Die Bienen (eBook)

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2024 | 1. Auflage
300 Seiten
Kommode Verlag
978-3-905574-35-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Bienen -  Meelis Friedenthal
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Der junge Student Laurentius besitzt nicht mehr als eine Reisetasche und einen neugierigen Papagei namens Clodia, als er Ende des 17. Jahrhunderts im winterlichen Estland, in der Universitätsstadt Tartu ankommt. In diesem Umfeld, das in der Zukunft zum Zeitalter der Aufklärung führen sollte, sucht Laurentius wie besessen nach einem Heilmittel für die Krankheit, die ihn quält und die seine Zeitgenossen Melancholie nennen. Während er sich mit Fragen beschäftigt, die er nicht beantworten kann - woher kommt die Seele? Welche Beziehung besteht zwischen ihr und dem Körper? - wird er von der Welt des Aberglaubens und der Heilmittel der Bauern auf dem Land angezogen. Eine Welt, die er schon als Kind kannte, und die ihn in Träumen und Visionen heimsucht. Und eine Welt, die er fürchtet und die sich mit der Realität zu vermischen beginnt.

Der estnische Autor Meelis Friedenthal, geb. 1973 in Viljandi (Estland), hat an der Universität Tartu eine Doktorarbeit über einen philosophisch-theologischen Traktat aus dem 13. Jahrhundert über das Sehen und die Vision geschrieben. Friedenthal war als Dozent an der Fakultät für Theologie und Geschichte tätig und arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Universitätsbibliothek Tartu. Sein derzeitiges Forschungsthema ist die Geisteswissenschaft des 17. Jahrhunderts. Friedenthal hat sich einen Namen als Autor spekulativer Romane gemacht. Sein erster Roman 'Goldenes Zeitalter' handelt von der Rolle der Geschichte bei der Gestaltung unserer Identität und gewann 2004 den dritten Platz in einem nationalen Romanwettbewerb. Im darauffolgenden Jahr gewann seine Erzählung Nerissa einen estnischen Science-Fiction-Preis. Er ist außerdem Mitglied des Redaktionsausschusses des Webzines Algernon, das Science-Fiction-Geschichten, Nachrichten und Artikel veröffentlicht. Friedenthal hat während der Arbeit an 'Die Bienen' auch ein umfangreiches Postskriptum über den historischen Kontext der im Roman beschriebenen Ereignisse verfasst.

Der estnische Autor Meelis Friedenthal, geb. 1973 in Viljandi (Estland), hat an der Universität Tartu eine Doktorarbeit über einen philosophisch-theologischen Traktat aus dem 13. Jahrhundert über das Sehen und die Vision geschrieben. Friedenthal war als Dozent an der Fakultät für Theologie und Geschichte tätig und arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Universitätsbibliothek Tartu. Sein derzeitiges Forschungsthema ist die Geisteswissenschaft des 17. Jahrhunderts. Friedenthal hat sich einen Namen als Autor spekulativer Romane gemacht. Sein erster Roman "Goldenes Zeitalter" handelt von der Rolle der Geschichte bei der Gestaltung unserer Identität und gewann 2004 den dritten Platz in einem nationalen Romanwettbewerb. Im darauffolgenden Jahr gewann seine Erzählung Nerissa einen estnischen Science-Fiction-Preis. Er ist außerdem Mitglied des Redaktionsausschusses des Webzines Algernon, das Science-Fiction-Geschichten, Nachrichten und Artikel veröffentlicht. Friedenthal hat während der Arbeit an "Die Bienen" auch ein umfangreiches Postskriptum über den historischen Kontext der im Roman beschriebenen Ereignisse verfasst.

