Lernfall Aggression 1 (eBook)

Wie sie entsteht - wie sie zu vermindern ist - Eine Einführung
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2010 | 1. Auflage
336 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-40161-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lernfall Aggression 1 -  Hans-Peter Nolting
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Seit Jahrzehnten eine bewährte Einführung in die Aggressionspsychologie: Anders als die meisten Bücher zum Thema, die sich vorwiegend mit den Formen und Ursachen menschlicher Aggression befassen, widmet sich das vorliegende Grundlagenwerk im gleichen Maße den Möglichkeiten der Aggressionsverminderung. Hans-Peter Nolting bietet eine wissenschaftliche Orientierung in verständlicher Sprache. Die vorliegende Ausgabe wurde vollständig überarbeitet und neu gestaltet.

Dr. Hans-Peter Nolting beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Themenkreis Aggression und Gewalt, viele Jahre davon als Psychologie-Dozent an der Universität Göttingen. Er hat verschiedene Sachbücher publiziert, darunter das Standardwerk «Lernfall Aggression», das bei rororo inzwischen in der 50. Auflage lieferbar ist. Das vorliegende Buch setzt andere inhaltliche Schwerpunkte und greift Forschungen aus jüngster zeit auf.

Dr. Hans-Peter Nolting beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Themenkreis Aggression und Gewalt, viele Jahre davon als Psychologie-Dozent an der Universität Göttingen. Er hat verschiedene Sachbücher publiziert, darunter das Standardwerk «Lernfall Aggression», das bei rororo inzwischen in der 50. Auflage lieferbar ist. Das vorliegende Buch setzt andere inhaltliche Schwerpunkte und greift Forschungen aus jüngster zeit auf.

1.1 Wirrwarr im Sprachgebrauch – Klarstellungen


Unter Aggression kann sich jeder etwas vorstellen. Die Frage ist nur: Stellen sich alle dasselbe vor? Folgende Äußerungen habe ich so oder ähnlich alle schon gehört und hier zu einer fiktiven Gesprächsrunde komprimiert. Verwenden die beteiligten Personen das Wort Aggression für dieselben Sachverhalte?

A: «Was für eine unglaubliche Aggression, einen Mitschüler so zu malträtieren» – Aggression als absichtliches Verletzen

B: «Aggressiv sind doch alle Menschen irgendwie. Schon kleine Kinder können richtig wütend brüllen oder aufstampfen» – Aggression als erregtes, wildes Verhalten

C: «Jeder Mensch muss ja auf die eine oder andere Weise seine Aggressionen rauslassen» – Aggression(en) als innere Impulse oder Emotionen

D: «Aggression würde ich nicht nur negativ sehen. Bei manchen Menschen äußert sie sich in gesundem Ehrgeiz oder gesunder Durchsetzung» – Aggression als aktives, offensives Verhalten oder als entsprechende Energie dafür

Der faktische Sprachgebrauch ist keineswegs einheitlich, und ohne eine begriffliche Verständigung redet man leicht aneinander vorbei. Dabei zeigen die vier Beispiele nicht einmal die ganze Vielfalt des subjektiven Begriffsverständnisses. So denken manche Menschen nur an «massives» Verhalten wie körperliche Gewalt, Beschimpfungen und Zerstörungen, andere denken hingegen auch an subtile Formen wie Missachtung oder Ausgrenzung. Für manche gehört zur Aggression eine affektive Erregung (Ärger, Wut), während andere gerade eine kühl berechnete Attacke als besonders aggressiv empfinden. Viele Menschen sprechen nur von Aggression, wenn sie die Handlung inakzeptabel finden; selbst Waffengebrauch ist dann keine Aggression, wenn er der Verteidigung dient. Andere sprechen gar schon von «aggressiver» Werbung, «aggressiver» Musik und dergleichen.

Trotz dieser Unterschiede scheint es jedoch auch einen gemeinsamen Kern im Aggressionsverständnis der meisten Menschen zu geben. Er umfasst drei Merkmale: (1) Schaden, (2) Intention und (3) Normabweichung (Mummendey et al. 1982). Vorfälle wie die Malträtierung des Mitschülers würde also jeder als Aggression bezeichnen, auch wenn das Begriffsverständnis in anderen Punkten differieren sollte. Die ersten beiden Bestimmungsmerkmale, Schaden und Intention, sind auch typisch für Definitionen in der Psychologie, das dritte, die Normabweichung, hingegen ist es nicht (hierzu S. 24).

 

«Schädigen» – «Wehtun»

Auch die Wissenschaft kann nicht sagen, was Aggression ist, sondern nur, welche Sachverhalte unter diesem Wort zusammenfasst werden sollten, um sie von anderen Sachverhalten sinnvoll abzugrenzen und eine klare Verständigung zu erleichtern.

Typische Definitionen in der Psychologie bestimmen Aggression im Kern als ein auf Schädigung gerichtetes Verhalten (nicht als Emotion), auch wenn sie sich im Detail unterscheiden. Beispiele: «Aggression umfasst jene Verhaltensweisen, mit denen die direkte oder indirekte Schädigung eines Individuum, meist eines Artgenossen, intendiert wird» (Merz 1965, S. 571). Oder «Aggression besteht in einem gegen den Organismus oder ein Organismussurrogat gerichteten Austeilen schädigender Reize» (Selg et al. 1997, S. 14). In beiden Definitionen steckt das Wort «schädigen», in anderen ist stattdessen von «verletzen» die Rede. Fürntratt (1974, S. 283) nennt Verhaltensweisen, die andere zielgerichtet «in Angst versetzen», ebenfalls aggressiv und spricht damit eine psychische Beeinträchtigung an. Da psychische Wirkungen mit dem Wort «schädigen» nicht so gut ausgedrückt werden, spreche ich auch von «wehtun». Man zeigt z. B. jemandem die «kalte Schulter», um ihm wehzutun, nicht eigentlich zu schädigen (s. Tafel 1).

