, Irmela Stracke-Herker, Thomas Stein, Bianca Vogel, Constanze von Canal, Christa von Plato, Stefan Weinert, Sabine Wendlandt, Ludger Wimmelbücker, Friederike Winter, Marianne Zippert und Viktor Zippert.
2 Conterganopfer
2.1 »Conterganopfer«10
Britta Schade
das war das Wort, als wir geboren wurden
ohne Arme, ohne Beine ...
Fassungslosigkeit und Hilflosigkeit,
wie konnte das geschehen?
Was hatte dies zu bedeuten?
Noch vor kurzen wurden solche vergast ...,
und nun dieses!
Wer war schuld?
Schnell wurde gekämpft,
die Ärmchen und Beinchen verlängert,
in Streckapparaten gestreckt,
in Prothesen gezwängt,
eingeengt, eingepresst in die Norm,
möglichst verstecken, wegschauen,
nur nicht hilflos sein!
Wir wurden begutachtet, gemustert,
kalten Augen und Herzen ausgesetzt,
bloßgestellt,
operiert, beturnt, trainiert ...
die Lebendigkeit erstickt,
die Wut begraben,
zu Opfern gemacht!
Wann stehen wir auf?
2.2 Vorgeburtliche Schäden durch Contergan
Christina Ding-Greiner
2012, 2013, 2016 und 2019 hat das Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg im Auftrag der Conterganstiftung und des BMFSFJ mehrere Studien ausgeführt mit dem Ziel, bestehende Versorgungsdefizite und künftige Unterstützungsbedarfe bei contergangeschädigten Menschen zu ermitteln und aus den Ergebnissen differenzierte Handlungsempfehlungen mit Blick auf die Versorgung und notwendige Unterstützung abzuleiten, die als Grundlage für Gesetzesänderungen dienen sollen. Diese Arbeiten werden in diesem Buch folgendermaßen zitiert: HD 2012, HD 2013, HD 2016 und HD 2019. Sie stehen zum Download zur Verfügung (▶ Übersicht: Beiträge zum Download am Ende dieses Werks).
Für ein besseres Verständnis der Beiträge dieses Buches und der darin erwähnten spezifischen Schädigungen und deren Folgen werden zentrale Begriffe und Ergebnisse aus unseren Studien im Folgenden erläutert.
Thalidomidbedingte vorgeburtliche Schädigungen können alle Organsysteme betreffen. Als Beispiele werden genannt:
Der Bewegungsapparat, dazu gehören Fehlbildungen der Extremitäten mit Verkürzungen der langen Röhrenknochen bis hin zum Fehlen von Armen oder Beinen, Fehlbildungen der Hände und Füße, der Wirbelsäule mit Skoliose und Kyphose, Blockwirbelbildungen, Fehlbildung des Kreuzbeins und des Beckens, hinzu kommen entsprechende Fehlbildungen von Gelenken und Schädigung der Muskulatur sowie der Sehnen und ihrer Ansätze, Kieferfehlbildungen und Fehlbildungen des Gesichtsschädels.
Die inneren Organe mit Schädigung des Magen-Darm-Trakts, der Niere, des Herzens, der Lunge, der Geschlechtsorgane, von Hormondrüsen.
Die Sinnesorgane, dazu gehören die Augen mit häufig auftretenden Augenmuskellähmungen, schweren Sehstörungen und Erblindung sowie die Ohren mit Fehlbildung der Ohrmuscheln und des äußeren Gehörgangs, schweren Hörschäden bis zur Gehörlosigkeit, Fehlen des Gleichgewichtsorgans.
Das Nervensystem mit Schädigung des zentralen und des peripheren Nervensystems. Fazialisparesen (Gesichtslähmungen) treten häufig im Zusammenhang mit einer Schädigung des Ohres auf.
Das Gefäßsystem mit fehlenden oder hypoplastischen Gefäßen, mit abnormen Gefäßverläufen oder einer zu geringen Gefäßdichte, die zu Unterversorgung der Gewebe führen kann; dies kann sich äußern in »kalten Händen und Füßen« bis hin zur Zerstörung von Gelenken durch Mangeldurchblutung (Lenz 1965; Smithells und Newman 1992).
