Botschafter des Lebens (eBook)

Was Bäume in Städten erzählen
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
220 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8020-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Botschafter des Lebens -  Caroline Ring
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Eine botanische Entdeckungsreise durch Deutschlands Städte Wer faszinierende Bäume und ihre Geschichten kennenlernen will, muss dafür nicht tief im Wald verschwinden. In der Stadt genügt oft ein Schritt vor die eigene Haustür. Hier begegnet man mächtigen Riesen, begehrten Exoten und uralten Zeitzeugen. Sie erzählen von Hoffnungen und Träumen, von Aufbruch und Enttäuschung, von unmöglicher Liebe und davon, wie es ist, als Baum in der Stadt zu leben. Manche sind gut versteckt, andere so unscheinbar, dass man an ihnen vorbeilaufen würde. Wieder andere sind so berühmt, dass sie eigene Namen tragen oder in Gedichten verewigt wurden. Caroline Ring hat die interessantesten und bedeutendsten Stadtbäume besucht und erzählt ihre Geschichten. Sie laden dazu ein, die Stadt mit anderen Augen zu sehen.

Caroline Ring, Jahrgang 1985, studierte Biologie mit Schwerpunkt Evolutionsbiologie in Hamburg und Berlin. Nach Stationen im Berliner Naturkundemuseum, der Financial Times Deutschland und im Wissensressort der Welt arbeitet sie heute als freie Journalistin und Autorin in Berlin. 2019 wurde sie für den Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus nominiert.

Caroline Ring, Jahrgang 1985, studierte Evolutionsbiologie in Hamburg und Berlin. Nach Stationen im Berliner Naturkundemuseum, der "Financial Times Deutschland" und im Wissensressort der "Welt" arbeitet sie heute als freie Journalistin und Autorin in Berlin.

Die Saat des Königs


 

Stuttgart | Riesenmammutbaum (Sequoiadendron giganteum) | 156 Jahre

Knöchelhohes Gras bedeckt den Boden. Schuppige Zweige winden sich durch die Halme: Abgeworfene Nadeln von den Baumriesen, die mich umringen. Wie rostrote Elefantenbeine dringen ihre Stämme aus der Erde. Sie sind so dick, dass meine Armspanne nicht ausreicht, um sie zu umfassen. Hier und da liegen knollige Zapfen verteilt. Ich nehme einen von ihnen in die Faust. Diese Bäume sind riesig, doch ihre Zapfen sind nicht mal so groß wie ein Hühnerei. In seinen Spalten entdecke ich winzige Samen: ovale Schiffchen mit Segeln zu beiden Seiten, kaum einen halben Zentimeter lang. Erst jetzt erkenne ich, dass sie überall verstreut liegen. Ich blicke auf. Spechte haben die Rinde vieler Bäume punktiert. Weit über mir schrauben sich lange, gebogene Äste die Stämme hinauf. An ihren Enden hängen Büschel von Nadeln in dunkelgrünen Quasten. Oben bilden die Kronen ein spitz zulaufendes Dach. Ich stehe in einer Kathedrale aus Bäumen.

Für einen Moment fühle ich mich nach Kalifornien versetzt. Sechs Jahre ist es her, dass ich den Sequoia-Nationalpark besucht habe. Eigentlich war ich auf der Suche nach bestimmten Insekten, die Fahrt in den Nationalpark war ein Abstecher. Dort, vier Autostunden südöstlich von San Francisco, findet sich eine weltweit einmalige Landschaft. Es ist die Heimat der Riesenmammutbäume, die zu den größten und ältesten Lebewesen der Erde gehören. Viele von ihnen sind mehr als tausend Jahre alt. Zwischen ihnen zu wandern machte mich stumm und ehrfürchtig. Unter den Kronen der Mammutbäume fühle ich mich heute wieder klein und verletzbar und zugleich beschützt und erhaben. Doch diesmal bin ich nicht in Kalifornien. Ich bin in Stuttgart.

Ich stehe im Mammutbaum-Hain der Wilhelma, dem botanisch-zoologischen Garten im Nordosten der Stadt. Es ist eine kleine Fläche, keine 100 Meter lang, kaum 50 Meter breit. Eng beieinander stehen hier Riesenmammutbäume, viele von ihnen über 30 Meter hoch. Das Wäldchen ist mit einem kniehohen Zaun abgesperrt. Normalerweise ist es nicht erlaubt, zwischen den Bäumen hindurchzugehen. Doch ich bin mit Micha Sonnenfroh hier, dem Fachbereichsleiter der Parkpflege, der mir die Bäume zeigt und von ihnen erzählt.

