Germanische Göttersagen (eBook)

Tetzner, Reiner - Lektüre für den Deutsch-Unterricht - 14554 - Durchges. Ausgabe 2024
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2024 | 1. Auflage
219 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962347-4 (ISBN)

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Germanische Göttersagen -  Reiner Tetzner
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Germanische Superhelden Die Göttersagen mit ihren Geschichten von Asen und Vanen, Odin, Thor, Loki und Freyja folgen hauptsächlich der altnordischen Edda, die im mittelalterlichen Island aufgeschrieben wurde. Erzählt wird unter anderem die Schöpfung mit der Geburt der Asen-Götter, der Bau der Welten und der Zweikampf zwischen dem Donnergott Thor und dem Riesen Hrungnir. Ganz jenseits von Germanenkult und fataler Verklärung von »Nibelungentreue« und Heldentum hat der Leipziger Autor Reiner Tetzner die germanischen Göttersagen Mittel- und Nordeuropas aus den Quellen neu erzählt.

Reiner Tetzner, geb. 1936, ist ein deutscher Publizist. Er veröffentlichte zahlreiche Werke über griechische und germanische Götter- und Heldensagen und ist Gründungsmitglied des Arbeitskreises für Vergleichende Mythologie und des Sächsischen Literaturrats.

Reiner Tetzner, geb. 1936, ist ein deutscher Publizist. Er veröffentlichte zahlreiche Werke über griechische und germanische Götter- und Heldensagen und ist Gründungsmitglied des Arbeitskreises für Vergleichende Mythologie und des Sächsischen Literaturrats.

Odins Pflegesohn König Geirrod


Odin und Frigg nahmen Pflegesöhne an oder ließen sie aufziehen, damit mehr Männer ihres Sinnes in der Menschenwelt herrschten und sie besser gegen Feinde schützen konnten.

Odin und Frigg saßen auf Hlidskjalf und gerieten in Streit, wer den Pflegesohn, den jeder von den Menschen angenommen, am besten erzogen hatte.

Frigg hatte Agnarr als Pflegesohn aufziehen lassen. Und Odin deutete von Hlidskjalf in die Richtung einer dunklen Höhle und sagte: »Siehst du, wie dein Pflegesohn in dieser Grotte haust und mit einer tapsigen Riesin Kinder zeugt.« Odin und Frigg sahen von Hlidskjalf aus zu und fanden es abstoßend.

Triumphierend sagte Odin: »Aber siehst du dort das große Land, da regiert mein Pflegesohn Geirrod als König.«

»Aber durch welche Widerwärtigkeit machtest du ihn zum König?«, sagte Frigg.

»Und wer hatte den Einfall«, entgegnete Odin, »König Hraudung zwei Söhne wegzunehmen und zu wetten, wer von uns beiden seinen Pflegling zum Tüchtigsten erzieht?«

König Hraudung hatte zwei Söhne gehabt, der eine hieß Agnarr und war zehn Jahre alt, der andere, Geirrod, und war acht Jahre alt. Beide waren unzertrennlich gewesen, spielten, jagten und fischten gemeinsam. Einmal waren sie wieder mit einem Boot aufs Meer gefahren, um Kleinfische zu fangen. Während der eine Bruder ruderte, saß der andere hinten im Boot und schwenkte die Angel hin und her. Es bissen so viele Fische an, dass die Brüder darüber den starken Wind übersahen, der aufkam und sie aufs Meer hinaustrieb.

In der stockdunklen Nacht gerieten die Brüder in fremde Gewässer und strandeten an einer Klippe. Agnarr und Geirrod retteten sich an Land, irrten an der unbekannten Küste umher und kamen an eine Hütte. Ein Bauer und seine Frau nahmen sie auf. Und die Brüder blieben bei ihnen den Winter über. Die Frau kümmerte sich auf Geheiß Friggs um Agnarr und erzog ihn ehrenhaft, während der Bauer Geirrod im Sinne Odins List und Verschlagenheit lehrte. Nach anderen Berichten sollen die Frau Frigg und der Bauer Odin selbst gewesen sein.

Im Frühjahr wollten die Brüder nach Hause zurückkehren. Der Bauer beschaffte ihnen ein Schiff, das Odin geschenkt hatte; und das Ehepaar begleitete die Brüder zum Strand. Auf dem Wege flüsterte der Bauer seinem Pflegling Geirrod etwas ins Ohr.

Die Brüder stießen mit dem Boot vom Ufer ab und bekamen sofort günstigen Fahrtwind, segelten rasch über das Meer und gelangten zum Anlegeplatz beim Hofe ihres Vaters. Geirrod stand vorn im Boot, sprang sofort an Land, stieß das Boot ins Meer zurück und rief: »Fahr zu den Trollen!« Und sosehr Agnarr aufs Land zuruderte, das Boot trieb rasch aufs Meer zu den Inseln, wo die Trolle hausten. Von dort gelang ihm keine Rückkehr.