Contergangeschädigte Menschen zeigen nach 50 Jahren schwere Schäden und Folgeschäden im Bewegungsapparat infolge kompensatorischer Fehl- und Überbelastungen, die zu chronischen Schmerzzuständen und Funktionseinschränkungen auf der Grundlage von Muskelverspannungen und Arthrosen führen. Die Wirkung von Thalidomid auf wachsende Gefäße scheint Einfluss auf den Aufbau aller Gewebe zu haben, sodass beispielsweise nicht nur die Gelenke vulnerabler sind, sondern auch das gesamte Skelettsystem, der Bandapparat und die Muskulatur. Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit und Funktionalität, die in den letzten Jahren rasch zunehmen, sind eine Folge dieser Schädigung.
Von der Conterganstiftung werden ausschließlich vorgeburtliche Schäden als Grundlage für die Bemessung der finanziellen Unterstützung anerkannt. Im Laufe der Jahrzehnte haben die Einschränkungen aufgrund vorgeburtlicher Schäden durch Fehlbelastung zugenommen. Hinzu kommt die Entwicklung von Folgeschäden in ursprünglich gesunden Bereichen, verursacht durch kompensatorische Bewegungsabläufe, die zu schweren Schäden mit Schmerzen und Verlust der Mobilität führen können. Folgeschäden werden jedoch nicht anerkannt, da sie erst im Laufe der Jahre entstanden sind. Im Folgenden werden diese Begriffe definiert und erläutert.
- 1.
Vorgeburtliche Schäden sind durch Einnahme von Contergan zwischen dem 34. und 51. Tag nach der letzten Periode entstanden11. Dieser Zeitraum entspricht der Embryonalphase (3. bis 8. Woche nach Konzeption). Das Ausmaß der Schädigung wird nicht durch die Höhe der Einzeldosis, sondern durch den Zeitpunkt und die Häufigkeit der Einnahme bestimmt. Im Lauf des Lebens nimmt der Schweregrad der vorgeburtlichen Schädigung des Bewegungsapparats infolge kompensatorischer Fehlbelastungen zu, es bilden sich Arthrosen und Muskelverspannungen aus, die schwere chronische Schmerzen und Einschränkungen der Beweglichkeit verursachen. Vorgeburtliche Schäden finden sich auch an inneren Organen, wie beispielsweise Dünndarmatresien, Herzfehler oder Fehlbildungen der Niere (Woolf et al. 2009).
- 2.
Folgeschäden sind mittelbar auf Contergan zurückzuführen. Ursprünglich gesunde Organsysteme werden durch kompensatorische Bewegungsabläufe geschädigt. Häufig entstehen beispielsweise Gelenkarthrosen im Bereich ursprünglich gesunder Schultern und einer normal angelegten Wirbelsäule durch Fehlbelastung bei verkürzten Armen, schmerzhafte Muskelverspannungen schränken die Beweglichkeit zusätzlich ein. Nierenfunktionsstörungen oder Nierensteine sowie Thrombosen sind als Folgeschäden bei jenen Betroffenen zu werten, die über Jahrzehnte nur sehr geringe Flüssigkeitsmengen zu sich genommen haben, da während der beruflichen Tätigkeit außer Haus der Toilettengang nicht selbstständig zu bewältigen war und Assistenz fehlte.
- 3.
