Droht das Ende der Experten? (eBook)
224 Seiten
Vahlen (Verlag)
978-3-8006-7241-7 (ISBN)
Am 30. November 2022 stellt das Unternehmen OpenAI einen Chatbot namens ChatGPT vor. Er könnte als der 'iPhone-Moment' in die KI-Geschichte eingehen. Denn ChatGPT tut Dinge, die bisher undenkbar erschienen. Ohne Vorbereitung. Ohne Programmierung. Ohne Training.
ChatGPT erledigt komplexe Wissensarbeiten in Sekunden, für die Menschen bisher Stunden oder Tage benötigten. Viele Experimente der Benutzer geben einen Vorgeschmack auf das Portfolio der Anwendungen: Marketingtexte, Titelvorschläge für Bücher, Excel-Code, Lexikonerklärungen, Blog- und Zeitungsartikel, Filmskripte, Gedichte, Haikus, Lieder, Gebrauchsanleitungen, Geschenkideen, Rezeptvorschläge, Fragebögen-Design oder Umfragen, Coaching und Lebensberatung. ChatGPT scheint so etwas zu sein wie eine Art 'Schweizer Messer der KI'.
Es scheint der Zeitpunkt gekommen, dass Wissensarbeit in ähnlicher Weise umgekrempelt wird, wie die Elektrizität den Weg für die Massenproduktion ebnete. Wissensarbeit wandelt sich von der Manufaktur- zur Fabrikarbeit. Deshalb überschlagen sich seit dem denkwürdigen Tag im November 2022 die Ereignisse.
Dieses Buch ist für jeden relevant, der direkt oder indirekt von Wissensarbeit betroffen ist: Entscheider, in deren Organisation Tätigkeiten wie Kundenkontakt, Recherche, Marketing oder Reporting effektiver vonstatten gehen könnten; Journalisten, Autoren und Texter, die schneller texten oder die Qualität der Texte erhöhen wollen; Finanz- und Versicherungsberater oder andere Experten mit Nischenwissen, weil sehr viele Fragen inkl. Vorschlägen und Empfehlungen vollständig durch Maschinen übernommen werden ... Alle werden die Frage stellen, inwieweit ChatGPT bzw. GAI (Generative Artificial Intelligence) ihr heutiges oder zukünftiges Tätigkeitsfeld verändert, ob sie überflüssig werden oder wie sie darauf reagieren können.
Denn ChatGPT bzw. GAI 'demokratisieren' viele Dienstleistungen der Wissensgesellschaft, die heute nur teuer durch das Abschöpfen menschlicher Expertise zu haben ist. Das fließbandartige Erzeugen von Texten, Bildern und Videos für den Alltagsgebrauch wird plötzlich für jeden zu marginalen Kosten möglich. Und bedroht damit ergiebige Einnahmequellen und etablierte Wertschöpfungsketten. Unternehmen und Institutionen werden sich fragen, welche organisationalen Tätigkeiten sich durch GAI effizienter und effektiver gestalten lassen. Die Frage ist nicht, ob diese Herausforderung besteht. Ab sofort geht es nur noch darum, sie nicht rechtzeitig zu bewältigen.
Das Buch hilft, das Konzept von ChatGPT und GAI besser zu verstehen und zu erkennen, welche Praxisrelevanz für das eigene Arbeitsfeld besteht. Die Ideen und Konzepte werden gut veranschaulicht und mit Beispielen unterlegt.
Über den Autor
Stefan Holtel entwickelt seit 2018 als Kurator für digitalen Wandel bei PricewaterhouseCoopers Lehr- und Lernformate zur digitalen Weiterbildung. Er blickt auf mehr als drei Jahrzehnte in der ITK-Branche zurück und war u.a. in der Forschung und Entwicklung bei der Vodafone Group tätig. Stefan Holtel ist Mitglied mehrerer Arbeitskreise im Fachverband BITKOM sowie Lehrbeauftragter an der HAUFE-Akademie, der FOM und am St. Gallen Management-Institut.
13Prolog
Netscape: Triumph und Tragödie eines Internetpioniers
Große Ideen brauchen Menschen, die ihnen zum Durchbruch verhelfen. Für die Vision des Internets spielen zwei eine zentrale Rolle: Im Jahr 1994 trifft Jim Clark auf Marc Andreessen. Der eine ist bereits erfolgreicher Unternehmer und Gründer des Computerunternehmens Silicon Graphics. Der andere arbeitet an der University of Illinois und entwickelt einen Webbrowser. Zusammen gründen sie die Firma Netscape, um den Netscape Navigator zu entwickeln und zu vermarkten. Dieser wird zum führenden Webbrowser der 1990er-Jahre und trägt maßgeblich zum Aufstieg des Internets bei. Netscape stellt den Webbrowser kostenlos zur Verfügung, um viele Menschen für das Internet zu begeistern. Rasch gewinnt der Netscape Navigator – später umbenannt in Mosaic – an Popularität und das Unternehmen erweitert das Produktportfolio. Im Jahr 1995 liegt der Anteil des Netscape-Browsers bei 90 Prozent.7 In der glorreichen Geschichte des Internet gilt Netscape heute als der Erfinder der Browsertechnologie, die der Verbreitung des Internet gegen Ende des letzten Jahrhunderts einen gewaltigen Schub verleiht. Das Internet wird zu einem Phänomen, mit dem sich erstmals Millionen von Menschen beschäftigen.
