Philosophie der Physik (eBook)
127 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-77269-6 (ISBN)
Norman Sieroka wurde in Physik und Philosophie promoviert. Seit 2019 ist er Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Bremen.
Teil II: Erkenntnistheoretische Motive und ihr Wandel
Nachdem in Teil I einige wichtige Stationen aus der Geschichte der Physik behandelt wurden, kann nun anhand dieses Materials eine genauere philosophische Einordnung und Reflexion einiger wichtiger Begriffe und erkenntnistheoretischer Motive und ihrer Entwicklung erfolgen.
Dieser zweite Teil gliedert sich in vier Kapitel. Im ersten Kapitel wird die Bildung physikalischer Konzepte und Theorien genauer betrachtet. Dabei wird es nochmals (und nun systematischer) um den «Verlust der Anschaulichkeit» gehen und um die zunehmende Bedeutung mathematischer Darstellungsformen in der Physik. Damit einher gehen Fragen nach Auswahlkriterien zwischen konkurrierenden Theorien sowie dem Verhältnis zwischen Theorien allgemein; also insbesondere Fragen der Vereinheitlichung und der Einbettung – oder gar der völligen Rückführung oder Reduktion – einer Theorie in bzw. auf eine andere.
Eine notwendige Voraussetzung, um überhaupt physikalische Theorien aufstellen zu können, ist die Annahme regelmäßiger Zusammenhänge zwischen Naturphänomenen. Dass es solche Zusammenhänge gibt, wird bis heute zumeist durch einen Begriff von Kausalität motiviert. Dieses oder jenes Phänomen folgt, weil zuvor dieses oder jenes geschehen ist. Wie das zweite Kapitel allerdings zeigen wird, unterlag die Annahme kausaler Zusammenhänge einer starken historischen Verschiebung. Auch diese Verschiebung ist eng verbunden mit der Mathematisierung der Physik, und sie hat ein formales Verständnis von Kausalität befördert.
Das dritte Kapitel behandelt die allgemeinen Strategien, die in der Physik zur Beschreibung und Erklärung der Materie und ihrer Wechselwirkungen herangezogen werden. Seit der Antike sind es im Wesentlichen drei Strategien, die immer wieder und bis heute verfolgt werden und die sich – einem Vorschlag des Philosophen Michael Hampe folgend – mit den Schlagworten mereologisch, explanatorisch und holistisch bezeichnen lassen. Allerdings werden die einzelnen Strategien zumeist nicht exklusiv angewandt, sondern es ergeben sich zum Teil Übergänge und Mischformen. Als besonders wichtige Hybridform werden sich dabei solche Beschreibungen herausstellen, die auf Symmetrien bzw. Symmetrieprinzipien zurückgreifen.
Während in den ersten drei Kapiteln also erkenntnistheoretische Motive im Vordergrund stehen, die die Theoriebildung quasi «intern» betreffen (Wie sind Theorien darzustellen? Was gilt als gute theoretische Erklärung?), geht es im vierten Kapitel um solche Motive, bei denen der Anschluss nach «außen» an die Empirie explizit im Vordergrund steht. Es sind das zum einen die Ansprüche, die an die Vorhersagekraft einer Theorie gestellt werden, zum anderen betrifft es die Rolle von Experimenten für die Bildung und Bewährung von Theorien. Die Einstellung zu beidem – auch das kann mit Rückgriff auf das historische Material aus Teil I leicht gezeigt werden – ist keineswegs eine Konstante in der Geschichte der Physik, sondern unterlag starken Verschiebungen.
1. Begriffs- und Theoriebildung
Begriffe: vom Ausdruck zur symbolischen Konstruktion
Bevor es um die Aufstellung ganzer Theorien gehen kann, ist zunächst eine elementarere Ebene zu behandeln: die der Bildung einzelner Begriffe oder Konzepte.
Die Entwicklung, die hier innerhalb der Physik von der Antike zur Gegenwart stattgefunden hat, lässt sich in prägnanter Weise entlang einer Unterscheidung fassen, die auf den neukantianischen Philosophen Ernst Cassirer (1874–1945) zurückgeht – auch wenn Cassirer selbst diese Unterscheidung nur zum Teil auf die Physik und auch nur auf einen kleinen Teil ihrer Geschichte angewandt hat.
Cassirer unterscheidet drei Arten, in denen sich Zeichen (und insbesondere also Worte und Begriffe) auf Dinge beziehen können. Sie können diese Dinge (i) ausdrücken, (ii) darstellen oder (iii) rein bedeuten. Er behauptet weiterhin, dass es eine historische Entwicklung gab, bei der ausgehend von einer primären Verwendung von Zeichen als Ausdrücken zunehmend Zeichen als Darstellungen und schließlich in Form reiner Bedeutungen verwendet wurden.
