Begegnungen mit Euklid – Wie die »Elemente« die Welt veränderten (eBook)

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2022 | 1. Auflage
384 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-7499-5091-1 (ISBN)

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Begegnungen mit Euklid – Wie die »Elemente« die Welt veränderten - Benjamin Wardhaugh
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Euklid auf den Fersen - eine grandios erzählte Reise zu den Anfängen der Mathematik


Seit dreiundzwanzig Jahrhunderten prägen Euklids »Elemente« die Welt. Die Zusammenstellung von Fakten über den Raum und seine Eigenschaften - Linien und Figuren, Zahlen und Verhältnisse - bestimmen bis heute Philosophie, Kunst, Musik, Literatur und Mathematik. Dreizehn Bände, die nicht nur Wissenschaftsgeschichte schrieben, sondern auch zu ersten globalen Bestsellern wurden.

Benjamin Wardhaugh entstaubt Euklids Vermächtnis und begibt sich auf eine Zeitreise. Von Ptolemaios bis Isaac Newton, von Lewis Carroll bis Max Ernst - hautnah erleben wir den Einfluss der »Elemente« auf die jeweilige Zeit und ihre Protagonisten. Die spannende Geschichte über das Grundlagenwerk menschlichen Wissens.



BENJAMIN WARDHAUGH ist ein britischer Historiker. Er studierte Mathematik, Musik und Geschichte an der Cambridge University sowie an der Guildhall School of Music and Drama in London - und ist fasziniert vom Einfluss der Mathematik auf unser Leben. Benjamin Wardhaugh lebt, lehrt und schreibt in Oxford.

Alexandria


Der Geometer und der König

Alexandria, um 300 v. Chr.

Ein Abendessen, sagen wir: ein Festmahl, im Palastbezirk, vielleicht im Museion. Ptolemaios selbst ist anwesend – General, Kriegsheld, König, für manche ein beinahe göttliches Wesen. Das Gespräch kommt auf die Geometrie: »Warum ist sie so schwierig? Warum gibt es keinen leichteren Weg?« Der Geometer – ein unauffälliger Mann, aber selten um Worte verlegen – antwortet: »Majestät, es gibt keinen Königsweg zur Geometrie.«

*

Die Anekdote über den brüskierten Ptolemaios ist eine dieser unwiderstehlichen Geschichten. Der Mann war ein Kindheitsfreund Alexander des Großen gewesen, einer seiner Leibwächter – vielleicht sein illegitimer Halbbruder, ein geschätzter General (sein Name soll vom griechischen Wort für »kriegerisch« herrühren), besonnen, aber ebenso begabt für die große Geste – ein Mann, der sich nichts bieten ließ.

Außerdem war er ein Überlebenskünstler. Er schaffte es, sich in dem zwei Jahrzehnte währenden Chaos durchzusetzen, das auf Alexanders Tod folgte und viele fähigere Männer das Leben kostete. Von allen Nachfolgern Alexanders, die dessen kurzlebiges, Kontinente umspannendes Reich unter sich aufteilten, schuf er die beständigste Dynastie, den stabilsten Staat. Er entschied sich für Ägypten und setzte es nie für ein größeres Reich aufs Spiel. Auf ihn folgten vierzehn ptolemäische Herrscher, bis Kleopatra in der Schlacht bei Actium zweihundertfünfzig Jahre später alles verlor. Er war der erste König der letzten ägyptischen Dynastie: basileus für die Griechen, Pharao für die Ägypter, Erbe der dreitausend Jahre währenden ägyptischen Königstradition und, ja, auch ein Gott. Im Jahr 306 v. Chr. wehrte er einen Angriff auf Rhodos so entschieden ab, dass man ihm Altäre errichtete und ihm den Titel »der Retter« verlieh. Nach seinem Tod stiftete sein Sohn und Nachfolger ihm zu Ehren die Ptolemäischen Spiele, die ab 278 v. Chr. abgehalten wurden, alle vier Jahre, wie die Olympischen Spiele.

Ptolemaios I.