Aber was ist mit Netscape geschehen? Der Name ist heute nur noch Enthusiasten und Historikern ein Begriff. Beim rasanten Aufstieg des Internets bleibt Netscape auf der Strecke. Denn plötzlich sieht sich das Unternehmen ernsthafter Konkurrenz ausgesetzt: Microsoft schwemmt mit dem Internet Explorer den Markt, weil es ihn geschickt mit dem damals populären Betriebssystem Windows bündelt. Netscape findet keine Antwort auf diesen Vermarktungskniff. Der Marktanteil schrumpft kontinuierlich. AOL übernimmt den Internetpionier, 8 im Jahr 2004 dümpelt der Marktanteil bei fünf Prozent.9
Der Aufstieg und Fall von Netscape wirkt wie das Drehbuch für ein Wirtschaftsdrama, das sich heute wiederholen könnte. Ein anderes Unternehmen – OpenAI – wird im Dezember 2015 als gemeinnützige Organisation gegründet und gilt derzeit als Pionier für eine neue Art digitaler Assistenten.10 Der nennt sich ChatGPT und wird am 30. November 2022 kostenlos zur Verfügung gestellt. Nach fünf Tagen benutzen ihn 14eine Million Menschen, drei Monate später bereits 154 Millionen. Allein im Februar 2023 verzeichnet ChatGPT eine Milliarde Zugriffe.11 Eine Umfrage von WordFinder zeigt, dass ChatGPT in den USA immer beliebter wird.12 Insbesondere die jüngere Generation nutzt es – 60 Prozent regelmäßig. Fast ein Viertel der Beschäftigten nutzt ChatGPT bereits in der Arbeit.
Aber wird OpenAI von diesem Boom profitieren? Oder droht dem Unternehmen ein ähnliches Schicksal wie Netscape in den 1990er-Jahren? Das Magazin Fortune spekuliert bereits: „OpenAI könnte eines Tages feststellen, dass sein Durchbruch, ähnlich wie die kurzlebige Herrschaft des Browsers von Netscape, eine Tür zu einer Zukunft geöffnet hat, zu der es dann nicht mehr gehört.“13
Das erste Jahr des Hypes um ChatGPT zeigt deutliche Parallelen zu Mosaic: OpenAI ist der unbestrittene Vorreiter für ein neues digitales Werkzeug. Es ist kostenlos, bringt einen großen Nutzen, und zog innerhalb weniger Tage und Wochen viele Interessenten an und die mediale Aufmerksamkeit auf sich. Aber auch jetzt erkennt die Konkurrenz die Bedrohung und liefert Antworten. Denn unabhängig vom Erfolg von OpenAI: ChatGPT steht nur pars pro toto für eine neuartige Qualität der Interaktion zwischen Mensch und Maschine, die natürlichsprachliche Interaktion. ChatGPT markiert den Beginn von etwas völlig Neuem. Auch hierfür liefert die Computergeschichte ein Beispiel.
Die unsichtbare Hand des Rechnens
ChatGPT könnte für das Schreiben von Texten ein ähnliches Erdbeben auslösen wie das Erscheinen der Tabellenkalkulation VisiCalc im Jahr 1979 für den Umgang mit Geschäftszahlen.14, 15 Denn VisiCalc verändert die Art und Weise, wie Individuen und Unternehmen damit arbeiten. Vorher kritzeln die Menschen Zahlen auf Papier. Jede Rechenformel wird neu geschrieben. Änderungen an einer Stelle ziehen zwangsläufig an anderer Stelle unzählige Korrekturen und Überprüfungen nach sich. Eine komplexe Analyse geschieht Formel für Formel, Zahl für Zahl. Das ist quälend langweilig. Man benötigt sehr viel Zeit, regelmäßig schleichen sich Fehler ein. Komplexe Kalkulationen dauern so lange, dass sie in vielen Fällen gar nicht den Aufwand rechtfertigen,
VisiCalc ändert alles. Es führt das unbekannte Konzept „Tabellenkalkulation“ ein (Abbildung 1). Auf einen Schlag können Zahlen schnell, genau und flexibel erstellt, bearbeitet und manipuliert werden: Benutzer ändern eine einzelne Zelle – und sehen prompt an vielen anderen Stellen die Auswirkung. Für den Ökonomen Adam Smith steuerte die „unsichtbare Hand“ den Wettbewerb des Marktes – Angebot und Nachfrage synchronisieren sich augenblicklich.16 Mit VisiCalc zieht in die Geschäftswelt die „unsichtbare Hand des Rechnens“ ein.
