Eine Tour de Force von »einer der bedeutendsten Stimmen unserer Zeit« (Financial Times). Brandaktuell geht Olivia Laing der Frage nach, was es bedeutet, einen Körper zu haben, der uns behindert, uns gefangen hält und zugleich befreit.
Der Körper ist eine Quelle des Vergnügens und des Schmerzes, gleichzeitig hoffnungslos verletzlich und doch voller Kraft. Mit einem radikal neuen Blick auf das letzte Jahrhundert analysiert Olivia Laing den langen Kampf um körperliche Freiheit. Laing erzählt von sexueller Befreiung und LGBTQ-Bewegungen, von Feminismus, globalen Gesundheitskrisen und dem Civil Rights Movement, stützt sich auf eigene Protesterfahrungen und unternimmt Reisen vom Berlin der Weimarer Zeit bis zu den Gefängnissen der McCarthy-Ära in Amerika. In den Recherchen begegnet Laing ausgehend von Wilhelm Reich und seinen Theorien einigen der spannendsten und kompliziertesten Persönlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts, darunter Nina Simone, Sigmund Freud, Susan Sontag und Malcolm X.
Olivia Laing, geboren 1977, »meisterhafte Biograf*in, Memoirschreiber*in und Essayist*in« (Helen MacDonald), studierte Englische Literatur an der Universität von Sussex. Laing brach das Studium ab, um auf einem Baum in der Wildnis zu leben und ein Diplom in Pflanzenheilkunde zu erwerben und sich anschließend dem Journalismus zuzuwenden. Laings Bücher sind in fünfzehn Sprachen übersetzt. 2018 erhielt Olivia Laing den renommierten Windham-Campbell-Preis.
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Die Befreiungsmaschine
Im letzten Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts sah ich in einer Naturheilmittelapotheke in Brighton eine Werbung. Sie war rosa, umrahmt von einer Girlande aus handgemalten Herzchen, und behauptete frech, jegliche Art von Symptomen, von Kopfschmerz und Erkältung bis zu Wut und Depression, würde verursacht durch energetische Blockaden, die infolge früherer Traumata entstünden und sich mittels Körperpsychotherapie lösen ließen, sodass die Energie wieder in Fluss käme. Zwar wusste ich, dass diese Aussage – milde ausgedrückt – umstritten war, doch die Vorstellung vom Körper als Speicher für seelisches Leid faszinierte mich. Schon seit Kindertagen hatte ich das dunkle Gefühl, dass ich etwas tief und fest in mir verschlossen hielt, eine rätselhafte Traurigkeit, deren genaue Ursache ich nicht verstand. Ich war so steif und verkrampft, dass ich jedes Mal zusammenschrak, wenn mich jemand berührte, wie eine zuschnappende Mausefalle. Irgendetwas klemmte, und das wollte ich dringend ändern.
Anna, die Therapeutin, praktizierte in einem plüschigen Zimmer unter dem Dach ihres Hauses. In der Ecke stand eine professionell aussehende Massageliege, und doch herrschte eine Atmosphäre wohliger, wenn auch etwas schmuddeliger Häuslichkeit. Rüschenkissen noch und noch. Das Bücherregal an der Wand war mit Secondhandpuppen und Spielzeugen vollgestopft, die auf ihren Einsatz in einer Gestalt-Pantomime warteten. Manchmal nahm Anna einen grinsenden Affen, drückte ihn an ihre Brust und sprach mit hoher, lispelnder Stimme in der dritten Person von sich selbst. Ich wollte nicht mitspielen und so tun, als säße auf dem leeren Stuhl mir gegenüber ein Familienmitglied, oder mit einem Baseballschläger auf ein Kissen eindreschen. Dafür war ich zu gehemmt, mir meiner Lächerlichkeit schmerzlich bewusst, und obwohl ich Annas albernes Getue beschämend fand, spürte ich, dass sie eine Art von Freiheit besaß, zu der mir der Zugang fehlte.
Bei jeder sich bietenden Gelegenheit schlug ich statt eines Gesprächs eine Massage vor. Dazu musste ich mich zum Glück nicht ganz ausziehen. Anna schlang sich ein Stethoskop um den Hals und bearbeitete meinen Körper an den unmöglichsten Stellen. Sie knetete meine Muskeln nicht, sondern erteilte ihnen vielmehr den Befehl, sich zu entspannen. In regelmäßigen Abständen beugte sie sich über mich, presste mir den Kopf ihres Stethoskops auf den Bauch und horchte. Dabei hatte ich nicht selten das Gefühl, dass Energie meinen Körper durchströmte, vom Unterleib bis in die Beine, wo sie kitzelte wie die Tentakel einer Qualle. Es war eine angenehme Empfindung, nicht unbedingt sexuell, eher so als sei eine hartnäckige Blockade beseitigt worden. Weder sprach ich mit Anna darüber, noch fragte sie mich danach, und das war einer der Gründe, weshalb ich immer wiederkam: um diesen zu neuem Leben erwachten, bebenden Körper zu erfahren.
Ich war zweiundzwanzig, als ich Anna zum ersten Mal aufsuchte, und der Körper stand im Mittelpunkt meiner Interessen. Wenn über Körper gesprochen wird, besonders in der Populärkultur, ist das Themenspektrum in aller Regel eng begrenzt und es geht zumeist um das Erscheinungsbild oder die Gesunderhaltung des Körpers. Der Körper als eine Ansammlung von Oberflächen von mehr oder minder ansprechendem Aussehen. Der perfekte, unerreichbare Körper, so glatt und glänzend, praktisch nicht von dieser Welt. Womit man ihn füttert, wie man ihn pflegt und die ständige Angst, dass er womöglich abweichend oder ungenügend ist. Mich hingegen interessierte in erster Linie die Erfahrung, in ihm zu leben, etwas zu bewohnen, das so katastrophal verletzlich war, so hilf- und wehrlos Lust und Schmerz, Hass und Begehren ausgesetzt.
Ich war in den Achtzigern in einer lesbischen Familie aufgewachsen, unter der unbarmherzigen Knute der Section 28, eines homophoben Gesetzes, das es Schulen verbot, die »Akzeptanz von Homosexualität als vorgetäuschte Familienbeziehung« zu unterrichten. Dass der Staat so über meine Familie dachte, war eine bittere Lektion und schärfte mein Bewusstsein dafür, wie Körper in einer Wertehierarchie geordnet sind, wie ihre Freiheiten aufgrund von Attributen, auf die sie keinen Einfluss haben, von Hautfarbe bis Sexualität, gestärkt oder beschnitten werden. Immer wenn ich zur Therapie ging, spürte ich das Erbe dieser Zeit im eigenen Körper, als Knoten von Scham und Angst und Wut, die sich nur schwer benennen, geschweige denn entwirren ließen.
Doch meine Kindheit hat mich nicht nur gelehrt, dass der Körper ein Objekt ist, dessen Freiheit durch die Außenwelt beschränkt wird, sie hat mir auch gezeigt, dass der Körper selbst ein Mittel zur Freiheit sein kann. Meine erste Gay Pride Parade erlebte ich mit neun, und der Eindruck all dieser marschierenden Körper auf der Westminster Bridge blieb auch bei mir nicht ohne Wirkung; eine physische Empfindung, wie ich sie nie zuvor erfahren hatte. Mir wurde klar, dass man durch körperliche Präsenz auf der Straße die Welt verändern kann. Als Pubertierende, die vor der drohenden Klimaapokalypse schreckliche Angst hatte, nahm ich an ersten Demonstrationen teil und wurde in der Umweltschutzbewegung aktiv. Ich stürzte mich mit solcher Leidenschaft in die Protestarbeit, dass ich schließlich sogar mein Studium aufgab und in ein Baumhaus zog, in einem Wald in Dorset, der einer Umgehungsstraße weichen sollte.
Ich fand es toll, im Wald zu leben, aber meinen Körper als Instrument des Widerstands zu benutzen, war nicht nur berauschend, sondern auch zermürbend. Die Gesetze wurden in einem fort verschärft. Die Polizei ging mit zunehmender Härte vor, und einigen meiner Freunde und Bekannten drohten lange Haftstrafen wegen »schweren Landfriedensbruchs«, wie das neuerdings hieß. Die Freiheit hatte einen Preis, und dieser Preis hatte allem Anschein nach auch eine körperliche Seite: den ständig drohenden Verlust der physischen Freiheit. Wie so viele Aktivisten brannte ich aus. Im Sommer 1998 setzte ich mich auf einem Friedhof in Penzance auf eine Bank und füllte einen Antrag auf Ausbildung zur Heilpraktikerin aus. Als ich Anna aufsuchte, war ich bereits im dritten Semester.
