Fallbuch Neurologie (eBook)

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2020 | 5. unveränderte Auflage
Thieme (Verlag)
978-3-13-220023-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Fallbuch Neurologie - Roland Gerlach, Andreas Bickel
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<p><strong>Die Neurologie in 100 Fällen.</strong></p> <p>Schluss mit der Theorie – her mit echten Krankheitsgeschichten. Denn reines Lehrbuchwissen reicht für eine Prüfung meist nicht aus. Gefragt sind ein fall- und problemorientiertes Vorgehen. Das trainierst du mit dem Fallbuch und gehst so gut vorbereitet in die Prüfung oder ans Krankenbett.</p> <ul> <li>typische Fallbeschreibungen mit mehreren Fragen wie in der Prüfung oder im 'Ernstfall'</li> <li>ausführlicher Lösungsteil mit Kommentaren zu den einzelnen Fällen und den wichtigsten Fakten zu allen Krankheitsbildern</li> <li>aktiv Lernen - allein oder in der Lerngruppe</li> </ul> <p>Jederzeit zugreifen: Der Inhalt des Buches steht dir ohne weitere Kosten digital in unserem Lernportal via medici und in der Wissensplattform eRef zur Verfügung (Zugangscode im Buch). Mit der kostenlosen eRef App hast du zahlreiche Inhalte auch offline immer griffbereit.</p>

1 32-jährige Patientin mit weiteren Schüben einer seit 3 Jahren bekannten Multiplen Sklerose


Eine 32-jährige Patientin stellt sich in Ihrer Sprechstunde vor. Vor etwa 3 Jahren wurde eine Multiple Sklerose diagnostiziert. Unter einer Basistherapie mit Interferonen (Interferon Beta-1a i. m. 1 x/Monat), welche nach dem primären Schubereignis begonnen wurde, kam es zwischenzeitlich zu 4 weiteren Schüben. Die Patientin fragt Sie gezielt nach der Möglichkeit einer Umstellung der Schubprophylaxe.

1.1 Halten Sie den Wunsch der Patientin für gerechtfertigt? Von welchen Kriterien lassen Sie sich bei Ihrer Entscheidung leiten?


Sollte es unter der genannten Therapie tatsächlich zu 4 Schüben gekommen sein, ist der Wunsch sicher gerechtfertigt und ein Umsetzen geboten! Grundlage der Entscheidung ist das sog. NEDA-Konzept (= No Evidence of Disease Activity). In den Kategorien Schubfrequenz, Progression und MRT-Veränderungen soll keine Verschlechterung unter der MS-Schubprophylaxe auftreten. Dieses ehrgeizige Konzept ist naturgemäß nicht immer komplett umzusetzen, aber als ideales Therapieziel zu sehen. Folgendes ist zu tun bzw. zu erfragen:

  • Wie waren die Symptome der 4 Schübe, welche neurologischen „Systeme“ (z. B. Sensibilitätsstörung, Blasenstörung, Lähmungen, zerebelläre Probleme etc.) waren betroffen, kam es zu einer vollständigen Rückbildung oder bestehen Residuen? Eine Plausibilitätsprüfung muss immer erfolgen: Nicht jedes „Kribbeln“ ist gleich ein „Schub“ („Schub“ bedeutet neues oder reaktiviertes neurologisches Defizit über mindestens 24 h Dauer; letztes Schubereignis muss mindestens 30 Tage zurückliegen! Ausschluss anderer Symptomursachen wie z. B. eines CTS bei Kribbelparästhesien in den Fingern).

  • Die Frage nach der Regelmäßigkeit der Interferon-Applikation und nach möglichen Nebenwirkungen der Therapie.

  • Durchführung eines kompletten neurologischen Befundes inklusive Bestimmung der Expanded Disability Status Scale (EDSS, s. ▶ Tab. 103.1 ), evtl. weitere Testverfahren wie MSFC (MS Functional Composite Scale) zur Abschätzung bzw. Bestimmung der Krankheitsprogression; evtl. neurophysiologische Untersuchungen mit Vergleich der Vorbefunde (SEP, AEP, MEP, VEP).