In keiner anderen Stadt in Deutschland, wenn nicht sogar in Europa, kann man so viele Mammutbäume sehen wie in Stuttgart. Es sind die letzten der »Wilhelma-Saat«: Einst kamen die Riesen als Samen gemeinsam nach Baden-Württemberg. Mit ihren gut 150 Jahren sind die Bäume heute bei Weitem nicht so alt wie die in Kalifornien. In Europa gehören sie jedoch zu den ältesten und größten ihrer Art. Überall in der Stadt sind die Mammutbäume zu finden. Hier, in der Wilhelma, zog man sie alle einst heran. Die meisten der Bäume wurden über ganz Württemberg verteilt. Achtzig blieben in der Wilhelma. In dem Hain, in dem ich stehe, überdauern 35 von ihnen bis heute.

Wilhelm I., König von Württemberg, veranlasste 1864 das Pflanzen der Mammutbäume. Wenige Jahre zuvor waren europäische Entdecker in den dichten Wäldern im Nordosten Kaliforniens erstmals auf diese Bäume gestoßen. Es waren nie zuvor gesehene Baumriesen, deren Kronen im Himmel verschwanden und deren Stämme so dick waren, dass man sie nur in einer Kette von Menschen umfassen konnte. Staunend und überwältigt von den Giganten reagierten die Entdecker der Bäume äußerst menschlich: Sie holzten sie ab. 1853 fällten fünf Männer den Discovery Tree, einen besonders starken Baum. 29 Meter maß er im Umfang. Auf 1244 Jahre kam man beim Zählen seiner Jahresringe. 25 Tage brauchten die Männer, um ihn zu fällen. Noch heute kann man den zurückgebliebenen Baumstumpf besichtigen. Eine kleine Treppe ist in sein Holz eingelassen, damit man das Plateau erklimmen kann.

Im Europa des 19. Jahrhunderts klangen die Berichte von den Bäumen aus den USA mehr sagenhaft als glaubwürdig. So große Bäume gab es hier schließlich bei Weitem nicht. Doch einen Baum von fast 100 Metern Höhe und an die zehn Meter Durchmesser als Beweis mit dem Schiff über das Meer zu bringen, war unmöglich. Mit einem Trick gelang es trotzdem, in Europa Eindruck zu schinden. 1854 suchte man zwischen den kalifornischen Riesen einen ähnlich großen Baum wie den gefällten Discovery Tree aus und machte sich daran, seine Rinde auf 35 Metern Höhe abzunehmen. Die Rindenhülle wurde zerlegt, 1857 nach London verschifft und dort anlässlich der Weltausstellung wieder zusammengesetzt. Die Nachbildung der Mother of the Forest, der Mutter des Waldes, erregte viel Aufsehen, doch genauso viel Kritik. Denn man hatte ein mehr als tausend Jahre altes Leben für ein paar Wochen Show geopfert. Seiner Rinde beraubt, konnte sich der Baum nicht mehr mit Nährstoffen versorgen. Nur vier Jahre später verlor er seine komplette Krone und starb ab.

In der Zeit der Weltausstellung muss auch König Wilhelm I. von den neu entdeckten Bäumen erfahren haben. Über einen Saatguthändler ließ er Samen der Bäume bestellen. Für seine Beweggründe gibt es zwei Lesarten. Die erste ist romantisch: Mitte des 19. Jahrhunderts war es unter gut betuchten Menschen in Europa Mode, neu entdeckte exotische Baumarten in den eigenen Gärten und Anlagen zu pflanzen. Wilhelm I. war dieser Lesart nach wie viele seiner Zeitgenossen von den Berichten über die Mammutbäume so beeindruckt, dass auch er ausschicken ließ, um die gigantischen Exoten auf seinen Ländereien nachzuziehen.

Die zweite Lesart ist dagegen weniger romantisch als vielmehr pragmatisch. Denn die Regentschaft von Wilhelm I. war vor allem in ihrer Anfangszeit durch wirtschaftliche Krisen und Versorgungsnöte geprägt. Missernten sorgten für Hungerwinter, die der König durch Erlässe und Verordnungen abzumildern versuchte. Er reformierte die Landwirtschaft und interessierte sich für neue Züchtungen von Nutztieren, um die Erträge der Bauern zu verbessern. Hinzu kam ein Phänomen, über dessen Ausmaß Historiker streiten. Denn mit der Erfindung und dem Einsatz der Dampfmaschine zu Wilhelms Zeit stieg der Bedarf an Brennholz in ganz Europa – und damit auch in Württemberg.

Manche Historiker nehmen an, dass es sogar zu einer Holznot kam, weil Wälder schneller abgeholzt wurden, als sie nachwachsen konnten. Berichte über Bäume, die so groß und so massiv waren wie keine anderen, müssen in dieser Zeit verheißungsvoll geklungen haben. Vielleicht war es daher weniger Pflanzenliebe, die den König beim Erwerb der Mammutbäume antrieb, als vielmehr seine Erfahrung mit Versorgungskrisen und die Aussicht, schnell viel Brennstoff zu gewinnen.