Der erste Fall – also eine Ausdrucksfunktion von Zeichen – liegt vor, wenn es einen direkten Bezug zu etwas sinnlich Erfahrbarem gibt. Man denke an Thales, für den alles, also beispielsweise auch der Baum vor ihm und der Stein neben ihm, eine – erstarrte – Erscheinungsform von Wasser ist. Es geht um all das, was ihn direkt umgibt und sinnlich wahrgenommen werden kann; und darum, dass dies alles als eine Form des «Wässrigen» angesprochen und bezeichnet werden kann. (Leider muss diese Thales-Interpretation aus Platzgründen etwas vage bleiben, da ansonsten eine längere Diskussion erforderlich wäre zur Entwicklung der Schriftkultur und Wortverwendung im archaischen Griechenland sowie zur zeitgleich zwar abnehmenden, aber immer noch vorhandenen Rolle des Mythos.)
Eine solch unmittelbare Bezugnahme und direkte Benennung findet sich in abgewandelter Form auch bei Aristoteles, der die Materie und ihr Verhalten vornehmlich im Anschluss an prominente sinnliche Erfahrungen beschreibt. Die Elemente Feuer, Wasser, Erde, Luft charakterisierte er, wie schon erwähnt, über die Eigenschaften warm, kalt, feucht und trocken, was eine unmittelbare Verbindung von physikalischen Grundbegriffen und sinnlicher Erfahrung bedeutete. Es ging um einen direkten Ausdruck dessen, was man wahrnimmt und erlebt. Die Welt bestand in gewisser Weise wesentlich aus einzelnen sekundären Qualitäten.
Der zweite Fall – also eine Darstellungsfunktion von Zeichen – liegt vor, wenn sich die Zeichen stärker vom Bezeichneten lösen und nicht mehr das Bemühen im Vordergrund steht, am Einzelfall direkt wahrnehmbare Eigenschaften zu benennen. Stattdessen geht es um allgemeinere Klassifizierungen, die einer (quantitativ präzisen) Abstufung fähig sind. Es sind hier oft neue und zum Teil abstrakte Begriffe einzuführen, um mit ihrer Hilfe die Beschreibung physikalischer Phänomene zu erleichtern und zu vereinheitlichen.
Der Demokritsche Atomismus und vielleicht sogar schon der Luftbegriff von Anaximenes können hier als wichtige Vorläufer gelten. Denn bei ihnen steht der Bezug zu dem, was direkt sinnlich erfahrbar ist, nicht so sehr im Vordergrund; im Fall der Atome gibt es gar keinen solchen direkten Zusammenhang zur sinnlichen Wahrnehmung. Demokrit und auch Anaximenes gehen vielmehr von etwas Qualitätslosem bzw. Qualitätsarmen aus, bei dem die Möglichkeit der kontinuierlichen Abstufung der äußeren Form (Atome) bzw. des Verdichtungsgrads (feuchte Luft) zentral ist.
Maßgebend für die Physik wird die Darstellungsfunktion von Zeichen in der Frühen Neuzeit. Ein einfaches Beispiel, nämlich der Begriff der Masse, mag das veranschaulichen: Jedes Mal, wenn man einen Gegenstand hochhebt, spürt man dessen Masse. In diesem Sinne steht der alltägliche Massebegriff in direktem Kontakt zu einzelnen sinnlichen Erfahrungen. Allerdings geht es beim physikalischen Massebegriff, so wie er sich seit der Frühen Neuzeit entwickelt hat, nicht primär darum, eine Eigenschaft von Gegenständen direkt auf die sinnliche Erfahrung zu beziehen. Die Pointe des modernen Massebegriffs ist vielmehr die Möglichkeit seiner kontinuierlichen Abstufung, die in mathematisch formalisierter Form behandelt werden kann. Es geht unter anderem darum, qualitative Verhältnisse zwischen Sinneseindrücken zu ersetzen durch quantitative Verhältnisse zwischen primären Qualitäten oder zumindest zwischen solchen Eigenschaften, die einem externen Messverfahren zugänglich sind. So können Massen mithilfe von Waagen bestimmt werden, und mit den gewonnenen numerischen Werten lassen sich Bewegungsabläufe berechnen.
Um es weiter zu verdeutlichen, noch ein einfaches, formaleres Beispiel: Man betrachte den Stoß zwischen zwei Körpern der Massen m1 und m2, die mit den Ausgangsgeschwindigkeiten v1 und v2 aufeinanderprallen. Aufgrund des Impulserhaltungssatzes gilt, dass die Summe der Produkte aus Masse und Geschwindigkeit der beiden Körper vor und nach dem Stoß identisch ist. Unter der Annahme, die Masse der Körper werde durch den Stoß nicht verändert, ergibt sich folgender Zusammenhang...
Erscheint lt. Verlag | 1.12.2022 |
---|---|
Reihe/Serie | Beck'sche Reihe | Beck'sche Reihe |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Allgemeines / Lexika |
Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Erkenntnistheorie / Wissenschaftstheorie | |
Mathematik / Informatik ► Mathematik | |
Schlagworte | Antike • Erkenntnis • Experiment • Geschichte • Mathematik • Neuzeit • Philosophie • Philosophiegeschichte • Physik • Physikgeschichte • Theoriebildung |
ISBN-10 | 3-406-77269-2 / 3406772692 |
ISBN-13 | 978-3-406-77269-6 / 9783406772696 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 946 KB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich