Die Totgeglaubte (eBook)
480 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-30541-3 (ISBN)
Seit Evie Cormac als Kind entführt und gefangen gehalten wurde, ist ihre Erinnerung an diese Zeit wie ausgelöscht. Bis sie an einem heißen Sommertag Zeugin eines Bootsunfalls an der Küste von Lincolnshire wird. Siebzehn Leichen werden ans Ufer gespült, es gibt nur einen Überlebenden, zwei Frauen werden vermisst. Der forensische Psychologe Cyrus Haven erkennt sofort, dass diese Tragödie Evies Erinnerungen triggert. Wenn er dieses Verbrechen aufklärt, kann er das Geheimnis um ihre Vergangenheit lüften. Doch wie hoch ist der Preis, den Evie dafür zahlt? Je näher sie der Wahrheit kommen, desto tödlicher wird die Gefahr ...
Michael Robotham wurde 1960 in New South Wales, Australien, geboren. Er war lange als Journalist tätig, bevor er sich ganz der Schriftstellerei widmete. Mit seinen Romanen stürmt er regelmäßig die Bestsellerlisten und wurde bereits mit mehreren Preisen geehrt, unter anderem mit dem renommierten Gold Dagger. Michael Robotham lebt mit seiner Familie in Sydney.
»Robotham: Weltklasse!« – Die Zeit
»Ohne jeden Zweifel: Michael Robotham ist definitiv einer der besten Thrillerautoren der Welt.« – literaturmarkt
3
Evie
Cyrus gibt Essig auf seine Fish and Chips. Der Geruch bleibt mir im Hals stecken, sodass ich beinahe würgen muss.
»Auch eine Art, eine Mahlzeit zu ruinieren«, sage ich.
»Mach es nicht schlecht, bevor du es probiert hast.«
»Ich verzichte.«
Wir suchen einen Platz, wo wir uns zum Essen hinsetzen können, aber der Pier ist voller Leute, die nach Sonnenschutz stinken, mit Hauttönungen von rosa bis halb verbrannt. Dies ist der heißeste Sommer seit Menschengedenken, und Cyrus sagt, er mache sich Sorgen wegen des Klimawandels, doch die meisten Leute am Strand sind offenbar ganz froh, dass der Planet wärmer wird.
»Hast du die Frau bemerkt, die dich angesehen hat?«, frage ich. »In dem Café – sie hat versucht, Blickkontakt mit dir herzustellen.«
»Wirklich?«
»Du merkst nie, wenn Frauen mit dir flirten.«
»Vielleicht bemerke ich es, ignoriere sie aber«, sagt er.
»Was hatte sie an?«
»Apricotfarbene Shorts, beigefarbenes Leibchen, weiße Sandalen, eine Sonnenbrille, in die Stirn geschoben.«
»Du bist ein Arschloch!«
Er lacht. Wir essen unsere Fish and Chips und werfen das zerknüllte fettdichte Papier in eine Mülltonne.
»Was möchtest du jetzt machen?«, fragt er.
»Ein Eis essen«, sage ich, lecke mir Salz von den Fingern und hake mich bei ihm unter. »Und danach darf ich mir etwas aussuchen.«
»Wann bin ich dran?«, fragt er.
»Nie. Das weiße männliche Vorrecht ist tot.«
Wir verlassen den Pier und überqueren die Promenade zu einer Eisdiele, die auf einem bunten Schild mit vierundzwanzig Geschmackssorten wirbt. Ich bestelle zwei Kugeln und bestehe darauf, dass Cyrus das Gleiche tut, damit ich seine Auswahl probieren kann.
»Hier lang«, sage ich und lecke einen cremigen Tropfen von meinem Handgelenk. Ich führe ihn an einer Spielhalle vorbei und an Läden, die kitschige Souvenirs und aufblasbares Strandspielzeug verkaufen. Vor einem Haus mit rot gestrichener Tür und dunklen Vorhängen, das mir schon vorhin aufgefallen ist, bleiben wir stehen. Im Fenster hängt ein Schild.
Spirituelle Beratung – Rückführungen, Tarot, Runen, Handlesen, Numerologie und intuitives Heilen.
Es ist kein Zufall, dass du diesen Ort gefunden hast. Du bist aus einem GRUND hier, und ich bin hier, um dir zu helfen.
»Das ist nicht dein Ernst«, sagt Cyrus.