Für 90 Dollar orderte er 1863 über einen Zuckerfabrikanten Samen in Kalifornien. Dabei passierte womöglich ein folgenschwerer Irrtum. Denn Wilhelm I. bestellte eigentlich nur »ein Lot« Samen, was ungefähr 15 Gramm entsprach. Durch einen Übersetzungsfehler wurde jedoch aus »ein Lot« im Englischen a lot, also »eine Menge«. Und die bekam er auch. Statt wenigen Gramm erhielt der König ein knappes Pfund Samen – fast zehntausend Stück.

Unbeeindruckt von der großen Zahl nutzten Wilhelms Gärtner das gesamte Saatgut für die Anzucht. In einem Geschäftsbericht von 1865 heißt es, dass man fünftausend junge Mammutbäume habe heranziehen können. Man setzte sie in den königlichen Schloss- und Gartenanlagen, verteilte sie in der Stadt und verkaufte die überschüssigen Bäume »zum billigen Preis«, »weil so viele Empfänger der Pflanzen, die sie unentgeltlich empfangen, geringer Aufmerksamkeit widmen als den erkauften«. Für die Pflege der jungen Mammutbäume gab es genaue Protokolle: Im Winter mussten sie vor Frost geschützt werden, im Sommer vor zu starker Sonnenstrahlung. Nicht alle Keimlinge überlebten die ersten Jahre. Viele weitere Bäumchen gingen in den folgenden Jahrzehnten verloren. Heute existieren noch 325 Bäume der Wilhelma-Saat, knapp 120 von ihnen stehen in Stuttgart. König Wilhelm I. erlebte all das schon lange nicht mehr. Nur wenige Monate, nachdem das Saatgut eingetroffen war, starb er. Die Bäume, zu deren Kronen man heute in der Wilhelma und an vielen anderen Orten in der Stadt aufschaut, hat er nur als winzige Keimlinge erlebt.

Wir treten noch einmal über den kleinen Absperrzaun des Wäldchens. Bäume, die man trotz Verbot anfassen kann, sind an ihren äußersten Schichten abgerubbelt von Händen der Parkbesucher und von den Bäuchen, die sich an der Rinde gerieben haben bei dem Versuch, einen Baum zu umarmen. An den Stellen leuchtet das Holz orangerot. Ich lege einen Finger auf die Borke. Sie lässt sich ein wenig eindrücken, wie ein fester Schwamm. Ich nehme den Finger weg. Sofort gewinnt sie ihre vorherige Form zurück.

Obwohl das Holz der Bäume so massiv und stark ist – einmal geschlagen, lässt es sich in großer Menge forstwirtschaftlich kaum nutzen, sagt Sonnenfroh. Er deutet in eine Ecke des Hains. Dort stehen drei Bänke in Form vergrößerter Mammutbaum-Samen, die einmal aus dem Holz der Bäume geschnitzt waren. Doch schon innerhalb kurzer Zeit mussten sie ersetzt werden, weil sie sich so abgenutzt hatten. Auch als Brennholz taugen die Bäume wenig, und ihre Rinde kokelt selbst bei großen Feuern nur an. In ihrer Heimat sind Mammutbäume regelmäßig natürlichen Waldbränden ausgesetzt. Sie machen das Unterholz für die Keimlinge der Riesen frei. In den natürlichen Mammutbaum-Wäldern Kaliforniens findet sich kaum ein altes Exemplar ohne Brandnarben.

Nicht nur gegenüber Feuer sind die lebenden Bäume unheimlich robust. Auch Sturm kann ihnen kaum etwas anhaben....

Erscheint lt. Verlag 12.10.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Natur / Ökologie
Mathematik / Informatik Mathematik
Schlagworte Arboretum • Artenschutz • Artensterben • Artenvielfalt • Baum • Baumbestand • Bäume • Baumgruppe • Baumkunde • Baumriese • Baumschützer • Baumsterben • Botanik • Das geheime Leben der Bäume • Das verborgene Leben des Waldes • Evolution • Evolutionstheorie • Forst • Förster • Forstwirtschaft • Geschenkbuch • Geschenkbuch für Frauen • Geschenkbuch für Männer • Ginkgo • Goethe-Baum • Heimat • Holz • Natur • Naturerlebnis • Nature writing • Naturforscher • Naturforscherin • Naturfreund • Naturfreundin • Naturführer • Naturkunde • Naturschutz • Naturschutzgebiet • Park • Parklandschaft • Peter Wohlleben • Pflanzen • Pflanzenkunde • Reise in die Natur • Spaziergang • Stadtbäume • Städte • Stadtplanung • Stadtwald • Stadtwild • Umweltschutz • Umweltschützer • Wald • Waldsterben • Weihnachtsgeschenk
ISBN-10 3-8270-8020-7 / 3827080207
ISBN-13 978-3-8270-8020-2 / 9783827080202
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