NAP (eBook)
476 Seiten
Thieme (Verlag)
978-3-13-241366-5 (ISBN)
1 Grundlagen der N.A.P.-Therapie
Aktivitäten bestimmen Funktionen
Funktionen formen Strukturen.
Jede Struktur ist so belastbar, wie sie belastet wird.
1.1 Einleitung
Renata Horst
N.A.P. steht für „Neuroorthopädische aktivitätsabhängige Plastizität“. Die N.A.P.-Therapie orientiert sich an den Bedürfnissen und Potenzialen des Individuums und schlägt die Brücke zwischen Orthopädie und Neurologie. Das Ziel dieser integrativen Therapie ist, dass der Patient lernt zu handeln, statt ausschließlich behandelt zu werden. Der N.A.P.-Therapeut nutzt manualtherapeutisches Wissen und neurophysiologische Prinzipien, um im Sinne eines Reset-the-Brain die Plastizität des Gehirns zu fördern.
1.1.1 Der Mensch ist das Konzept
Grundlegend für die Gestaltung der Therapie sind Kenntnisse der Physiologie und pathophysiologischer Vorgänge. Die Funktionen des Organismus, einschließlich der Evolutionsgeschichte des Menschen, der embryologischen Entwicklung und der motorischen Entwicklung des Kindes zu kennen und zu verstehen, wie die Körpersysteme zusammenwirken, um physikalische, chemische und biochemische Vorgänge für das Leben des Menschen zu kontrollieren, sind Kernelemente einer fundierten Grundausbildung oder eines Studiums für sämtliche Berufe im Gesundheitswesen. Zu lernen, welche Körperstrukturen wie funktionieren müssen, damit der Mensch sichere ökonomische motorische Strategien im Alltag organisieren kann, stellt eine große Herausforderung für alle Therapeuten dar.
Merke
Die Grundlage der Therapie ist es, zu wissen, welche Körperstrukturen wie funktionieren müssen, um Alltagsstrategien organisieren zu können.
Der Prozess der N.A.P.-Therapie beginnt mit der Zielfestlegung zwischen dem Patienten und allen involvierten Therapeuten, Kostenträgern und Angehörigen. Es gibt nicht die therapeutische Methode, die das motorische Problem eines Patienten löst, sondern es bestehen verschieden Möglichkeiten, die zum Ziel führen können. Vor allem muss die Therapiesituation so gestaltet werden, dass der Patient überhaupt ein Ziel erkennt bzw. sein motorisches Problem wahrnehmen kann. Hierzu gehört auch, dass der Patient sein motorisches „Problem“ lösen möchte – d. h., die Notwendigkeit, lernen zu wollen und zu können, muss geschaffen werden.
Der Therapeut unterstützt den Patienten dabei, eigene Strategien zu entwickeln. Hierfür greift der Therapeut auf sein biomedizinisches Wissen zurück, um seine technischen Werkzeuge gezielt einsetzen zu können ( ▶ Abb. 1.1).
Abb. 1.1 Um Handlungen planen zu können, bedarf es der Aufmerksamkeit bzw. der Wahrnehmung eines „Problems“, das man lösen möchte. Das Problem zu lösen fördert wiederum die Erinnerung, sodass Erfolgserlebnisse wiederholt werden können.
Merke
Klar definierte Parameter, die in Bezug zu den Therapiezielen stehen, erteilen Aufschluss darüber, ob die Therapie zum Lösen des motorischen Problems effektiv ist. Ist das nicht der Fall, müssen alternative Strategien entwickelt werden.
1.1.2 Vergleich N.A.P. und traditionelle Therapiekonzepte
In den traditionellen Konzepten der Manuellen Therapie (z. B. Maitland, Kaltenborn-Evjenth) ist die passive Mobilisation durch den Therapeuten grundlegend. Sie hat das Ziel, Bewegungseinschränkungen zu verhindern und/oder zu behandeln. Wie von Streek et al. in ( ▶ [141]) ausführt, ist die Manuelle Therapie passiv, da Aktivität einen Gelenkschluss hervorruft. Auf der Basis dieser Annahme ist eine physiologische Funktionalität während der Mobilisation nicht relevant. Auf diesen passiven Behandlungseinstieg erfolgt ein aktives Üben, um das erreichte Bewegungsausmaß für den Alltag zu festigen. Damit steht in diesen Konzepten zunächst die passive Behandlung im Vordergrund, und eine aktive Handlung vonseiten des Patienten wird angeschlossen.
Die traditionellen Fazilitationskonzepte (z. B. Bobath, Vojta, PNF) verfolgen das Ziel, physiologische Bewegungsmuster durch gezielte taktile Reize des Therapeuten „anzubahnen“ und unphysiologische zu hemmen. Die Neurofazilitationsmethoden beruhten auf der Idee, dass „normale“ Bewegung das Resultat einer Aneinanderkettung von Reflexen ist, welche innerhalb des zentralen Nervensystems hierarchisch organisiert sind. Basierend auf dieser Annahme wurde eine hierarchische Therapiegestaltung angestrebt: zuerst in niedrigen Ausgangsstellungen bzw. in liegenden Positionen therapieren und proximale Körperteile vor distalen beüben.