  • Durchsicht älterer MRT-Aufnahmen von Gehirn, HWS sowie BWS und Vergleich mit aktuellen Aufnahmen.

Die Patientin schildert glaubhaft plausible Schubsymptome in mehreren funktionellen Bereichen, Interferon habe sie wie angegeben monatlich vom Neurologen appliziert bekommen. Vom letzten Ereignis habe sie ein leichtes Zittern der Hände zurückbehalten, das sich in Ihrer Untersuchung als zerebellärer Tremor darstellt, das Gehen habe sich verschlechtert. Die EP-Untersuchungen zeigen sich unverändert zu den Vorbefunden vor 3 Jahren, im cMRT Nachweis von insgesamt 8 neuen T2-Läsionen (initial 3), keine Gadolinium-positiven Herde. Der EDSS nach dem 1. Schub betrug 1,0, nach Ihrer Untersuchung aktuell 3,5.

1.2 Welche Maßnahmen stehen zur Schubprophylaxe bei schubförmiger MS (RRMS) generell zur Verfügung? Gliedern Sie nach der „Wirkstärke“ und geben Sie die Applikationsform an!


  • Milde/Moderate Verläufe: Schubratenreduktion um 30 %; Interferon Beta 1a s. c. und i. m.; Interferon Beta 1b s. c.; pegyliertes Interferon Beta 1a s. c.; Glatirameracetat (= CoPolymer 1) s. c.; Teriflunomid oral

  • Moderate bis schwere Verläufe: Schubratenreduktion um 50 %; Dimethylfumarat oral; Fingolimod oral; Daclizumab s. c.

  • Schwere bis hochaktive Verläufe: Schubratenreduktion um 60–80 %; Natalizumab per inf.; Alemtuzumab per inf.

  • Reservemittel bei hochaktiven Verläufen: Mitoxantron per inf.; Cyclophosphamid per inf.; experimentelle Verfahren im Rahmen von Studien

  • Geringe Bedeutung bei eher schlechter Evidenzlage bei milden/moderaten Verläufen haben Azathioprin und IVIG (Letztere allenfalls noch bei einem Schub in der Schwangerschaft oder Stillzeit).

1.3 Welche der genannten Substanzen kämen für Sie in diesem konkreten Fall in die engere Auswahl? Begründen Sie!


Da es unter regelmäßiger Applikation eines Interferonpräparates zu 4 weiteren Schüben, Verschlechterung mit bleibenden Symptomen und neuen MRT-Herden gekommen ist, muss unbedingt ein Medikament mit höherer Wirkstärke angeboten werden.

In Frage kommen zunächst Dimethylfumarat, Fingolimod, Daclizumab, Natalizumab und Alemtuzumab. Aufgrund der relativ hohen lesion load im MRT und relativ rascher Verschlechterung im EDSS sind Natalizumab und Alemtuzumab zu bevorzugen (benigne MS = EDSS < 3 nach 15-jährigem Verlauf!).

1.4 Sie empfehlen auch nichtmedikamentöse und ggf. weitere medikamentöse Maßnahmen. Welche könnten dies in diesem Fall sein?


  • Physiotherapie und Ergotherapie: regelmäßig bei zerebellärem Tremor und Gangstörung.

  • Medikamentös: Bei störendem Tremor kann z. B. Dociton eingesetzt werden.

  • Vitamin-D-Supplementation: bei laborchemischem Vitamin-D-Mangel (Spiegel < 30 ng/ml); es gibt eine gewisse Evidenz eines protektiven Effekts hohem Vitamin-D-Spiegel.

  • Rauchen: Ein nicht zu unterschätzender Risikofaktor für die Progredienz der MS und die Letalität ist das Rauchen (schnellere sekundäre Progredienz, schneller kognitiver Abbau, verkürzte Lebenserwartung). Es ist unbedingt einzustellen; ggf. Raucherentwöhnung durchführen lassen. Cannabis hat nur geringe antispastische Effekte, geraucht führt es nach ca. 1 Jahr zu messbaren signifikanten kognitiven Einbußen.