Das Spektrum der Verhaltensweisen, die nach Definitionen dieser Art aggressiv zu nennen wären, ist potenziell riesengroß. (Der nächste Kapitelabschnitt wird sie systematisieren.) Zugleich bleiben Verhaltensweisen aber ausgeschlossen, die zu einem sehr weiten Aggressionsbegriff gehören, nämlich alle möglichen Formen des «In-Angriff-Nehmens» und des offensiven Handelns: selbstbewusstes Auftreten, Wetteifern, ehrgeiziges Arbeiten, zupackendes Helfen usw. – also Handlungen, die mit Schädigen oder Wehtun wenig zu tun haben, ja teilweise mit dem Gegenteil. Ein solch weites, unspezifisches Aggressionsverständnis wurde zwar auch von einigen Autoren vertreten (z. B. Mitscherlich 1969, Hacker 1971), hat sich in der Psychologie aber nicht durchgesetzt – und zwar aus gutem Grund: In der weiten Fassung ist der Begriff «Aggression» unbrauchbar und überflüssig, denn er meint im Kern dasselbe wie «Aktivität». Tatkraft und Destruktion werden in einen Topf geworfen, und man kann sich verhalten, wie man will, man ist praktisch immer aggressiv. Bei einer solchen Definition bleibt mithin reichlich verschwommen, welche Phänomene man eigentlich erklären oder auch vermindern möchte.

 

Tafel 1: Aggression und einige verwandte Begriffe

  • Aggression: Verhalten, das darauf gerichtet ist, andere Individuen zu schädigen oder ihnen wehzutun

  • Aggressivität: Individuelle Ausprägung der Häufigkeit und Intensität aggressiven Verhaltens («Eigenschaft» einer Person)

  • Gewalt: Schwerwiegende Formen aggressiven Verhaltens

  • Mobbing: Aggressive Handlungen gegen eine schwächere Person über einen längeren Zeitraum (gewöhnlich im Kontext des Arbeitsplatzes)

Neben der Aggression gibt es noch den Begriff der Aggressivität. Auch hier ist der Sprachgebrauch nicht ganz einheitlich. In der Psychologie meint er meistens die individuelle Disposition zu aggressivem Verhalten, die Ausprägung dieser «Eigenschaft», die sich in der Häufigkeit und Intensität aggressiven Verhaltens manifestiert («Karl ist aggressiver als Franz»).

Als Gewalt werden gewöhnlich nur schwerwiegende Formen der Aggression bezeichnet, leichtere hingegen nicht (z. B. Anschnauzen, böse Blicke). Üblich ist es, körperliche Angriffe als Gewalt zu bezeichnen, doch zunehmend ist in der Alltagssprache und manchen Publikationen auch von «verbaler Gewalt» oder «psychischer Gewalt» die Rede. Das macht einen gewissen Sinn, solange man damit auf eine «schwerwiegende» Wirkung hinweisen möchte (z. B. bei einer seelischen Misshandlung). Nicht für sinnvoll halte ich es aber, alles als Gewalt zu bezeichnen, was man heftig verurteilt. Das führt zu einem inflationären Gebrauch und erleichtert nicht gerade die Verständigung über die Sache. (Zu Aggression und Gewalt als Werturteil s. S. 24 ff.).

Während Gewalt nach dieser Eingrenzung ein engerer Begriff ist als Aggression, gibt es noch den oft zitierten Begriff der «strukturellen» oder «indirekten» Gewalt (Galtung 1975). Er meint die «stille» Schädigung durch ein ungerechtes Gesellschaftssystem: Menschen gehen zugrunde, weil ihnen der Zugang zu Nahrung, zu medizinischer Versorgung etc. versperrt ist. Da hier die Schädigung nicht direkt durch verletzendes Handeln herbeigeführt wird (wiewohl es «Verantwortliche» geben kann), sollte die strukturelle Gewalt nicht zur Aggression gerechnet werden.

Eine spezielle Variante aggressiven Verhaltens ist das Mobbing. Der Begriff ist mittlerweile auch einer breiten Öffentlichkeit geläufig und meint Handlungen, die sich wiederholt und über einen längeren Zeitraum gegen eine bestimmte Person richten, wobei die «Mobber» dem Opfer an Macht überlegen sind (vgl. Esser 2003). Ursprünglich waren nur kollektive Handlungen mehrerer Personen gemeint («Mob»), inzwischen hat sich die Bedeutung ausgeweitet. Von Mobbing spricht man vor allem in der Arbeitswelt, aber auch hier gibt es inzwischen eine Ausweitung auf andere Lebensbereiche, z. B. die Schule. In der psychologischen Fachliteratur wird für den Bereich der Schule gewöhnlich der Begriff des Bullying bevorzugt (z. B. Scheithauer et al. 2003); er hat aber eine...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2010
Reihe/Serie Lernfall Aggression
Lernfall Aggression
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Sozialpsychologie
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Aggressionspsychologie • Aggressivität • Basiswissen • Experimente • Frustration • Genetik • Grundlagenwerk • Interaktion • Standardwerk • Vermeidung von Aggression
ISBN-10 3-644-40161-6 / 3644401616
ISBN-13 978-3-644-40161-7 / 9783644401617
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