»Was soll das heißen?«
»Handlesen. Wahrsagen. Intuitives Heilen. Das ist Unsinn.«
»Glaubst du nicht an Spiritismus?«
»Nein.«
»Aber du wohnst in einem Spukhaus.«
»Es ist alt, nicht von Gespenstern besessen.« Er wendet sich wieder dem Strand zu. »Diese Leute sind Schwindler. Sie stellen Suggestivfragen, fischen nach Informationen, deuten die Körpersprache und achten auf verbale Indizien.«
»Das machst du doch auch«, sage ich.
»Das ist etwas anderes. Ich bin Psychologe.«
»Vielleicht bist du auch nur engstirnig. Meine Oma war Wahrsagerin. Sie hatte schon als kleines Mädchen angefangen, Geister zu sehen, und sie konnte Flüche aufheben. Außerdem hat sie Auren erkannt. Sie sah jemanden an und sagte: ›Du bist blau‹ oder ›Du bist rot‹.«
»Genial«, sagt er.
»Sei nicht so fies.«
»Bitte verschwende dein Geld nicht. Die Zukunft steht nicht in deiner Handfläche geschrieben und schwebt auch nicht in einer Kristallkugel.«
»Es ist mein Geld«, sage ich und strecke die Hand aus, damit er mir seine Brieftasche gibt.
»Ach ja?«
»Ich zahl es dir zurück.«
Ich nehme einen Zwanzig-Pfund-Schein und stoße die Tür auf. Über meinem Kopf läutet ein Glöckchen, und eine Frau erscheint. Ich hatte erwartet, dass sie in schillernde Gewänder gekleidet ist, doch sie sieht aus, als hätte sie gerade den Ofen sauber gemacht.
»Hallo. Mein Name ist Madame Semanow, aber du kannst mich Cindy nennen. Wie heißt du?«, fragt sie.
»Evie.«
Sie streift ihre pinkfarbenen Gummihandschuhe ab, zündet sich eine Zigarette an und schwenkt sie wie einen Zauberstab. »Bist du für eine Lebensdeutung oder eine spirituelle Séance hier?«
»Was ist der Unterschied?«
»Eine Lebensdeutung konzentriert sich auf deine persönliche Reise, während eine spirituelle Séance mit geliebten Menschen spricht, die verstorben sind.«
»Das Zweite«, sage ich, ohne die Frage zu begreifen.
»Recht hast du.« Sie saugt die Lunge voll Rauch, legt den Kopf zur Seite und kneift ein Auge zusammen, während sie mich betrachtet. »Wie alt bist du?«
»Zweiundzwanzig.«
»Du siehst jünger aus.«
»Das höre ich oft.«
»Studierst du?«
»Nein.«
Sie wedelt den Qualm mit einer Hand zur Seite, drückt die Zigarette aus und führt mich durch einen schweren Vorhang in ein Zimmer, in dem ein runder Tisch steht, der mit einem schwarzen Tuch bedeckt ist. Ich hatte Regale voller Kristalle, Tarotkarten und Kristallkugeln erwartet, aber es sieht aus wie irgendein vollgestelltes Wohnzimmer. Ich erkenne einen Flachbildfernseher, der halb unter einer Decke verborgen ist.
»Setz dich, Schätzchen«, sagt Cindy. »Mit welchem geliebten Menschen möchtest du in Kontakt treten?«
»Mit meiner Mutter.«
»Wann ist sie gestorben?«
»Das ist schon eine Weile her.«
Warum sollte ich ihr helfen?
Cindy schließt die Augen und streicht über die Tischdecke, als würde sie unsichtbare Symbole auf den Samt malen. Ich höre ein gurgelndes Geräusch; es könnte ihr knurrender Magen sein oder die Wasserrohre. Sie ignoriert es.
»Ich betrachte eine Séance immer als Funken der Erkenntnis«, sagt sie, »und als Beweis dafür, dass wir mehr sind als nur unsere körperliche Gestalt. Wir existieren, bevor wir geboren werden und nachdem wir sterben.«
Sie öffnet die Augen, um zu sehen, ob ich verstanden habe, und fährt fort:
»Wenn ich mit einem Geist spreche, lade ich manchmal die falsche Botschaft herunter. Wenn ich also anfange, zu faseln oder Unsinn zu reden, musst du mich bremsen.«
Ich habe schon jetzt ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Ich kann nicht erkennen, ob Cindy lügt, weil sie glaubt, was sie sagt, aber nicht ganz.