Geirrod ging zu seinem elterlichen Hof, wurde von der Gefolgschaft mit Jubel begrüßt und erfuhr vom Tod seines Vaters. Und da der älteste Sohn Agnarr, dem zuerst das Erbe zugefallen wäre, als verschollen und damit als tot galt, wurde Geirrod König. Er wurde mächtig und berühmt.

Frigg sah von Hlidskjalf, wie Geirrod in seiner prunkvollen Halle zechte und sich von seinem Gefolge ehren ließ. Und sie blickte angewidert von der Höhle weg, wo ihr Pflegesohn sich mit pfeifendem Atem mühte, einem hässlichen Trollweib ein Kind zu machen.

»Dein Pflegesohn Geirrod geizt so mit dem Essen«, stichelte Frigg Odin, »dass er seine Gäste, kommen ihrer zu viele, hungern und dursten lässt.«

»Das ist die größte Lüge«, verteidigte Odin seinen Pflegesohn.

Da wetteten Frigg und Odin um die Freigebigkeit Geirrods.

Odin beschloss, seinen Pflegesohn selbst zu prüfen.

Frigg aber sandte ihr Kammermädchen Fulla zu Geirrod und ließ ihn vor einem zauberkundigen Mann warnen, der sein Land heimsuche. Man erkenne den Fremden daran, dass auch der bissigste Hund ihn nicht anspringe.

Geirrod ließ jenen Mann aufspüren und freundlich in seine Halle laden. Dieser Mann nannte sich Grimnir, was Der Maskierte heißt, und trug einen weiten blauen Mantel. Sosehr der König den Fremden mit Speisen lockte und durch Fragen peinigte, er verriet weder, woher er komme, noch, was er vorhabe. Entgegen allen Warnungen ließ der König den Fremden in seine Halle zwischen zwei Feuer setzen und so acht Tage foltern. Speisen und Getränke wurden ihm nur gezeigt.

König Geirrod hatte einen Sohn, der war nach dem angeblichen Tod seines Onkels Agnarr geboren, galt als dessen Wiedergeburt, hieß auch Agnarr und war inzwischen ebenfalls zehn Jahre alt.

Dieser Agnarr trat zu Grimnir, den Durst quälte, und sagte, sein Vater Geirrod handle schlecht, wenn er ihn schuldlos peinige. Agnarr reichte dem Mann zwischen den Feuern ein Trinkhorn voll Bier.

Grimnir leerte das Horn in einem Zug so rasch, dass es in seiner ausgedörrten Kehle zischte. Und eine Flamme sprang auf Grimnirs blauen Mantel und entzündete ihn.

»Wie heiß! Weg von mir, Flamme! Versengst mir das Tuch!«, rief Grimnir.

Nach diesen Worten erlosch der Brand auf Grimnirs Mantel, und das Feuer ließ von ihm ab. Dann sprach Grimnir weiter: »Ich schwitzte acht Nächte lang zwischen den Feuern, gleich bricht die neunte an. Keiner reicht mir Speise oder ein Trinkhorn, als einziger du, Agnarr. Der Gott, den die Menschen am meisten achten, entbietet dir Heil, Agnarr, nie wird ein Trunk besser vergolten werden. Du sollst herrschen über das ganze Land.«

Agnarr wollte dem Gepeinigten ein zweites Horn reichen, aber König Geirrod riss es seinem Sohn aus der Hand und schüttete es auf dem Boden aus. Das Bier verdampfte auf dem heißen Stein neben Grimnirs Füßen.

König Geirrod ließ sich dieses Trinkhorn unter Grimnirs Augen wieder füllen, bis das Bier über den Rand schäumte. »Wer bist du, Grimnir?«, forschte Geirrod den Fremden weiter aus.

Der saß unbewegt zwischen den Feuern und sprach: »Man nannte mich auch Graubart und Den Flammenäugigen.«

Da kicherte Geirrod und ließ das linke Feuer einen Fußbreit näher an Grimnir heranschieben. Aber die Flammen wichen seinem blauen Mantel aus.

»Und man nannte mich Den im Verführen Gewandten«, sagte Grimnir.