Silberstater von Ptolemaios I., 305285 v. Chr. Cleveland Museum of Art 1916.994. (Creative Commons/lizenzfrei, CC0 1.0)

Die Person des Geometers hingegen – ein Mann namens Euklid, Eukleídēs – bleibt weitgehend im Dunkel der Geschichte. An der Königsweganekdote ist leider nichts dran; das Gleiche erzählt man sich über einen anderen Geometer (Menaichmos) und einen anderen König (Alexander), und es gibt wenig Anlass zu glauben, dass sich das Gespräch wirklich so ereignet hat. Selbst die Annahmen zu Euklids Lebenszeit – irgendwann um 300 v. Chr. – sind bloße Vermutungen von Autoren, die Jahrhunderte später schrieben. Anders als Ptolemaios, dessen Leben äußerst gut dokumentiert ist, hinterließ Euklid keinerlei Spuren. Er begründete keine Dynastie, baute keine Paläste. Sein Erbe war ein rein intellektuelles.

Doch welch ein Erbe das war! Die Schar seiner Schüler in Alexandria überdauerte ihn. Sein Buch überdauerte die ganze Kultur.

Was war das für eine Stadt, die einen solchen Mann und ein solches Buch hervorbrachte? Alexandria war die passende Umgebung für die Elemente. Sie war Ptolemaios’ größte Leistung. Ihren Bau hatte Alexander selbst verfügt, an einem Ort, wo sich einst bloß ein Dorf befunden hatte, und sie trug wie Dutzende andere seinen Namen. Er selbst erlebte nicht mit, wie auch nur eine Mauer errichtet wurde, aber Ptolemaios machte die Stadt zu seiner Hauptstadt und verlegte den ägyptischen Königssitz aus Memphis hierher. Alexandria war eine griechische polis in einer zutiefst ungriechischen Welt, eine Neugründung in einem Land, in dem die Städte auf eine zweitausendjährige Geschichte zurückblickten. Ptolemaios tat alles, um ihr zu Glanz zu verhelfen; die Stadt hatte eine Volksversammlung, einen Rat, eigene Münzen, eigene Gesetze. Es gab breite Prachtstraßen, Säulengänge, Alleen und Straßenlaternen. 321 v. Chr. brachte Ptolemaios sich in den Besitz von Alexanders Leichnam und stellte ihn in seiner neuen Königsstadt zur Schau.

Der Standort war hervorragend, an einer Stelle, an der zwei Kontinente zusammentrafen, knapp westlich des Nildeltas. Über Jahrhunderte sollte die Stadt ein wichtiges Seehandelszentrum bleiben und diente bis zum Zweiten Weltkrieg als strategisch günstig gelegener Militärstützpunkt. Außerdem begann Ptolemaios mit dem Bau des berühmten Leuchtturms: Festung und Symbol zugleich, nach seiner Fertigstellung unter seinem Sohn eines der sieben Weltwunder, 130 Meter hoch und bekrönt mit einer Statue von Zeus (oder Poseidon). Das Bauwerk stand fünfzehnhundert Jahre lang. Eine derart gesegnete Stadt zog Menschen aus der gesamten griechischen Welt an, und so war Alexandria bald nicht nur berühmt für seine Größe und Pracht, sondern auch für seine Menschenmassen und die kosmopolitische Atmosphäre; in den Straßen wimmelte es von Griechen, Makedonen, Ägyptern, Juden und Syrern wie in einem Ameisenhaufen. Innerhalb weniger Generationen stieg die Zahl ihrer Einwohner auf mehr als eine Million.

Ptolemaios kümmerte sich nicht nur um die Planung der Stadt und die Errichtung zahlloser Gebäude, sondern auch um die Kulturpolitik – und das mit einer Effizienz, die für ihn charakteristisch war. Um als ägyptischer Pharao zu überzeugen, ließ er entsprechende Skulpturen anfertigen und rief den neuen Kult des Serapis ins Leben, einer unverfroren erfundenen Gottheit mit einer hybriden Ikonografie. Wie alle seine Unternehmungen war auch der Kult langlebig: Der zugehörige Tempel, das Serapeum von Alexandria, bestand sechshundert Jahre lang.

Um das Herz und die Seele der Griechen zu erfreuen, gab es Festumzüge, Feierlichkeiten und einen Palast mit Wandteppichen, die den Neid der Götter geweckt hätten. Alexandria verfügte über »Reichtum, Ringschulen, Macht, heitre[n] Himmel, Ruhm, stets was zu schau’n, gelehrte Herren [= Philosophen], Gold und junge Männer, der Geschwistergötter Tempel … das Museum [= Museion], Wein – kurz alles Gute, was man nur wünschen mag«, wie es ein Zeitgenosse zusammenfasste.

