Die Schanze (eBook)
304 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3550-6 (ISBN)
Lars Menz, geboren 1972 in Bremen, hat Geografie, Stadtplanung und Politik studiert und arbeitet als Journalist. Er hat einen Roman und mehrere Kurzgeschichten veröffentlicht, für die er unter anderem beim Schreibwettbewerb des Literaturhauses Zürich ausgezeichnet wurde. Mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern lebt er in Hannover. Die Schanze ist sein erster Thriller.
Lars Menz, geboren 1972 in Bremen, hat Geografie, Stadtplanung und Politik studiert und arbeitet als Journalist. Er hat einen Roman und mehrere Kurzgeschichten veröffentlicht, für die er unter anderem beim Schreibwettbewerb des Literaturhauses Zürich ausgezeichnet wurde. Mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern lebt er in Hannover. Die Schanze ist sein erster Thriller.
Prolog
Er hatte es begonnen, er brachte es zu Ende. Angst, Schuld, Zweifel, all das war belanglos geworden. Es war die Macht über Leben und Tod, die ihn berauschte. Sie lag in seinen Händen. Er zeichnete seine Lebenslinie mit dem Zeigefinger in seiner von Arbeit und Kälte geschundenen Haut nach. Eine tiefe, trockene Furche, die nun endlich auf ein Ziel zusteuerte.
Er ballte die Hände zu Fäusten.
Entschlossen drehte er sich um, senkte das Kinn leicht auf die Brust. Es war ihm zuwider, Menschen in die Augen zu blicken.
Vor vielen Jahren hatte er die Betondecke im Keller mit Styroporplatten verkleidet, um die Kälte unten und die Wärme oben im Haus zu halten. Ohne Wollsocken und Hausschuhe wurden die Füße trotzdem kalt, und dann konnte er nicht einschlafen. Meistens lief er die halbe Nacht durchs Haus, bis er so durchgefroren war, dass er duschen musste. Er mochte den Schmerz des heißen Wassers auf seiner Haut und die rötliche Farbe danach. Dann konnte er klar denken. Die besten Einfälle kamen ihm unter der Dusche.
Er sah den vor ihm auf dem Stuhl zusammengesunkenen Menschen nun doch an.
Wenn er mit dem Kopf gegen das Styropor stieß, rieselten kleine weiße Kügelchen auf den Boden. Wie verdammter Schnee. Es war überall, klebte an seiner Jacke, hing elektrisch aufgeladen an seiner Handfläche.
Es lag auf dem Gesicht des Mannes.
Wie Affenpocken. Im Fernsehen wurde darüber berichtet. Hochansteckend. Ekelhaft. Hätte er Affenpocken, er würde die Bläschen mit einer Nadel aufstechen. Mit Nadeln könnte er auch die Kügelchen im Gesicht des Mannes fixieren, wie kleine Punkte auf einer Landkarte, er könnte die Stecknadelköpfe mit Garn verbinden und so ein Netz spannen. Aber wozu?
Er war abgelenkt.
Er blies dem Mann das Styropor vom Gesicht, und sofort riss er den Kopf zur Seite, zerrte an den Fesseln, biss heftig auf den Gummiball in seinem Mund. Der Stuhl wackelte. Das Atmen fiel ihm schwer, seine Augen waren rot. Rot wie der Himmel draußen über dem schmalen Dachfenster. Es war das letzte Aufbäumen der hellen Stunden. Er mochte es, wenn der Tag der Nacht wich, und die Schatten um die Berge krochen. Schnee lag auf den Bergrücken und seit gestern auch im Tal. Darin würde er unweigerlich Spuren hinterlassen, aber das war nicht schlimm. Es waren nur Spuren. Spuren gab es viele. Es war gut, überhaupt etwas zu hinterlassen.
»Es ist Zeit«, sagte er zu seinem Gefangenen.
Seit gestern war er hier. Er hätte den Mann gleich an seinen Bestimmungsort bringen können, aber erst hatte er ihn wiegen, vermessen und auch schwächen müssen. Den Fahrradanhänger verstärken, das Seil auf die richtige Länge bringen. Das alles hatte Zeit gekostet.
Er ging nach oben, holte die Winterjacke, Mütze, Handschuhe. Trotz der Kälte wählte er die Hallensportschuhe ohne Profil. Zu viel Spuren mussten auch nicht sein.