Spätschäden sind vorgeburtlich entstandene conterganbedingte Schäden, die die Gefäße, das Nervensystem, die Muskulatur oder innere Organe betreffen. Diese Schäden wurden bei der Erstuntersuchung in der Kindheit meist nicht erkannt, die auffallenden orthopädischen Schäden standen im Vordergrund. Außerdem ermöglicht der technische Fortschritt eine subtilere Diagnostik, sodass heute diese Schäden nachgewiesen werden können. Es können heute Verläufe und Durchmesser von Gefäßen und Nerven dargestellt werden, ebenso die Struktur innerer Organe (Weinrich et al. 2018; Tajima et al. 2016). Spätschäden gewinnen zunehmend an Bedeutung, da eine Kompensation eingeschränkter Funktionen nur noch in geringem Ausmaß möglich ist, hinzu kommt, dass sich Alternsprozesse bei contergangeschädigten Menschen sehr früh bemerkbar machen. So führen beispielsweise Gefäßanomalien frühzeitig zu Schlaganfällen oder Herzinfarkten. Periphere Nerven zeigen häufig einen verminderten Durchmesser und/oder einen veränderten Verlauf. Sensibilitätsstörungen und Missempfindungen können bei arthrotischen Veränderungen an physiologischen Engstellen beim Austritt der Nerven aus der Wirbelsäule durch Einengung der Durchtrittsöffnung und vermehrten Druck entstehen. Die Muskulatur zeigt auch unabhängig von orthopädischen Fehlbildungen oder Fehlansätzen bei Belastung zunehmend schmerzhafte Verspannungen und eine ausgeprägte, nicht dem Alter entsprechende Muskelschwäche. Auch innere Organe sind betroffen, beispielweise Hormondrüsen.
Körperliche Schäden werden nach dem Conterganstiftungsgesetz entsprechend der Medizinischen Punktetabelle bewertet, dabei werden ausschließlich vorgeburtliche Schäden im orthopädischen, internistischen, ophthalmologischen und HNO-Bereich anerkannt (Medizinische Punktetabelle). Die Summe der Schadenspunkte wird einer komplizierten Berechnung unterzogen, das Ergebnis ist die individuelle Schadenspunktezahl, nach der die finanziellen Zuwendungen bemessen werden. Für einen Überblick über die Häufigkeit vorgeburtlicher Schädigungen siehe ▶ Tab. 2.1.
Tab. 2.1:Überblick über die Häufigkeit vorgeburtlicher Schädigungen in der Stichprobe von HD 2012
Bereich der vorgeburtlichen Schädigung | Anteil vorgeburtlicher |
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Erscheint lt. Verlag | 28.9.2022 |
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Co-Autor | Ana Maria Salar Alfaro, Javier Almela-Baeza, Heinz Barnbeck, Matthias Berg, Ramona Bohlender, Dehlia Brkitsch, Petra Brückner, Alexander Brunotte, Katharina Carl, Bärbel Drohmann, Christina Fernandez Koch, Anthonia Fernandez Koch, Alfonso Fernandenz Garcia, Toni Kathrin Fuchs, Hildegunde Haeusler, Friederike Koch, Sigrid Kwella, Monika Maria Leipelt, Doris Leipelt, Heike Mattes, Rudolf Mattes, Ruth Müller, Alexander Niecke, Fernando Rodríguez Escaño, Petra Schad, Rosa Maria Schad, Anne Schara, Florentine Schara, Brigitte Schinzel, Jan Schulte-Hillen, Nina Sörensen, Bianca Vogel, Christa von Plato, Stefan Weinert, Sabine Wendlandt, Ludger Wimmelbücker, Irmela Aurich, Rudolf Beyer, Inga Dalewski, Wolfgang Debold, Juan Luis Fernandez Jimenez, Stephan Hafeneth, Miles Hafeneth, Walter Herter, Claus Knapp-Boetticher, Raphael Kwella, Johannes Kwella, Jutta Sattler, Britta Schade, Christian Schara, Susanne Schara-Voss, Irmela Stracke-Herker, Constanze von Canal, Marianne Zippert, Viktor Zippert, Andrea Heerdt, Friederike Winter, Lisa Böning, Binta Dunker, Andreas Meyer, Thomas Stein, Martina Theis |
Zusatzinfo | 6 Tab. |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie |
Schlagworte | Arzneimittel • Behinderte • Behindertenhilfe • Behinderung • Biografie • Katastrophe • Lebensaktivitäten • Lebensbedingungen |
ISBN-10 | 3-17-041442-9 / 3170414429 |
ISBN-13 | 978-3-17-041442-6 / 9783170414426 |
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