»Nicht einmal ein kleiner Zauberer bist du!«, rief Geirrod und ließ sich nachschenken. »Sonst hättest du längst das Feuer erstickt.«

Grimnir lachte und sagte: »Wem kann man schon trauen? Einer lodernden Flamme? Einer krächzenden Krähe? Einem gezähmten Bären, der dir etwas vortanzt, dessen Wildheit aber sofort durchbrechen kann? Einer Schlange, die zusammengeringelt Frieden vortäuscht? Oder einem König, der zu einem Gespräch beim Bier in seine Halle lud? Und gar, was dir ein Mädchen im Bett zuflüstert?«

»Auch wir Männer«, sagte Geirrod, »täuschen die Frauen. Wenn wir am meisten schmeicheln, denken wir am heimtückischsten.«

»Die Frauen übertreffen uns darin«, erwiderte Grimnir.

»Den im Verführen Gewandten täuscht niemand!«, rief Agnarr.

»Ich saß im Röhricht«, begann Grimnir, »und wartete auf eine Schöne. Vor Tagen hatte ich ihren strahlend schönen Leib beim Baden gesehen, seitdem begehrte ich sie. Das Mädchen war mir so lieb wie das Leben. Aber sie kam nicht zur Verabredung. Da überraschte ich sie morgens in ihrer Kammer, trat an ihr Bett und fand die Sonnenweiße schlafend, sie glänzte heller als ein Sonnenstrahl. Eher wollte ich auf meine Würde und alle Besitzungen verzichten als auf die Schöne. Sie erwachte, erkannte mich und sprach: ›Komm am Abend, da bin ich heiter und geschmückt. Aber verrat das keinem, sonst bricht meine Keuschheit wie dereinst der Weltenbaum!‹ Anstatt stracks in ihr Bett zu steigen und die Taufrische zu nehmen, vertraute ich ihren Worten, verließ ihre Kammer und wartete voll Liebeslust. Als ich dann abends kam, standen ihre Gefolgsleute vor ihrem Haus, klirrten mit den Waffen und leuchteten mir mit brennenden Fackeln heim.«

König Geirrod lachte schallend und ließ sich das Trinkhorn füllen. Grimnir sprach im gleichen Ton weiter: »Am Morgen schlief das Gefolge vom Rausch. Und wieder schlich ich mich in die Kammer ans Bett der Schönen, zur Verführung entschlossen. Im Dämmer schimmerte der blonde Schopf der Anmutigen seltsam schmal, und ihr Kopf schien spitz. Vielleicht vor Gram? Ich schlug die Decke zurück. Da lag nicht die Schöne, sondern eine Hündin an ihr Bett gebunden. Die knurrte feindselig und bellte mich aus dem Hause.«

Da lachte Geirrod so, dass er das Bier aus seinem Trinkhorn schüttete und meinte: »Diese Geschichte wird auch Odin nachgesagt.«

»Vater«, warnte Agnarr König Geirrod, »erkennst du ihn nicht? Grimnir trägt einen blauen Mantel und hat nur ein Auge!«

Geirrod lachte seinen Sohn aus und ließ sich nachschenken. »Wie viele tragen blaue Mäntel. Und manchem Graubart wurde in der Jugend ein Auge ausgeschlagen!«

»Und dass die bissigsten Hunde vor ihm wegsprangen?«

Geirrod war sich seines Urteils sicher. »Odin schuf den Himmel. Odin hob die Erde aus dem Meer. Odin machte aus Baumstämmen die ersten Menschen. Glaubst du, dieser Gott würde sich von mir acht Tage lang zwischen zwei Feuer setzen lassen?«

Da schwieg Agnarr.

Und Grimnir sprach weiter: »Wie gering ist der Schmerz wegen eines Mädchens gegen jenen, den ich mir selbst zufügte, als ich auf die Weltenesche stieg und mich an ihr aufhing, als ich mich dem Odin opferte, als ich mit dem Speer verwundet wurde und mein Blut auf die Erde tropfte, als keiner mir acht Tage lang Brot oder ein Trinkhorn reichte und ich ausdörrte wie Stockfisch. Aber am neunten Tag wurden mir von unten Runenstäbe gereicht. Ich griff nach ihnen, nahm sie schreiend auf und fiel befreit auf die Erde zurück. Nun wurde...

Erscheint lt. Verlag 6.9.2024
Reihe/Serie Reclams Universal-Bibliothek
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Märchen / Sagen
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Altnordische Sagen • Antike • Deutsch • deutsch-lektüre • Deutsch-Unterricht • Dietrich von Bern • Edda • Fabeln • gelb • gelbe bücher • Germanen • Germanien • germanisch • Germanische Göttersagen • Göttersagen • Helden • Klassenlektüre • Lektüre • Literatur Klassiker • Mittelalter • Mythen • Mythologie • Nacherzählung • Nibelungenlied • Nordische Sagen • Odin • Reclam Hefte • Reclams Universal Bibliothek • Sagen • Schullektüre • Weltliteratur • Wieland der Schmied
ISBN-10 3-15-962347-5 / 3159623475
ISBN-13 978-3-15-962347-4 / 9783159623474
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