Screening in der Physiotherapie (eBook)
Thieme (Verlag)
978-3-13-243754-8 (ISBN)
1 Allgemeines zum physiotherapeutischen Screening
1.1 Physiotherapeutischer Erstkontakt in Deutschland
Der Weltverband der Physiotherapeuten (WCPT) definiert in seinem Policy Statement die Rolle der Physiotherapie (www.wcpt.org, 2007). Zum Erstkontakt findet sich dort der folgende Satz:
Nature and extend of physiotherapy:
„Physiotherapists are able to act as first contact practitioners and patients may seek direct care without referral from any other health professional“
In Deutschland besteht seit 2009 lediglich über den sektionalen Heilpaktiker für Physiotherapie eine Erstkontaktmöglichkeit:
„Die Heilpraktikererlaubnis kann auf die Ausübung der Physiotherapie beschränkt werden. Ein ausgebildeter Physiotherapeut muss sich zur Erlangung einer solchen Erlaubnis einer eingeschränkten Überprüfung seiner Kenntnisse und Fähigkeiten unterziehen.“ (BVerwG 3 C 19.08 Bayer. VG Ansbach – 08.09.2008 – AZ: VG AN 9 K 07.03319)
Die Überprüfung erfolgt durch die Gesundheitsämter der jeweiligen Bundesländer, darf keine Inhalte des physiotherapeutischen Staatsexamens beinhalten und dient der Gefahrenabwendung, d.h. die Prüfungskommission muss sicher sein, dass bei der Zulassung der betreffenden Person als Heilpraktiker für Physiotherapie keine Gefahr für Patienten entsteht. Um dies sicherzustellen, wurden von den Gesundheitsämtern der einzelnen Bundesländer Themenbereiche definiert, die in der Prüfung abgefragt werden können. Einige Bundesländer erlauben auch eine Zulassung „nach Aktenlage“ unter der Voraussetzung, dass ein entsprechender Screeningkurs belegt wurde. Unabhängig von einer ärztlichen Verordnung untersuchen und behandeln zu können, ist ein wichtiger Schritt für die Professionalisierung der Physiotherapie, für das Selbstverständnis des Berufes und für die Wahrnehmung der Physiotherapie in der Gesellschaft. Die Eigenständigkeit bringt aber auch eine neue Verantwortung für die sichere Versorgung der Patienten mit sich. Ernsthafte Pathologien müssen frühzeitig erkannt werden und eine unmittelbare ärztliche Versorgung muss gewährleistet sein. Das erfordert ein zuverlässiges Screening-Prozedere mit fundierten Differenzialdiagnostik-Kenntnissen und schriftliche sowie verbale Kommunikationsstrategien, die dazu führen, tatsächlich gehört und ernst genommen zu werden. Die Physiotherapie wird so zu einem gleichberechtigten Partner in der Gesundheitsversorgung, in deren Zentrum das Wohlergehen des Patienten steht. In vielen Ländern ist der physiotherapeutische Erstkontakt seit Jahren etabliert.
Aus international erhobenen Daten lassen sich Antworten auf einige der oft gestellten Fragen finden, z.B. auf die Frage nach der Sicherheit: Daten hierzu liefert eine Studie, die Erstkontakt-Physiotherapie innerhalb des US-Militärs untersuchte. Von über 470000 untersuchten Fällen gab es keine berichtete Gefahrensituation oder negative Konsequenz für Soldaten, die den Erstkontakt in Anspruch genommen haben [ ▶ [26]].
Auch der Sorge, dass Patienten in Folge des Erstkontaktes deutlich mehr Behandlungen beanspruchen und somit eine Explosion der Behandlungskosten zu erwarten ist, kann anhand der vorhandenen Daten entgegengewirkt werden: Die Anzahl der erforderlichen Behandlungen pro Episode ist im Erstkontakt international deutlich geringer als im Arzt-Überweisungssystem, die Kosten sind geringer und das Behandlungsziel wird häufiger erreicht. Einige Beispiele für internationale Publikationen finden sich in ▶ Tab. 1.1 :
Tab. 1.1 Veröffentlichungen zur Auswertung von Kosten im Erstkontakt Autor; Jahr; untersuchte Fälle; Land | Faktoren | Erstkontakt | Überweisungssystem |
[ ▶ [25]]; n >600 Datensätze; USA | Anzahl der Behandlungen, Kosten | 7,6 USD 1004 | 12,2 USD 2236 |
[ ▶ [19]]; Daten aus 43 Praxen; n = ca.10000 Patienten; Niederlande | Behandlungsziel erreicht, Anzahl der Behandlungen | 72,6% 8,1 | 63,3% 10,5 |
[ ▶ [11]]; n = 3010; Schottland | Kosten einer Episode | GBP 66,31 | GBP 88,99 |
[ ▶ [29]]; n = 62000; USA | Anzahl der Behandlungen | 5,9 | 7,0 |
Vorteile des Erstkontakts
Der direkte Zugang zu Gesundheitsberufen ist ein wichtiger Aspekt für die Patientenzufriedenheit und somit für die Qualität eines Gesundheitssystems [ ▶ [16]]. Insgesamt zeigen alle Veröffentlichungen eine positive Bilanz für ein System, das kostensparend, sicher und effizient ist und zu einer hohen Patientenzufriedenheit führt.
