Aufzeichnungen aus der Höhle (eBook)
320 Seiten
Schöffling & Co. (Verlag)
978-3-7317-0007-4 (ISBN)
Vom Glück, Joshua Cohen zu entdecken, zu lesen und zu übersetzen: Vorwort des Herausgebers und Übersetzers
Wer von Joshua Cohen schon die Romane und Erzählungen kennt, muss unbedingt auch die Essays von Joshua Cohen kennenlernen. Wer Joshua Cohen noch nicht kennt, findet mit seinen Essays den besten Einstieg in ein fabelhaftes, funkelbuntes, vielfältiges, vieldeutiges Werk voll Sprach- wie Spielwitz, voller aktueller wie existenzieller Dichte und voller philosophischer wie philologischer Liebe und Leidenschaft für Literatur. Auf jeden Fall sind Sie hier genau richtig. Hier in diesem Buch. Lehnen Sie sich zurück, entspannen Sie sich, denn Sie haben das Glück, gleich einen Querschnitt durch das wunderbare Essaywerk von Joshua Cohen zu entdecken.
Nicht alle Autorinnen und Autoren von Fiktionen, Gedichten oder Stücken sind gleichzeitig auch Rezensenten oder Essayistinnen. Müssen sie auch nicht sein. Schreibende brauchen nicht auf allen Gattungshochzeiten das Tanzbein und die Schreibfeder zu schwingen. Manche sind am stärksten in der Konzentration auf ein einziges Kerngenre: So galt James Joyce’ und Marcel Prousts Fokus beispielsweise hauptsächlich den großen Romanen, während man beim Lesen ihrer Essays und Rezensionen mitunter den Eindruck gewinnt, dass sie nebensächlicher Natur und eher Beifang als Hauptziel waren. Dennoch ist das Hochzeitsbankett der Literaturgeschichte (oder besser: das Trinkgelage der Literatur) voller Schreibender, die der Fiktion oder der Lyrik immer wieder bewusst den Rücken zukehren, um sich ihnen dann wieder mit neuer Kraft und neuer Lust zuzuwenden.
Gerade in der »kleineren« Form der gelegentlichen Rezension von Büchern anderer oder in eher peri-literarischen Essays über die Welten außerhalb von Romanen haben Autorinnen und Autoren ein Übungsfeld für ihre Sprach- und Gedankenspiele gefunden. So unterschiedliche Schreibende wie Virginia Woolf, James Baldwin, Toni Morrison oder David Foster Wallace (unter den Toten – leider!) sowie John Banville, Colm Tóibín, Lydia Davis und Anne Carson (unter den Lebenden – Daumen sind gedrückt!) haben sich in der essayistischen Form warmgeschrieben, haben ausprobiert, experimentiert, haben Erfahrungen getankt, aber auch Ideen, Theorien und Szenerien sowie ästhetische Neuerungen entdeckt, die ihre Prosa- oder Lyrikwelten bereichern, ergänzen oder auch mit ihnen in eine Diskussion treten.
Die altbewährte Definition des Essays nach Michel de Montaigne mag vielleicht zu Tode geritten (oder getrampelt) sein. In der Versuchsform des essai (aus dem Französischen für Versuch, Probe, Testlauf) steckt heute aber vielleicht so viel Leben wie in der Literaturgeschichte lange nicht. Für Montaigne war der Essay ein Mittel zur Selbsterforschung, aber wie die Selbstbetrachtungen von Marc Aurel waren Montaignes Essays alles andere als egozentrische Nabelschau. Im Gegenteil wurde am Beispiel eines einzelnen schreibenden Ichs die sublime Wirklichkeit der Menschen in Gänze erkundet oder probeweise durchgespielt.
Literatur, große Literatur, ist letztlich nichts anderes als eine Tiefenbohrung im Stollen der Menschenwirklichkeit. Essayistinnen und Essayisten sind dabei die Kanarienvögelchen, die sich als Vorhut unter Tage begeben – als Versuchsmittel, als Frühwarnsystem –, um auszuloten, was sich in den Tiefen der Welt verbirgt, ob sie Freude, Einsicht, Nutzen oder Gefahr bergen.
Anders als Romane, die viel mehr auf Langsamkeit zählen – darauf, dass sich die Sedimente der Zeit abgesetzt, dass die Realität sich etwas beruhigt und zu etwas Historischem mariniert hat –, sind Essays manchmal ähnlich flinke Frühwarnsysteme, Auslotungen höchst aktueller ästhetischer wie politischer Phänomene und Momente.
Joshua Cohens Essays sind Kabinettstücke in literarischem Einfallsreichtum und intellektueller Strenge, die hervorstechende, aber auch gerade erst aufkeimende Aspekte der Wirklichkeit ausloten. Sie vereinen scharfe Kritik mit spielerischer Gewandtheit, die Lesende sowohl unterhalten als auch erhellen. Ein rasch herausgegriffenes Beispiel aus dieser Sammlung: Lange bevor in allen Details klar wurde, mit welchen Mobstermitteln Donald Trump sein Kabinett führen würde, verfasste Cohen einen Langessay über die gescheiterten Kasino-Geschäfte des Trumpeltiers in Atlantic City. Cohen, der in der Küstenstadt in New Jersey aufwuchs, wies in »Der allerletzte Sommer: Über Donald Trump und den Untergang von Atlantic City« früher, klüger und witziger als die meisten darauf hin, was für einen umgekehrten Midas-Finger, welch verheerendes Geschick, es eigentlich braucht, um ein Kasino in den Bankrott zu treiben. Cohens Essay über den Ort seiner Kindheit und Jugend ist dabei eine brillante Mischung aus Stadtgeschichte und persönlicher Erzählung, die den verblassten Glamour von Atlantic City und den beständigen Geist dieser vielgestaltigen Stadt und ihrer Bewohner einfängt und dabei doch ganz allgemein über die USA als ein absterbendes Reich, ein Empire auf Zeit, spricht.