Abnorme Bewegung wurde in diesem Zusammenhang als das Resultat von Läsionen höhergeordneter, kortikaler Zentren des zentralen Nervensystems gesehen. Man war der Meinung, dass sie zur Freigabe von primitiven Reflexaktivitäten führen. Diese Reflexaktivitäten wurden als direktes Resultat der Läsion selbst angesehen, und das therapeutische Ziel war es zum einen, diese zu inhibieren oder zu hemmen, und zum anderen, normale Reflexaktivitäten zu bahnen oder zu fazilitieren. Diese These ist heute abgelöst worden von der Vorstellung, dass die Aufgabe und die Umweltsituation bestimmen, wie die neuromuskuläre Koordination organisiert wird ( ▶ [65]).
Heute weiß man, dass zielorientierte motorische Handlungen ohne propriozeptive Information initiiert und ausgeführt werden können ( ▶ [145]). Deshalb hört man immer häufiger, dass für ein Hands-off (Therapie ohne Hände des Therapeuten) plädiert wird. Das propriozeptive System hat jedoch immer noch einen hohen Stellenwert als Feedbacksystem, um Korrekturen während der Bewegungsausführung und feinmotorische Aktivitäten zu ermöglichen sowie um überhaupt auf vergangene Erfahrungen zurückgreifen zu können und Bewegungspläne zu entwickeln ( ▶ [272]).
Generell ist zu sagen, dass der Aufforderung, die Hände nicht zu benützen, wohl eine zu starke Schwarz-Weiß-Betrachtung zugrunde liegt. Es sollte jedoch dem Therapeuten bewusst sein, dass seine Hände einen Teil der Umwelt des Patienten bilden und dass sie aus diesem Grund so wenig wie möglich benützt werden sollten, um die Selbständigkeit des Patienten zu fördern. Therapeutenhände können ein wichtiges Werkzeug sein, wenn sie dort eingesetzt werden, wo Information nötig ist, um dem Patienten positive Bewegungserfahrungen während seiner Auseinandersetzung mit zielorientierten Handlungen zu ermöglichen, und vor allem, um während der Ausführung der zielmotorischen Handlung die notwendige biomechanische Situation herzustellen.
Merke
Bewegung stellt ein Verhalten dar, das sich aus Eigenmotivation, Emotion, Sinneswahrnehmungen und kognitiven Prozessen entwickelt.
Die N.A.P.-Therapie integriert die manuelle Beeinflussung der Körperstrukturen in die Handlung des Patienten. Strukturen werden nicht für funktionelle Aktivitäten vorbereitet, d. h., Gelenke werden nicht passiv mobilisiert, und Muskeln werden weder passiv gedehnt noch durch Widerstand gekräftigt – und dies vor allem in liegenden Positionen, bevor der Patient in höheren Positionen Alltagsaktivitäten übt. Strukturen werden direkt innerhalb der zielmotorischen Handlung des Individuums beeinflusst.
Merke
In der N.A.P.-Therapie werden manuelle Techniken zur Gelenkmobilisation bzw. -stabilisation in die Aktivitäten des Patienten integriert.
Hierfür muss die Aktivität so einfach wie nötig gewählt werden, damit die Körperstrukturen die Belastung erfahren können, der sie standhalten müssen. Die Hände des Therapeuten können als spezifisches Werkzeug genutzt werden. Sie stellen die erforderliche, bestmögliche biomechanische Situation während der Aktivitätsausführung her. So kann das Gehirn erfahren, wie es die Handlung organisieren kann, um möglichst erfolgreiche motorische Strategien zu gewährleisten.
Voraussetzungen für das Fördern des Lernens einer Bewegung oder Handlung sind Kenntnisse darüber, wie das Gehirn Handlungen organisiert. Biomechanische und funktionell anatomische Prinzipien müssen ebenfalls berücksichtigt werden, bevor der Therapeut seine Hände als spezifisches Werkzeug sinnvoll einsetzen kann.
Merke
Der Therapeut führt manuelle Gelenk- und Muskeltechniken in Verbindung mit sinnvollen Eigenaktivitäten des Patienten aus, damit das Gehirn lernen kann, die Handlung wieder zu organisieren. So wird der Patient darin gefördert zu handeln, statt behandelt zu werden.
1.1.2.1 Die Bewegung folgt einem Plan
Im Idealfall organisiert das Gehirn die Muskelsynergien, die für die jeweilige Handlung benötigt werden, bevor die Bewegungen hierfür sichtbar sind. Wenn es zu einer Störung im System kommt, sei es zentral oder peripher, ist es das Ziel, dem Gehirn eine „Idee“ von der benötigten Bewegungsfolge zu vermitteln. Dies kann erreicht werden, indem der Therapeut seine Hände erst anlegt, nachdem festgestellt worden ist, dass die Handlungsbereitschaft vorhanden ist. So kann der Patient erfahren, wie sich die Bewegung...
Erscheint lt. Verlag | 23.2.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Gesundheitsfachberufe |
Schlagworte | Biomechanik • Ergotherapie • Logopädie • Manualtherapie • Motorisches Lernen • Motorisches Strategietraining • Motorische Strategien • N.A.P. • Neurologie • Neuroorthopädie • Neuroreha • Orthopädie • Orthopädiemechanik • Orthopädietechnik • Physiotherapie • Sporttherapie • Zahnmedizin |
ISBN-10 | 3-13-241366-6 / 3132413666 |
ISBN-13 | 978-3-13-241366-5 / 9783132413665 |
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