1.2 Screening der Organsysteme
1.2.1 Erstkontaktsituationen im physiotherapeutischen Alltag
Erstkontakte und erstkontaktähnliche Situationen, in denen ein physiotherapeutisches Screening erforderlich ist, finden im Therapiealltag der meisten Physiotherapeuten (unabhängig von der Heilpraktiker-Zulassung) statt. Ein typisches Beispiel ist eine Verordnung mit einer unspezifischen Diagnose, z.B. „LWS-Syndrom“. Auch zusätzliche Symptombereiche, die ein Patient während einer Behandlung berichtet, für die aber keine Verordnung besteht, sind solche Situationen. Das Screening umfasst hier eine Abgrenzung, ob der neue Symptombereich zu der bekannten (und behandelten) Pathologie gehört, also unter der bestehenden Verordnung mitbehandelt werden darf, oder ob es sich um eine zusätzliche Pathologie handelt, für die eine weitere Verordnung notwendig ist. Auch außerhalb des Praxisalltags sind Screeningkenntnisse und die daraus resultierende Entscheidung „Arztbesuch oder kein Arztbesuch“ gefragt, z.B. wenn Familie oder Freunde um Rat fragen oder wenn beim Sport eine (eigene oder fremde) Verletzung auftritt. Beispiele für solche Situationen sind in ▶ Abb. 1.1 dargestellt, es sind aber noch viele weitere Situationen denkbar.
Abb. 1.1 Erstkontakte/erstkontaktähnliche Situationen, die Screeningkenntnisse erfordern.
Ein bewusster Umgang mit diesen Situationen ist grundlegend für ein umfassendes physiotherapeutische Arbeiten. Auch wenn eine Behandlung im Rahmen einer ärztlichen Verordnung erfolgt, besteht eine Verantwortung für Physiotherapeuten (z.B. eine zügige ärztliche Kontrolle einzuleiten), da sie nicht selten die ersten medizinisch geschulten Personen sind, denen ein neu aufgetretenes Symptom berichtet wird. In der Situation des Erstkontakts ist diese Verantwortung präsenter und ein klares Prozedere mit einem sofortigen eindeutigen Ergebnis erforderlich.
1.2.2 Ergebnisse des Screenings
Wörtlich übersetzt bedeutet das englische Wort Screening: Aussieben, Sichten, Trennen, Auswahlprüfverfahren. Das trifft genau das Kernziel: Im Erstkontakt soll die Kompetenz einer effizienten, sicheren, evidenzbasierten Auswahl von physiotherapeutisch beeinflussbaren Symptomen vermittelt werden. Oder umgekehrt: Diejenigen Symptome sollen herausgefiltert werden, die einer ernsthaften Pathologie zugeordnet und somit medizinisch diagnostiziert und behandelt werden müssen.
Alle verfügbaren Informationsquellen (Fragebögen, Anamnese, körperliche Untersuchung, vorhandene Laborergebnisse oder Bildgebung) müssen ausgeschöpft werden, und ein breites Denken mit mehreren parallelen Hypothesen („Lateral Thinking“ [ ▶ [20]; ▶ [17]; ▶ [10]]) bestimmt das therapeutische Denken und Entscheiden („Clincal Reasoning“ [ ▶ [7]; ▶...
Erscheint lt. Verlag | 7.10.2020 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Gesundheitsfachberufe |
Schlagworte | Flaggensystem • Pathologien • Physiotherapeutische Untersuchung • Physiotherapie • Screening-Prozedere • Screeningverfahren • Warnsignale |
ISBN-10 | 3-13-243754-9 / 3132437549 |
ISBN-13 | 978-3-13-243754-8 / 9783132437548 |
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