Es regnete in einem fort. Der Regen hatte die Ernte auf den Feldern verfaulen lassen, die Holzwände der Häuser mit Schimmel überzogen und die Decksplanken der Schiffe unter einer glitschigen Algenschicht begraben. Seit Monaten aß Laurentius vergammeltes Brot, er hatte in vermoderten Häusern gewohnt und war in der letzten Woche über ein feuchtes Schiffsdeck geschlittert. Schwarze Galle sammelte sich in ihm wie Schlamm, der an einem Stock haften bleibt, den man in einen Fluss gesteckt hat. Endlich stieg er nun vom schwankenden Boot auf den Hafenkai, trat auf die schlüpfrigen Bohlen, die auf die in den Uferschlamm getriebenen Pfeiler gehämmert waren, und schaute sich unschlüssig um. Unter tief hängenden Wolken spritzte ihm der Wind in Böen Gischt ins Gesicht, und er versuchte zu begreifen, was das für ein Land war, in das er sich aus freien Stücken begeben hatte. Der kahle Uferstreifen mit seinem weißen Sand und den vereinzelten Schilfbüscheln sowie die gleichförmigen grauen Wolken erinnerten ihn sehr an jenen Hafen, in dem er seine Reise angetreten hatte. Vor dem Hintergrund des grauen Himmels sah der Mast genauso aus und die daran emporgezogenen Leinentücher waren ebenso grau und ausdruckslos wie beim Antritt seiner Reise. Neben der weit ins Meer hinausragenden Brücke wurde eine teilweise von schmuddeligem Wasser überspülte Mole sichtbar, an deren Ende ein altes Wachhäuschen im Wasser kauerte, das offenbar schon geraume Zeit von niemandem mehr benutzt wurde. Solche Hausrudimente gab es in allen Häfen, und trotz seiner Erbärmlichkeit vermittelte dieser Anblick Laurentius ein Gefühl von Geborgenheit. Auch hier wurden Häfen umgebaut, auch hier erfolgte ein Ausbau für die neuen Schiffe, und die alten Wachhäuschen wurden aufgegeben.

Er seufzte und zupfte nervös das wassertriefende Tuch über dem Vogelbauer zurecht.

Es hatte ihm keine großen Anstrengungen bereitet, seine Habe mitzunehmen. Eine aus Eichenbrettern zusammengezimmerte Kiste reichte vollkommen aus – alles, was er für sein Studium benötigte, passte hinein. Sie ging jetzt mit den anderen Waren aus dem Laderaum des Schiffs zum Zoll, und wahrscheinlich würde er sie erst heute Abend ausgehändigt bekommen. Die Fracht des Schiffs mitsamt dem persönlichen Gepäck der Reisenden wurde sorgfältig inspiziert, und alles, was auch nur entfernt Zollgebühren einbringen konnte, wurde registriert. Das bereitete ihm an sich keine Sorgen, er hatte keine besonderen Wertgegenstände, die wenigen Bücher, die er sein Eigentum nannte, waren ganz offiziell zugelassen, und an Medikamenten hatte er nur einen winzigen Vorrat mitgenommen. Schwierigkeiten konnte dagegen der Vogelbauer mit dem Halsbandsittich bereiten. Schon daheim hatte man ihn gewarnt, der Transport eines Vogels würde nicht unbedingt einfach werden, und die klimatischen Bedingungen könnten für solch ein Tier fatal sein. Andererseits wollte er sich auch nicht von seinem Gefährten trennen, sodass er beschloss, das Risiko auf sich zu nehmen. Im Moment bestand seine größte Sorge darin, den Vogel möglichst rasch aus dem kalten Regen ins Warme zu schaffen.