Ich wusste es damals zwar noch nicht, aber die Form der Therapie, die Anna praktizierte, war in den Zwanzigerjahren von Wilhelm Reich erfunden worden, einem der sonderbarsten und weitsichtigsten Denker des zwanzigsten Jahrhunderts, einem Mann, der sein Leben der Erforschung der komplexen Beziehung zwischen Körper und Freiheit widmete. Reich war eine Zeit lang Freuds brillantester Protegé (»der beste Kopf« auf dem Gebiet der Psychoanalyse). Als jungem Analytiker im Wien der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg kam ihm der Verdacht, dass seine Patienten ihre Erfahrungen im Körper mit sich trugen und ihren emotionalen Schmerz als eine Art Anspannung speicherten, die er mit einem Panzer verglich. Über die nächsten zehn Jahre entwickelte er ein revolutionäres neues System der körperorientierten Psychotherapie und richtete sein Augenmerk auf die charakteristische Körperhaltung seiner Patienten. »Er hörte zu und beobachtete und folgte, während er fühlte, tastete und untersuchte«, erinnerte sich sein Sohn Peter später, »einem fast unheimlichen Instinkt für das Auffinden von erstarrten Erinnerungen und von Hass und Angst im menschlichen Körper.« Zu Reichs Erstaunen ging diese Gefühlsentladung häufig mit unwillkürlichen, lustvollen Kontraktionen des Körpers einher, die er »das Strömen« nannte; dieselbe unverwechselbare Empfindung, die ich auf Annas Liege verspürt hatte.
Viele von Reichs Wiener Patienten waren einfache Arbeiter. Die Geschichten, die sie ihm erzählten, brachten ihn zu der Erkenntnis, dass die Probleme, die er an ihnen beobachtete, die geistige Verwirrung, nicht allein auf kindliche Erfahrungen, sondern auch auf soziale Faktoren wie Armut, Wohnungsnot, häusliche Gewalt und Arbeitslosigkeit zurückzuführen waren. Jedes Individuum war fraglos größeren Kräften ausgesetzt, die ebenso gewaltige Probleme verursachen konnten wie Freuds Hauptinteressengebiet, die Feuerprobe Familie. Und so versuchte Reich, der kein noch so großes Wagnis scheute, in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen zwei bedeutende Systeme zur Diagnose und Behandlung menschlichen Unglücks zu fusionieren, indem er – sehr zum Unbehagen ihrer Anhänger – die Gedanken von Freud und Marx in einen produktiven Dialog zwang.
In Reichs Auffassung von Freiheit spielte Sex seit je eine zentrale Rolle, und im Jahre 1930 zog er nach Berlin, in eine Stadt am Rand des Abgrunds, gefangen zwischen zwei Katastrophen, wo aus den Trümmern des Krieges eine Fülle neuer Vorstellungen von Sexualität erwuchs. Reich war der Ansicht, dass sich die Welt verändern ließe, wenn man den Sex nur endlich aus seinem jahrhundertealten Gefängnis von Repression und Scham befreite, doch Hitlers Machteroberung im Frühjahr 1933 machte seiner Berliner Tätigkeit ein jähes Ende. Noch im selben Herbst schrieb er im dänischen Exil Die Massenpsychologie des Faschismus, eine packende Analyse der Strategie Hitlers, der unbewusste sexuelle Ängste wie die Furcht vor Infektion und Kontamination gezielt dazu benutzte, Stimmung gegen die Juden zu machen.
Als Erstes las ich People in Trouble (Menschen im Staat), worin Reich seine politischen Erfahrungen in Wien und Berlin schildert. Ich entdeckte ein Exemplar auf dem sonntäglichen Flohmarkt auf dem Parkplatz des Brightoner Bahnhofs und nahm es nur zur Hand, weil es denselben Titel trug wie ein Roman, den ich sehr mochte. Obwohl er es in den Fünfzigerjahren geschrieben hatte, musste ich bei der Lektüre an meine Zeit als Aktivistin denken, die Höhen und Tiefen des Kampfes für politische...
Erscheint lt. Verlag | 16.10.2024 |
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Übersetzer | Thomas Mohr |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Everybody |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 2024 • AIDS-Krise • Beat generation • Beat Poets • Bewusstsein • Biografie • Biographien • Christopher Isherwood • Civil Rights Movement • eBooks • Essays • everybody • Feminismus • Institut für Sexualwissenschaft • LGBT movement • LGBTQ • Magnus Hirschfeld • Malcom X • Neuerscheinung • Nina Simone • Orgonakkumulator • Protestbewegungen • Psychoanalyse • Psychologie • Sachbuch • Sex • sex life • Sigmund Freud • Susan Sontag • Unterbewusstsein • Wilhelm Reich |
ISBN-10 | 3-641-25061-7 / 3641250617 |
ISBN-13 | 978-3-641-25061-4 / 9783641250614 |
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