  • Wichtig: Blasenstörungen, mögliche Depressionen oder eine Fatigue-Problematik sind vielen Patienten peinlich und werden daher oft nicht erwähnt. Fragen Sie explizit danach und leiten Sie ggf. eine entsprechende Behandlung ein (s. Fall ▶ 26-Jährige mit unklaren Missempfindungen und Sehstörung des linken Auges [Multiple Sklerose]).

Sie entscheiden sich für Natalizumab (Tysabri®) 1 x/Monat als Infusion.

1.5 Welche wichtige potenzielle Nebenwirkung müssen Sie kennen und die Patientin darüber schriftlich aufklären?


Bei Natalizumab handelt es sich um eine allgemein sehr gut verträgliche Substanz. In seltenen Fällen kannes zum Auftreten einer PML (Progressive multifokale Leukenzephalopathie; Stand 2016: ca. 700 Fälle bei mehr als 160.000 Patienten; Neufälle ca. 100/a) durch Reaktivierung des JC-Virus im Gehirn kommen (Erwachsenendurchseuchung > 90 %). PML ist potenziell tödlich, das Risiko ihres Auftretens steigt mit positivem AK-Status im Serum. Mit zunehmender Behandlungsdauer kommt es dabei zur Serumkonversion (v. a. ab einer Behandlungsdauer > 2 Jahre), auch steigt das Risiko nach einer vorherigen immunsuppressiven Behandlung (z. B. mit Mitoxantron oder nach onkologischer Chemotherapie). Es empfiehlt sich daher der primäre Einsatz von Natalizumab erst nach Bestimmung der JCV-AK. Im positiven Fall ist die Natalizumab-Gabe zwar möglich, aber sorgfältig abzuwägen. Das Risiko einer PML bei negativen JCV-AK liegt bei < 1 : 10.000. Eine genauere Risikostratifizierung bei positivem JCV-AK-Status ist mittels JCV-AK-Index möglich (hohes PML-Risiko bei Werten > 0,9), evtl. auch durch das Adhäsionsmolekül L-Selectin (ein Abfall im Blut signalisiert ein erhöhtes PML-Risiko).

1.6 Kommentar


Definition und Einsatz: Die Schubprophylaxe stellt ein eigenes, komplexes Thema in der MS-Behandlung dar. Fast jedes Jahr werden neue Substanzen zugelassen, die allerdings neben unterschiedlichen Applikationsformen, Dosen und Dosisintervallen durchaus unterschiedliche Wirkstärken, Nebenwirkungsraten und Kosten haben. All dies ist bei der Auswahl des Präparates zu berücksichtigen.

Eine Rezidivprophylaxe sollte spätestens nach dem 2. Schub oder bei Nachweis einer Progression der Krankheitsaktivität im MRT begonnen werden. Bereits nach dem 1. Schub oder bei KIS kann und soll eine Rezidivprophylaxe gegeben werden, wenn Kriterien einer hohen Rezidivwahrscheinlichkeit vorliegen (s. a. Frage 67.5). Die Auswahl des Präparats zur Schubprophylaxe ist stark von der Verlaufsform und Krankheitsaktivität der MS abhängig.

Basistherapie: Zur Prophylaxe der schubförmigen MS (RRMS) stehen als Basistherapie die Interferon-Präparate Interferon-β-1a zur i. m.-Applikation (Avonex®), Interferon-β-1a zur s. c.-Applikation (Rebif®), Interferon-β-1b (Betaferon®,...

Erscheint lt. Verlag 7.10.2020
Reihe/Serie Fallbuch
Fallbuch
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Neurologie
Medizin / Pharmazie Studium
Schlagworte Facharztprüfung Neurologie • Krampfanfälle • Medizinisches Examen • Medizinstudium • Multiple Sklerose • Nervenkrankheiten • Neurodenerative Erkrankungen • Neurologische Erkrankungen • Prüfungsfragen • Traumatologie • Tumoren • Vaskuläre Syndrome • Zentralnervensystem • ZNS
ISBN-10 3-13-220023-9 / 3132200239
ISBN-13 978-3-13-220023-4 / 9783132200234
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