Vermehrt suchen die Nachwellen und Nachwehen der Trump-Regierung Cohens Essays heim wie ein ungebetener Gast, ein unbequemer Geist. Zum Beispiel in »Israels Zeit der Unzufriedenheit« über den 70. Jahrestag des Staates Israel, in dem der Autor unter anderem die Verbandelung der Trumps mit der Netanjahu-Regierung beleuchtet, und zwar noch bevor Cohen sich als Romancier einen Kindheitsmoment aus dem Leben Benjamin Netanjahus vornimmt, in seinem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman Die Netanjahus (oder vielmehr der Bericht über ein nebensächliches und letztlich sogar unbedeutendes Ereignis in der Geschichte einer sehr berühmten Familie) von 2021.
Als jüdischer Schriftsteller, der in einer Tradition von Autoren und Autorinnen wie Saul Bellow, Philip Roth, Bernard Malamud oder Cynthia Ozick schreibt, spielt die israelische Kultur und Literatur, aber auch die israelische Politik bei Cohen immer wieder eine Rolle. So verfasste er mit dem Essay »Schloschim (aus dem Tagebuch)« kurz nach dem 7. Oktober 2023 persönliche wie politische Aufzeichnungen, die einen emotionalen und hellsichtigen Blick auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina werfen, dessen rationaler, sowohl jüdische als auch palästinensische Erfahrungen beleuchtender Ansatz, verdeutlicht, wie brennglasgenau Cohen seine Zeit, seine Wirklichkeit und sich selbst in den Blick nimmt.
Die hier versammelten Essays des 1980 geborenen Schriftstellers, der lange als Auslandskorrespondent für die Zeitung Jewish Forward sowie als Buchkritiker für die Wochenzeitschrift Harper’s tätig war, stellen lediglich eine Auswahl dar, die einem deutschen Lesepublikum erstmals einen gebündelten Eindruck von dem Essayisten Cohen vermitteln. Entstanden sind die Texte zwischen 2011 und 2023 (obschon in wenigen Fällen verwendetes Material auf Texte von 2009 zurückgeht). Die Auswahl zeigt Cohens Entwicklung von einem Insidertipp und writer’s writer – einem Autor, der am allermeisten von seinen mitschreibenden Zeitgenossen wahrgenommen wurde – zu einem household name, der heute als eine der interessantesten Stimmen – für mich die interessanteste Stimme – seiner (und meiner) Generation geschätzt wird.
Da das Diktat der Zeit uns aber ohnehin schon genügend Schwierigkeiten bereitet, habe ich mich bei der Auswahl dieser Essays ganz bewusst gegen eine Chronologie entschieden. Die Texte sind lose thematisch geordnet, und das Buch ist eher kreisförmig als linear gestaltet, lässt sich von Buchdeckel bis Buchdeckel, aber auch häppchenweise lesen. Es endet und beginnt mit Texten, die man frei nach David Foster Wallace als floating-eyeball-essays bezeichnen kann – Essays, in denen das kühn beobachtende Auge eines Schriftstellers durch die Welt schwebt und sich nicht zu literarischen Belangen äußert, sondern zu alltäglichen politischen oder kulturellen Phänomenen.
In der Mitte dieses Kreises steht mithin das, womit sich der Vielleser und Vielschreiber Cohen am besten auskennt: köstlichste Literatur. In ausführlichen Würdigungen von Franz Kafka, Gregor von Rezzori, Bohumil Hrabal und Giacomo Leopardi erarbeitet Cohen eine theoretische Grundierung von Realismus und Naturalismus und knüpft an bedeutende literaturgeschichtliche Bezugspunkte an. In blühenden, glühenden Essays über Thomas Pynchon, Eimear McBride, Liu Xiaobo und Philip Roth sowie der immer gegenwärtigen Frage nach dem Ende des Buches (was nicht immer, aber oft mit dem Ende der Literatur gleichgesetzt wird) experimentiert er spielerisch mit der Frage, wie sich am besten über (Beinahe-)Zeitgenossen und Zeitgeschichte schreiben lässt. Und in seinem Essay über Georges Perec stellt er fast nebenbei fest, dass Perecs Œuvre sich auf den ersten Blick nur beiläufig mit dem Holocaust befasst, weil die Shoah darin nicht explizit (und nie auf realistische Weise) ins Licht gerückt wird. Hier wie überhaupt dienen die in diesem Buch versammelten Essays nicht nur als Lesefreuden und Denkanstöße, sondern auch als poetologische Geheimtürchen in Cohens eigenes Romangebäude. Denn was er hier über Perec sagt, lässt sich fast lückenlos übertragen auf Cohens großen experimentellen Roman Witz aus dem Jahr 2010.
Dass Cohen im besten Sinne Witz hat – nämlich im englischen Sinne des Wortes wit, sprich gleichzeitig Humor, Komik und Geist, Intelligenz –, das wird auf beinahe jeder Seite seiner Essays...
Erscheint lt. Verlag | 10.10.2024 |
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Übersetzer | Jan Wilm |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | amerikanische Politik • Gegenwartsanalyse • Internationale Politik • Kulturkritik • Literatur • USA |
ISBN-10 | 3-7317-0007-7 / 3731700077 |
ISBN-13 | 978-3-7317-0007-4 / 9783731700074 |
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