All das war von unschätzbarem Wert, um einer zutiefst andersartigen Umgebung die Macht der Griechen zu demonstrieren und ihr eine Vorstellung der griechischen Kultur zu vermitteln. Es besagte: So machen wir es in der großartigen Welt der Griechen. Wir haben das Recht zu herrschen.

Ein Bestandteil dessen war das Museion, das Heiligtum der Musen. Es wurde vom König finanziert und führte Gelehrte aller möglichen Disziplinen zusammen. An der Spitze stand ein Musenpriester, und unter den Gelehrten fanden sich Dichter, Grammatiker, Geschichtsschreiber, Philosophen, Ärzte, Naturphilosophen, Geografen, Ingenieure und Konstrukteure, Astronomen und natürlich Geometer. Das Ganze ging zum Teil auf Ptolemaios selbst und zum Teil auf Demetrios von Phaleron zurück, einen berühmten Schüler von Aristoteles, der aus Athen geholt worden war, um die Entstehung der neuen Institution zu beaufsichtigen. Im Museion gab es Innenhöfe, Wandelgänge und Gärten, einen Speisesaal und eine Sternwarte. Die Anzahl der Gelehrten belief sich auf rund vierzig, und sie verbrachten ihre Zeit damit, zu forschen, zu schreiben und manchmal zu lehren. Sie veranstalteten »Symposien«, Gastmahle, an denen hin und wieder auch der König teilnahm. Es war eine bemerkenswerte Versammlung von Menschen, die gelegentlich etwas säuerlich mit der Tiersammlung, die Ptolemaios ebenfalls begründet hatte, verglichen wurde: »wohlgenährte Bücherwürmer, die endlos lange im Vogelkäfig der Musen diskutierten«. Und wo Bücherwürmer waren, gab es natürlich auch Bücher: Die Bibliothek von Alexandria sollte die berühmteste der Welt werden, auch wenn sie in der Form wohl erst später entstand, unter Ptolemaios’ Sohn.

Und so kam es, dass auch der berühmte griechische Mathematiker in Ägypten landete. Gehörte Euklid zu Ptolemaios’ Sammlung, hatte man ihn geholt, um das Ansehen des Museions zu mehren? Es ist nicht gesichert, ob er in Alexandria geboren wurde oder ein Zugezogener war, auch wenn Letzteres so kurz nach Gründung der Stadt wahrscheinlicher ist. Woher kam er dann? Seine nüchternen Texte enthalten keine Hinweise auf einen Dialekt, im Gegensatz zu Archimedes, einem Vertreter der folgenden Generation, dessen Werke im dorischen Dialekt von Syrakus verfasst sind.

Was Euklid (und vielleicht auch weitere Mathematiker; es ist nicht klar, ob Euklid der einzige war) nach Alexandria mitbrachte, war die bewährte Tradition der griechischen Geometrie. Die Griechen hatten eine Vorliebe für das Nachdenken, und sie pflegten mit Begeisterung ihre Liebhabereien. Manche fuhren Wagenrennen, andere sprachen über Philosophie, wieder andere befassten sich mit Politik. Etwa ab dem späten fünften Jahrhundert v. Chr. betrieben einige von ihnen Geometrie.

Wie sah das aus? Vielleicht stellt man sich die griechische Geometrie am besten als eine Nebenerscheinung der griechischen Vorliebe für das Gespräch, genauer die Disputation, die Kunst, ein Streitgespräch zu führen, vor. Geometrie war in erster Linie eine Vorführung.

Man zeichnete eine Linie, ein Quadrat, einen Kreis. Dabei dachte man laut nach, richtete sich an das unvermeidliche Publikum. Aus diesen Anfängen entstand das langlebige Spiel der geometrischen Herleitung. Die Figur des Geometers, der in den Sand zeichnet, prägt bis heute das Bild des antiken...

Erscheint lt. Verlag 27.9.2022
Übersetzer Elisabeth Schmalen
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Mathematik / Informatik Mathematik
Schlagworte Bücher über Euklid • Euklid • Geschichte der Mathematik • Mathematik
ISBN-10 3-7499-5091-1 / 3749950911
ISBN-13 978-3-7499-5091-1 / 9783749950911
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