Familienorientierte Frühförderung von Kindern mit Behinderung (eBook)

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2021 | 2. Auflage
158 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61499-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Familienorientierte Frühförderung von Kindern mit Behinderung -  Klaus Sarimski,  Manfred Hintermair,  Markus Lang
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Familienorientierung und Lebensweltbezug gelten in der Frühförderung von Kindern mit Behinderung seit längerem als handlungsleitende Konzepte. Beziehungen zwischen Eltern und Kind sollen unterstützt und die Ressourcen der Eltern gestärkt werden. Wie gelingt es jedoch, familienorientierte Prinzipien konsequent in die Praxis zu übertragen? Die erfahrenen Autoren stellen die Erfolgsbedingungen einer Frühförderung in und mit der Familie dar. Dabei gehen sie auf die besondere Situation der betroffenen Familien ein, nennen spezifische Herausforderungen und arbeiten die wichtigsten Bausteine einer familienorientierten Frühförderpraxis heraus - von der Gestaltung des Erstgesprächs bis zum Ablauf eines Hausbesuchs. Mit vielen Fallbeispielen, Tipps und Checklisten!

Prof. i. R. Dr. Klaus Sarimski war bis 2021 Professor für sonderpädagogische Frühförderung, Prof. i. R. Dr. Manfred Hintermair war Professor für Psychologie in der Fachrichtung Hörgeschädigtenpädagogik, Dr. Markus Lang ist Professor für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik - alle an der PH Heidelberg.

Prof. i. R. Dr. Klaus Sarimski war bis 2021 Professor für sonderpädagogische Frühförderung, Prof. i. R. Dr. Manfred Hintermair war Professor für Psychologie in der Fachrichtung Hörgeschädigtenpädagogik, Dr. Markus Lang ist Professor für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik - alle an der PH Heidelberg.

1 Familienorientierung im System der Frühförderung

1.1 Aufgaben, Organisationsformen und Finanzierung von Frühförderung

Der Begriff der Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder bezeichnet ein komplexes System früher Hilfen von der Geburt bis zum Schuleintritt. Es umfasst Diagnostik, Therapie und pädagogische Förderung der Kinder ebenso wie Beratung, Anleitung und Unterstützung der Eltern.

Einen entscheidenden Anstoß zum Aufbau von Frühfördereinrichtungen in den alten Bundesländern gaben die 1973 veröffentlichten Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates „Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“. Auf ihrer Grundlage entwickelte sich ein weitgehend flächendeckendes Netz von Frühfördereinrichtungen im gesamten Bundesgebiet. Auch in der ehemaligen DDR existierten Strukturen früher Hilfen für Kinder mit Behinderungen, diese Hilfen wurden allerdings überwiegend in Krippen oder Kindergärten, seltener in den Familien selbst angeboten (Koch 1999). Derzeit existieren in Deutschland über 1000 regionale und überregionale Frühförderstellen sowie über 150 Sozialpädiatrische Zentren und vergleichbare klinische Einrichtungen (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2016).

Das heutige System der Frühförderung wurde mit der Einführung des SGB IX (Sozialgesetzbuch – neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt. Dabei wurden Leistungen der medizinischen Rehabilitation und heilpädagogische Leistungen konzeptionell integriert und organisatorisch zu einer sogenannten Komplexleistung zusammengeführt.

„§ 30 (1) Die medizinischen Leistungen zur Früherkennung und Frühförderung […] werden als Komplexleistung in Verbindung mit heilpädagogischen Leistungen (§ 56) erbracht.“

„§ 30 (2) Sie umfassen des Weiteren nichtärztliche therapeutische, psychologische, heilpädagogische, psychosoziale Leistungen und die Beratung der Erziehungsberechtigten durch interdisziplinäre Frühförderstellen.“

Regionale Frühförderstellen sichern eine gemeinde- und familiennahe Grundversorgung für Kinder und deren Familien. Sie arbeiten sowohl mobil als auch ambulant. In Interdisziplinären Frühförderstellen (IFF) können Kinder direkt von ihren Eltern oder auf Veranlassung von Kinderärzten bzw. niedergelassenen Therapeuten, Psychologen oder Pädagogen vorgestellt werden. Im Rahmen einer interdisziplinären Diagnostik ist dort zu klären, ob das Ausmaß der Beeinträchtigung eine Frühförderung als Komplexleistung rechtfertigt; daraufhin ist in Kooperation von Ärzten und Pädagogen ein individueller Förder- und Behandlungsplan zu erstellen. Voraussetzung für die Finanzierung einer solchen Komplexleistung ist, dass sie von fachübergreifend arbeitenden Diensten und Einrichtungen durchgeführt wird.

Spezielle (überregionale) Frühförderstellen gibt es für blinde und sehbehinderte sowie für gehörlose und hörbehinderte Kinder. Sie sind in der Regel an entsprechende Förderschulen angegliedert und versorgen ein größeres Einzugsgebiet. In ihnen sind häufig Sonderpädagogen tätig, die spezifische Förderangebote für Kinder mit den genannten Behinderungen entwickeln und die Eltern beraten, wie sie den besonderen Bedürfnissen der Kinder mit Seh- oder Hörschädigungen gerecht werden können. Ergänzt werden diese Frühförderangebote durch Angebote sonderpädagogischer Beratungsstellen, die vor allem in Baden-Württemberg mobile und ambulante Hilfen für Kinder mit unterschiedlichen Behinderungsformen anbieten. Auch diese Beratungsstellen sind an Förderschulen angegliedert.

Sozialpädiatrische Zentren sowie Fachabteilungen für Neuro- und Sozialpädiatrie an Kliniken sind überregional ausgerichtete Institutionen, die die Arbeit der wohnortnahen Frühförderstellen in besonders schwierig gelagerten Fällen in Diagnostik und Therapie unterstützen und ergänzen sollen. Sie sind ärztlich geleitet, verfügen über interdisziplinäre Teams und betreuen einen größeren Einzugsbereich. Sie sind ermächtigt, Kinder und Jugendliche bis zum Alter von 18 Jahren zu behandeln. In einem Sozialpädiatrischen Zentrum können Kinder durch Überweisung von niedergelassenen Ärzten angemeldet werden. Niedergelassene Ärzte (vor allem Kinderärzte) sowie frei praktizierende Therapeuten, Psychologen und Heilpädagogen sind Kooperationspartner, mit denen Frühförderstellen und Sozialpädiatrische Zentren zusammenarbeiten. Sie bieten den Kindern und ihren Familien jedoch keine umfassende Betreuung an.

Da das Netz von Frühfördereinrichtungen ausgebaut werden konnte, ist die Zahl der betreuten Kinder seit 1980 erheblich gestiegen. Nach Schätzung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (2016) liegt die Zahl der Kinder, die in Frühförderstellen und Sozialpädiatrischen Zentren versorgt werden, bei ca. 112.000 (2,3% aller Kinder unter sieben Jahren).Nicht eingerechnet sind dabei Kinder, die in sonderpädagogischen Beratungsstellen betreut werden. Ihre Zahl liegt allein in Baden-Württemberg, dem Bundesland, in dem diese Beratungsstellen einen flächendeckenden Versorgungsauftrag für Kinder mit allen Formen von Behinderungen haben, nochmals bei über 40.000.

Die Finanzierung von Frühförderleistungen ist unterschiedlich geregelt. Personal- und Sachkosten sonderpädagogischer Beratungsstellen und überregionaler Frühförderstellen für Kinder mit Seh- oder Hörschädigung werden in vielen Bundesländern von den Kultusministerien getragen. Die Zuständigkeit und Kostenverteilung für Leistungen in Interdisziplinären Frühförderstellen wurden im Jahre 2001 durch die „Verordnung zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder“ (FrühV) im Grundsatz vom Bundesgesetzgeber geregelt. Die Leistungen der medizinischen Rehabilitation (§ 5 FrühV) werden von der Krankenkasse, heilpädagogische Leistungen (§ 6 FrühV) von der Sozial- bzw. Jugendhilfe (je nach Behinderungsart) übernommen. Allerdings wurden wichtige Aspekte wie die Regelungen zur Ermittlung von Leistungsentgelten, die Verfahren über die Beantragung von Leistungen, Vereinbarungen über Mindeststandards in der personellen Besetzung sowie die Finanzierung von „Overhead“- (z. B. Verwaltungs- und Koordinations-)Leistungen den Bundesländern überlassen. Die Rahmenvereinbarungen zur Umsetzung der Frühförderverordnung variieren von Bundesland zu Bundesland in erheblichem Maße. Durch die Vergütungsstrukturen werden die Leistungen der Frühförderstellen nicht ausreichend gedeckt, sodass viele Frühfördereinrichtungen unterfinanziert sind (Engel et al. 2012).

1.2 Entwicklung der Konzeption von Hilfen

In der Aufbauphase des Frühfördersystems wurde zunächst davon ausgegangen, dass die Wahrscheinlichkeit, eine Behinderung wesentlich mildern oder einer drohenden Behinderung vorbeugen zu können, umso größer sei, je öfter und je früher ein kleines Kind eine fachliche Förderung oder Behandlung erhält. Da die Ressourcen für eine flächendeckende intensive Versorgung durch Fachleute begrenzt waren, wurden Eltern angeleitet, als Ko-Therapeuten die von den Fachleuten entwickelten Programme zu Hause durchzuführen.

Die Realisierung dieses Konzeptes stieß auf vielfältige Probleme. So zeigte sich, dass viele Eltern angesichts ihrer alltäglichen Belastungen kaum in der Lage waren, zeitliche und persönliche Ressourcen für die Übernahme dieser Ko-Therapeuten-Aufgabe zu mobilisieren. Zudem erlebten sie den Konflikt zwischen dieser Rolle und ihren primären Aufgaben als Eltern häufig als belastend. Langzeitstudien zum Verlauf der Entwicklung von Kindern mit bestehender oder drohender Behinderung belegten zudem, dass der Entwicklungsverlauf weniger von systematischen Förderprogrammen abhängt als von einer förderlichen Beziehung und Interaktion zwischen Kind und Eltern (Shonkoff et al. 1992; Hauser-Cram et al. 2001). Entwicklungsförderung gelingt, wenn die erwachsenen Bezugspersonen ihre Beziehung zum Kind so gestalten, dass seine Eigenaktivität in der Auseinandersetzung mit der Umwelt angeregt wird und es – vor allem im gemeinsamen Spiel – Impulse erhält, die Entwicklungsfortschritte in der „Zone der nächsten Entwicklung“ selbst anzustoßen (Weiß 2005; Sarimski 2009).

Diese veränderte Sichtweise führte dazu, dass elterliche Bedürfnisse, Sorgen und Nöte stärker in den Blick der Fachleute gerieten. Das bedeutete, die Maßnahmen der Frühförderung nicht mehr allein auf die unmittelbare Förderung des Kindes, sondern auf die Unterstützung der Gesamtfamilie in ihrem sozialen Umfeld auszurichten. Der Begriff des „Empowerment“, der seit den 1990er Jahren in der Fachdiskussion sowohl im Bereich der Pädagogik für Menschen mit Behinderung als auch der Gesundheitspsychologie einen immer höheren Stellenwert erlangte, wurde zur handlungsleitenden Idee. Danach gilt es, Eltern entwicklungsgefährdeter Kinder anzuleiten, wie sie sich der eigenen Lebenssituation wieder „bemächtigen“ können. Familienorientierung, Lebensweltbezug und Netzwerkförderung wurden damit zu zentralen Aspekten der Konzeption (Weiß 2005).

Dass die Kooperation mit den Eltern ein integraler Bestandteil der Frühförderung ist, ist kein neuer Gedanke (Thurmair/Naggl 2010). Die Wirksamkeit der Frühförderung ist in hohem Maße davon abhängig, inwieweit es gelingt, die Eltern mit ins Boot zu holen und deren entwicklungsförderliche Ressourcen zu aktivieren und zu stärken. Dazu bedarf es einer Haltung, die die...

Erscheint lt. Verlag 12.7.2021
Reihe/Serie Beiträge zur Frühförderung interdisziplinär
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Sozialwissenschaften Pädagogik Sonder-, Heil- und Förderpädagogik
Schlagworte Behinderung • Eltern • Erstgespräch • Familie • Frühförderung • Hausbesuch • Inklusion • Interdisziplinär • Kinder • Kita • Praxis • Ressourcen
ISBN-10 3-497-61499-8 / 3497614998
ISBN-13 978-3-497-61499-8 / 9783497614998
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