Laurentius wischte das Regenwasser weg, das ihm trotz des breitkrempigen Hutes in die Augen geflossen war, warf unter seinem Mantel einen Blick auf die Taschenuhr und hielt nach jemandem Ausschau, der ihm den Weg zu einem Wirtshaus weisen und vielleicht später auch seine Kiste beim Zoll abholen könnte. Den Vogelkäfig wagte er niemandem anzuvertrauen. Es war Eile geboten, weil die Wege schon jetzt ziemlich schlecht waren und er die Weiterreise unter keinen Umständen hinauszögern wollte. Die herbstlichen Regenfälle, die immer dichter und heftiger wurden, unterspülten die ohnehin schon aufgeweichten Wege, und mit jedem Tag wurde ein Durchkommen schwieriger. Die Luft wurde allmählich eisig. Der Papagei konnte sich verkühlen. Es musste sofort ein Fuhrwerk oder Gespann gefunden werden, das Richtung Tartu aufbrach.

»Heda!«

Auf dem regennassen Hafenkai gab es nur ein paar vereinzelte Neugierige, die trotz des widerwärtigen Wetters hinausgekommen waren, um sich die eintreffenden Schiffe anzusehen. Ihnen war vermutlich völlig klar, dass sie kaum Aussicht auf Arbeit hatten, weswegen sie auf Laurentius’ Zuruf zunächst überhaupt nicht zu reagieren wussten. Die gesamte Fracht wurde von den Matrosen beim Zollhaus abgeladen, und mit gelangweilter Nachlässigkeit machten sich die von den Kaufleuten gedungenen Ladearbeiter daran, die glitschigen Kisten und durchfeuchteten Säcke auf ihre Karren zu hieven. Amtmänner verzeichneten die Waren.

Laurentius rief erneut:

»He, du da!«

Als der Schaulustige in seinem fadenscheinigen und abgenutzten Wams träge aufblickte, machte Laurentius eine einladende Handbewegung für den Fall, dass der andere seine Sprache nicht verstünde. Der Mann sah aus wie eine Figur auf den Gemälden schwermütiger Künstler aus dem mittleren Zeitalter, die er in Holland gesehen hatte: Unter einem platt gedrückten Filzhut lugten Haarsträhnen unbestimmter Farbe hervor, die Nase war höckerig und gerötet, unter den schütteren Bartstoppeln konnte man ein vernarbtes Kinn erahnen. Laurentius hatte das Gefühl, dem Mann hätte wunderbar ein Schild mit der Aufschrift »Niedertracht« um den Hals gepasst. In allen Häfen lungerte solch Volk herum, und meistens war das aufgrund ihres Äußeren instinktiv getroffene Urteil korrekt. Andererseits waren diese Figuren die besten Kenner der Krüge und Herbergen einer Stadt, und so konnten sie von großem Nutzen sein. Sie hauten einen freilich immer übers Ohr, die Frage war nur, ob man mehr oder weniger betrogen wurde.

»Bring mich in ein ordentliches Wirtshaus«, bedeutete Laurentius ihm kurz und sah zu, wie der Mann sich, ohne ein Wort zu sagen, in Bewegung setzte. Also hatte er die Sprache hoffentlich verstanden – oder wenigstens erahnt, worum es ging.

Laurentius nahm den Papageienkäfig vorsichtig auf den Arm und folgte dem Mann in die Stadt. Der Vogel kreischte aufgeregt.

»Pst, Clodia, sei ruhig.«

Sie schritten durch die rasch einsetzende Dämmerung weiter, und Laurentius versuchte, den Käfig möglichst wenig zu schwenken. Gegen den Abendhimmel zeichneten sich drohend die dicke, aus klobigen Steinbrocken aufgestapelte und steil aufragende Stadtmauer, die runden, mittelalterlichen Festungstürme und vier hohe Kirchen ab, während die niedrigeren Häuser von einem teigigen Dunstschleier verschluckt wurden, der aus den Wolken träufelte. Der Mann vor ihm hatte einen überraschend hurtigen Schritt und schien sehr genau zu wissen, wohin er wollte. Bei Laurentius dagegen brach die alte Krankheit immer heftiger hervor. Diese unaufhörlich hervorquellende Feuchtigkeit, die sich überall einnistete, wirkte sich schlimmer aus als in früheren Jahren. Für gewöhnlich machte der Überschuss der in seinen Gedärmen gärenden schwarzen Galle seinen Körper erst im Spätherbst matt und schlaflos, aber in diesem Sommer hatte es schon um Johanni herum zu regnen begonnen, und dieses endlose Geplätscher hatte seine Eingeweide, sein Herz und sein Hirn in einen kleistrigen Nebel gehüllt. Als er nun vom Schiff an Land gegangen war und auf den platten, blank gewetzten Pflastersteinen einherschritt, erzeugte die Erinnerung an das Schwanken des Schiffes zusätzlich ein Gefühl, als müsse er sich durch einen Sumpf quälen. Jeder Schritt war eine Kraftanstrengung.