Die Zimmer im Haus waren dunkel, die Tapeten alt und grau, die Oberflächen in der Küche fettig. Nur das Licht des Fernsehers flackerte auch von außen gut sichtbar an den Wänden. Er würde ihn anlassen, und vielleicht würde er bis zum Spätfilm zurück sein.
Ihm war, als hörte er Vater mit dem Fuß auftreten. Immerzu hörte er ihn, den Toten, selbst wenn er schlief. Er hatte ihn gepflegt, ihm die Tassen mit lauwarmem Wasser gereicht, seine schuppige Stirn und ihm die Scheiße aus der Ritze gewischt. Er hatte es so sattgehabt. Als die Wohnung der alten Braun gegenüber frei geworden war, hatte er die Gelegenheit beim Schopfe gepackt, Vater aus dem Haus gezerrt, ihn dort einquartiert, eine ganze Straßenbreite Abstand zwischen sie gebracht. Drüben hatte er ihn wie eine Blume langsam verdorren lassen.
Die Leute vom Heim hatten die Braun mit dem Taxi abgeholt. Nur einen Koffer durfte sie mitnehmen. Das hatte ihm leidgetan. Von Zeit zu Zeit besuchte er ihr Grab. Dann brachte er ihr etwas mit. Einen Splitter vom Zaun, einen Kieselstein aus dem Garten, einige Fasern des Teppichs unter ihrem Bett, der dortgeblieben war.
Er ging zum Hinterausgang, rollte das Fahrrad aus dem Schuppen und zog die Plane vom Anhänger. Dann fegte er den Schnee von der Treppe, damit sie nicht ausrutschten.
Im Fenster spiegelten sich seine Konturen. Ob man ihm Vaters Ledergürtel noch ansah? Die Striemen? Die Schmerzen hatten sich wie eine Inschrift in seinen Körper gegraben. Der Gürtel hing noch immer im Flur. So wie das Porzellan und der Nippes seiner Mutter in der Schrankwand standen. Sie hatte ihm nie geholfen. Er hatte sich immer vorgestellt, alles würde besser werden, wenn beide nicht mehr da wären, aber der Winter endete hier nicht.
Zurück im Keller schwitzte er.
Hier unten war es kalt und feucht. Und es roch. Nein, es stank. Der Geruch von Kot und Urin war penetrant. Eine Folie auf dem Boden fing die durch die Hose triefenden Exkremente des Mannes auf. Er musste die Folie anschließend loswerden und das Fenster über Nacht auflassen.
Der Strick lag noch in der Kiste.
Der Gefangene registrierte die Winterjacke und richtete sich auf. Seine Zeit auf dem Stuhl ging zu Ende, aber er wusste nicht, was das für ihn bedeutete. Er erwartete wohl das Schlimmste, denn er zerrte wieder an seinen Fesseln. Die Fesseln waren mit Schlössern gesichert, von denen er nun zwei öffnete. Er zog den Mann vom Stuhl und stellte ihn hin wie eine Spielfigur. Nach dem langen Sitzen zitterten seine Knie, sein Atem ging schnell, sein Gleichgewicht aber kam zurück. Obwohl er etwa eins achtzig und erwachsen war, wirkte er wie ein kleiner Junge. Seine Angst war größer als er selbst.
Die Ketten um seine Fußgelenke ließen ihm nur wenig Spiel, und er brauchte fast vier Minuten für die Treppe. Der Kellerabgang war aber nicht einsehbar, eine Hainbuchenhecke und die verwitterte, hochkant gestellte Tischtennisplatte versperrten die Sicht. Mehrmals hatte er die Winkel kontrolliert.
Der Wind flüsterte durch den Hinterhof, schneebedeckte Äste wogten hin und her. Sein Atem stieg wie Nebel in die Nacht.
»Setz dich!«, befahl er.
Der Mann verstand nicht.