Viele Menschen verwenden heute Tabellenkalkulation nur als überdimensionierten Taschenrechner. Er addiert lange Zahlenreihen. Aber für alle, die sich das Wesen der Tabellenkalkulation erschlossen haben, hat sich ihre Arbeit dramatisch geändert. In 15nur einer Tabelle verzahnt sich ein komplexer Prozess über eine Reihe mathematischer Operationen: An einer Stelle tippen wir Zahlen in die Gitterstruktur, an einer anderen stehen in derselben Sekunde bereits Resultate. Einmal erstellt, lassen sich mit jedem Modell problemlos Alternativen testen: Was passiert, wenn ich eine dritte Schicht in der Produktion hinzufüge? Was, wenn ich die Rabatte für Vorprodukte drücke? Werden mögliche Gewinne die Kosten decken, wenn ich die Gehälter erhöhe? Vor VisiCalc brauchte man Intuition und Fingerspitzengefühl, um zu erahnen, wo Risiken lauern oder Chancen liegen. Die Tabellenkalkulation liefert unmittelbare Antworten. Man probiert einfach alles aus.
Diese unfassbare Flexibilität und Geschwindigkeit bedeuteten den Durchbruch für Effektivität und Effizienz. Einige schätzen, dass die Produktivität um wenige Prozent gesteigert wurde,17 andere spekulieren sogar auf einen Faktor 80 (sic!).18 Aber VisiCalc hat noch weitreichendere Konsequenzen.
Abbildung 1: Bildschirmausschnitt von VisiCalc auf einem Apple II Computer
Als um etwa dieselbe Zeit wie VisiCalc der Personalcomputer erscheint, betrachten ihn Experten als Spielzeug für Enthusiasten und Hobbyisten. Ausgestattet mit einer Tabellenkalkulation wird er aber zu einem leistungsstarken Werkzeug für jede Art von Zahlenarbeit. VisiCalc gilt als trojanisches Pferd, das dem Personalcomputer das Tor in die Geschäftswelt öffnete.19 Es entsteht der neue Markt von Software für Geschäftszwecke. Das Zeitalter der Personalcomputer beginnt. Die Tabellenkalkulation begründet eine Softwareindustrie, die über Produkte und Dienste für Großrechner hinausreicht. VisiCalc offenbarte eine Nachfrage für Angebote, die echte Probleme lösen konnten. Der Einfluss von VisiCalc auf die Softwareindustrie und die Geschäftswelt ist unermesslich. Die Tabellenkalkulation ist der Urahn auf dem Weg in die digitale Welt.
16Ist das Erscheinen von ChatGPT am 30. November 2022 gleichzusetzen mit der Veröffentlichung von VisiCalc am 19. Oktober 1979? Es finden sich einige Parallelen zwischen dem Aufstieg der Tabellenkalkulation und dem Chatbot ChatGPT. Allerdings beginnt die Geschichte von OpenAI gerade erst. Wir wissen heute nicht, wann und wie sie einmal ausgeschrieben sein wird. Deshalb belassen wir es bei dieser Spekulation, behalten aber – während wir die weitere Entwicklung aufmerksam verfolgen – eine Daumenregel des Politikwissenschaftlers Michael Blume im Hinterkopf: „Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.“20
Der Geburtstag Künstlicher Intelligenz
Als die Software VisiCalc erscheint, ist der Begriff Künstliche Intelligenz (KI) bereits 25 Jahre alt. Erfunden wird er im Sommer 1956 auf einer Konferenz von Mathematikern und Computerwissenschaftlern.21 Theoretische Konzepte dazu sind seit den 1940er-Jahren bekannt wie beispielsweise die erste Simulation eines Gehirnneurons.22 Nun will man Maschinen bauen, die menschliche Intelligenz nachahmen und übertreffen. Aber die Technik der 1950er ist nicht so weit. Nichts von dem, was sich die Forscher theoretisch ausdenken, lässt sich in die Praxis umsetzen und prüfen. Und für das, was bereits möglich ist, gibt es keinen praktischen Nutzen. Daran ändert sich nichts über Jahrzehnte. Trotz stetiger Fortschritte in der Computertechnologie bleibt KI eine kleine Sparte von Enthusiasten. Die Beschränkungen der Hardware, einschließlich begrenzter Speicher und langsamer Prozessoren, stellen unüberwindbare Hindernisse dar.
In den 1980er-Jahren beginnt ein Paradigmenwechsel. Mit dem Aufkommen von Expertensystemen, die menschliches Fachwissen in spezifischen Bereichen...
Erscheint lt. Verlag | 7.2.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Informatik ► Theorie / Studium ► Künstliche Intelligenz / Robotik |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Wirtschaft ► Betriebswirtschaft / Management ► Wirtschaftsinformatik | |
Schlagworte | generative KI • Gesellschaft • Informationsmanagement • Künstliche Intelligenz • Programmierung |
ISBN-10 | 3-8006-7241-3 / 3800672413 |
ISBN-13 | 978-3-8006-7241-7 / 9783800672417 |
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