»Uff«, brummte er. »Noch ein kleines bisschen.«

Er betrachtete den gekrümmten Rücken des vor ihm gehenden Lumpenbündels und nahm sich vor, doch lieber jemand anderen nach seiner Kiste zu schicken. Mit solchen am Hafen aufgelesenen Tagedieben konnte es leicht Ärger geben. Vermutlich würde ihm der Wirt helfen können. Er versuchte sich daran zu erinnern, wie die Tallinner Münzen aussahen, über die ihm auf dem Schiff verschiedene Reisende Auskunft gegeben hatten und über die vollständige Klarheit zu erlangen ihm, wie er schon damals geschlussfolgert hatte, verwehrt bleiben würde. In der Ars apodemica, den Büchern, die von der Kunst des Reisens berichten, wurden die Verhältnisse in Estland und Livland beinahe mit keinem Wort erwähnt – dort fanden sich eher allgemeine Richtlinien, worauf man achten sollte und wie man verständig seine Umgebung studierte. Die hiesigen Städte und Länder waren apodemisch ein völlig unbeschriebenes Blatt – zum Vergnügen fuhr man schließlich woandershin, in den Süden. An Orte mit Kultur und Geschichte. Er konnte sich jedenfalls an nichts Diesbezügliches erinnern. Ihm dröhnte der Kopf.

»Nun gut«, entschied Laurentius schließlich. »Ein Sechstel Öre müsste auf jeden Fall genug sein.«

Es war schon beinahe stockdunkel, als sie endlich unter einer gelben Laterne haltmachten, die ein überraschend anständig aussehendes Wirtshaus beleuchtete, das nur ein kleines Stück vom Stadttor entfernt war. Der Mann streckte seine Hand aus und Laurentius ließ die kleine Münze, die er sich schon heimlich aus seiner Tasche herausgesucht hatte, hineinfallen und senkte den Blick. Der Mann beäugte die ihm ausgehändigte Münze einen Moment und schenkte ihm dann ein breites Lächeln.

Verflixt, dachte Laurentius. Habe ich ihm doch zu viel gegeben.

Er zwängte sich mit seinem Käfig durch die Tür.

»Wünschen der Herr noch etwas?«, erkundigte sich das Lumpenbündel in überraschend gutem Deutsch.

Laurentius zögerte. Am liebsten hätte er den Mann schnellstmöglich verschwinden sehen, denn wer sich aus eigenem Antrieb an deine Fersen heftet, ist gewöhnlicherweise ein rechter Spitzbube.

»Ich muss nach Tartu«, sagte er dann zu seinem eigenen...

Erscheint lt. Verlag 2.9.2024
Übersetzer Cornelius Hasselblatt
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte 17. Jahrhundert • Aberglaube • Aufklärung • Depression • Einsamkeit • Estland • Heilmittel • Heilung • Hexenverfolgung • Historischer Roman • Melancholie • Realitätsverlust • Roman • Schwedisches Reich • Tartu • Übernatürliches • Vereinsamung • Wissenschaft
ISBN-10 3-905574-35-7 / 3905574357
ISBN-13 978-3-905574-35-7 / 9783905574357
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