»Hast du ein Foto von deiner Mutter?«, fragt sie.
»Nein.«
»Irgendetwas, das ihr gehört hat?«
»Einen Knopf, der sich von ihrem Mantel gelöst hat, aber den habe ich nicht mitgebracht.«
»Ist das alles?«
»Ja.«
Sie runzelt die Stirn. »Wie hieß deine Mutter?«
»Marcela.«
»Besucht sie dich jemals – in deinen Träumen?«
»Sie spricht manchmal mit mir.«
»Was sagt sie?«
»Sie sagt, ich solle weitermachen.«
»Oh, das ist ein sehr guter Ratschlag. Deine Mutter ist sehr weise. Was genau möchtest du Marcela fragen?«
»Ich möchte mich erinnern.«
»Woran möchtest du dich erinnern?«
»Daran, wie sie gestorben ist.«
»Das weißt du nicht?«
Ich schüttele den Kopf.
Cindy streckt den Arm aus und ergreift meine Hand. Ich will sie wegziehen, weil ich es nicht mag, angefasst zu werden, doch sie hält meine Hand fest und streicht mit den Fingern über die Handfläche.
»Als du reingekommen bist, warst du nicht allein.«
»Verzeihung?«
»Hinter dir war eine wunderschöne Frau. Es gibt eine Verbindung zu deinem Namen. Deine Mutter oder Großmutter vielleicht.«
»Ich bin nach meiner Großmutter benannt.«
Sie lächelt. »Evelyn.«
»Nein. Adina.«
»Ich dachte, du hättest gesagt, dein Name sei Evie.«
»Es ist kompliziert.«
»Sie sitzt jetzt direkt hinter dir.«
Also, das ist Blödsinn, aber ich blicke mich trotzdem um und hoffe, meine Gjyshe zu sehen, mit ihrem weißen Kopftuch und dem hochtaillierten Rock mit dem Blumenmuster.
Cindy hat die Augen geschlossen und wiegt den Oberkörper vor und zurück. Irgendwo unter dem Tisch ertönt ein Klopfen.
»Bist du das, Marcela? Hab keine Angst. Komm ans Licht. Du bist willkommen.« Cindy öffnet die Augen. »Sie ist hier.«
»Können Sie sie sehen?«
»Ich kann ihre Anwesenheit spüren. War sie eine laute Frau?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Also, jetzt ist sie laut. Sie quatscht mir regelrecht ein Ohr ab.« Sie blickt an mir vorbei. »Langsamer, Marcela. Ich verstehe nicht, was du sagst.«
Mein Mut sinkt. Jetzt lügt sie mich an. Cyrus hatte recht.
Cindy redet immer noch. »Marcela möchte, dass du weißt, dass sie im Himmel glücklich ist, aber sie vermisst dich sehr.«
»Mama hat nicht an den Himmel geglaubt«, sage ich.
»Nun, es war eine erfreuliche Überraschung für sie.«
»Ist Agnesa bei ihr?«, frage ich, eher enttäuscht als wütend.
»Wer?«
»Meine Schwester.«
»Ist sie auch tot?«
»Ja.«
Cindy zieht eine ihrer schmalen gezupften Brauen hoch. »Oh, Schätzchen, das ist so traurig.« Sie nimmt ihre Hand weg und schüttelt den Kopf.
»Was ist los?«, frage ich.
»Sie ist verschwunden.«
»Aber Sie können sie zurückholen.«
»Sprechen wir über etwas anderes. Ich glaube, es gibt einen Mann in deinem Leben. Einen Freund. Jemand Besonderen.«
»Was? Nein. Ich will mit Mama sprechen. Fragen Sie sie nach...
Erscheint lt. Verlag | 20.11.2024 |
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Reihe/Serie | Cyrus Haven |
Übersetzer | Kristian Lutze |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Storm Child |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2024 • Amnesie • Cyrus Haven • eBooks • Entführung • Evie Cormac • forensischer Psychologe • Geheimnis • Gold Dagger Award • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Neuer Band der Reihe • Neuerscheinung • Psychothriller • spannend • spiegel-bestseller autor • Thriller |
ISBN-10 | 3-641-30541-1 / 3641305411 |
ISBN-13 | 978-3-641-30541-3 / 9783641305413 |
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