Mit dem Viehtreiber versetzte er ihm einen Stromstoß am Arm. Das kleine Gerät bestand aus einem Plastikgriff, an dessen Ende zwei Metallstifte wie bei einem handelsüblichen Stecker herausragten. Es war leicht und lag gut in der Hand. Der Mann biss vor Schmerz auf den Gummiball und stöhnte, ließ sich nun widerstandslos rücklings auf den Fahrradanhänger setzen und kippte nach einem weiteren Stromstoß zurück. Er legte den Nacken des Mannes in die für seinen Hals halbmondartige Aussparung, stülpte die mit Schaumstoff ausgekleidete Kiste über sein Gesicht und schloss die Scharniere. Der Mann warf sich hin und her, schnitt sich die Haut an den Fesseln. Doch seine Schreie drangen nicht nach draußen. Es gab nur kleine Luftlöcher. Schon nach kurzer Zeit hörten seine Bewegungen auf, als er begann, nach Luft zu schnappen, was mit dem Ball im Mund ohnehin furchtbar anstrengend war.
Er hatte es verstanden.
Auf die Idee mit der Kiste war er bei seiner letzten MRT-Untersuchung gekommen. Er hatte fast genauso dagelegen, nur ohne die Fesseln und in der Gewissheit, jederzeit entkommen zu können. Keine Anomalien, keine Entzündungsherde. Sie hatten nichts von dem gefunden, was in seinem Kopf vorging. Das war beruhigend, es bestätigte, dass er nicht krank war.
Die Beine des Mannes klemmte er hinter ein vorbereitetes Brett, fixierte die Füße mit Klebeband, zog dann die Plane über den Anhänger und sicherte auch sie. Niemand würde einen frierenden Mann darunter vermuten. Nicht mal einen toten Hund.
Das Anfahren war durch das Gewicht des Anhängers beschwerlich, das Treten selbst aber keine große Anstrengung. Er bewegte mit dem Rad oft schwere Ware und hatte den Anhänger bereits vor Langem für den Transport der Skier verlängert. Es steckte auch jetzt ein Paar an der Seite, sie ragten unter der Plane hervor und zeigten allen, wer er war. Ein Sportler. Einer, der Bewegung und Natur schätzte, seinen Körper forderte und spät heimkam.
Die Straßen waren leer. Doch durch die beschlagenen Scheiben der Restaurants und Gasthäuser sah er Menschen und bog in die Seitenstraßen ab.
War er aufgeregt oder nervös? Lief er Gefahr, Fehler zu machen? Nein, er war ruhig, beinahe gelassen. Sein Puls schlug regelmäßig, und er genoss die kalte Luft in seinem Gesicht. Später würde er duschen, seine Haut würde rot sein.
In der Ferne ragte sein Ziel auf.
Die Wolken hingen unterhalb der Baumgrenze in den Tannenspitzen. Optimal, so hatte er keine Blicke verspätet zurückkehrender Wanderer zu befürchten. Ein Blick auf seine Armbanduhr. Ein Geschenk seines Großvaters zum Abitur. Pilot im Zweiten Weltkrieg und danach Skiläufer. Auf einer schwarzen Piste hatte er sich beide Beine gebrochen. Da war ihm bis zum Tod nur das Trinken geblieben. Sein Vater hatte es ihm nachgemacht, aber er selbst war stolz auf seinen klaren Kopf.
Majestätisch wurde die Skischanze von mehreren Scheinwerfern angestrahlt, um den Touristen ein Schauspiel zu bieten. Der Beton hob sich grau glänzend vor der Bergkulisse ab. Der Anblick erfüllte ihn stets mit Ehrfurcht. Die Höhe und Mächtigkeit des Bauwerks und die bevorstehende Tat jagten ihm einen wohligen Schauer...
Erscheint lt. Verlag | 6.1.2025 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Alpen • alte Schuld • altes Verbrechen • Angst • Ärztin • Atmosphärisch • Bedrohlich • Berge • Bernhard Aichner • bildgewaltig • Claire Douglas • Debüt • Dorf • Dorfgemeinschaft • Fesselnd • Gipfel • Heimat • Heimatdorf • Lügennetz • Macht • Melanie Raabe • Mittäter • Mitwisser • Mord • Pageturner • psychologisch • Rache • Rand der Alpen • regional • Rückkehr • Schnee • Schuld • Schweigen • Skischanze • Thriller • Toter • Vergangenheit • Vergeltung • Winter |
ISBN-10 | 3-8437-3550-6 / 3843735506 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3550-6 / 9783843735506 |
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