Der Jäger (eBook)
500 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3288-8 (ISBN)
Svenja Diel, Jahrgang 1985, ist in Aschaffenburg aufgewachsen. In ihren Thrillern erschafft sie komplexe Charaktere, die einem so nahekommen, dass man sie nicht mehr loslassen will. Sie lebt und arbeitet in Köln, wo sie unter anderem für eine bekannte deutsche TV-Serie schreibt.
Svenja Diel, Jahrgang 1985, ist in Aschaffenburg aufgewachsen. In ihren Thrillern erschafft sie komplexe Charaktere, die einem so nahe kommen, dass man sie nicht mehr loslassen will. Sie lebt und arbeitet in Köln, wo sie u.a. für eine bekannte deutsche TV-Serie schreibt.
Kapitel 6
Zehn Minuten später fuhr Felix vor dem Ferienhof der Familie Schönfeld vor. Der Reiterhof lag neben einem riesigen Kürbisfeld, und soweit er das erkennen konnte, grenzte das Grundstück mit der Pferdekoppel Richtung Norden an ein Waldstück, dessen erste Reihe aus dunklen Nadelbäumen bestand.
Gerade führte ein junger Mann zwei Ponys auf die Weide, den Blick starr geradeaus gerichtet, als wolle er um keinen Preis sehen, was auf dem Hof passierte. Mehrere Streifenwagen versperrten den Eingang zum Gelände, Absperrband tat den Rest. Und das zu Recht, denn es hatten sich bereits die ersten Schaulustigen versammelt. Daneben begleiteten Beamte Menschen mit Koffern zu ihren Autos.
»Feriengäste«, erklärte die junge Streifenpolizistin, die schnellen Schrittes auf Felix zukam. »Die können ihren Urlaub jetzt erst mal knicken.«
»Hallo, Elena«, sagte Felix. Sie waren sich schon mehrfach begegnet, seit er in den Spreewald zurückgekehrt war, und er konnte ihre direkte Art gut leiden. Kein Small Talk, gleich zur Sache.
»Du bist der Erste. Sogar vor der Spurensicherung.«
»Ich wohne um die Ecke«, erklärte Felix, während sie nun gemeinsam auf den Pferdestall zusteuerten, der sich gegenüber vom Wohnhaus befand, einem zweieinhalbgeschossigen Backsteingebäude mit weiß gestrichenen Sprossenfenstern. Erst jetzt realisierte Felix, wie groß das Gelände war. Neben dem Haupthaus gab es noch ein weiteres, kleineres Backsteinhaus, in dem er die Zimmer der Feriengäste vermutete, eine Reithalle und mehrere Geräteschuppen. Dazwischen viel Grünfläche mit Sitzgelegenheiten, einem kleinen Spielplatz und Grillstellen.
Der Pferdestall befand sich in einer Satteldachhalle mit großen Fenstern und einem riesigen, dunklen Holztor, das weit offen stand.
»Die fünfzehnjährige Tochter hat ihn gefunden«, sagte Elena, als sie vor dem Tor stehen blieben.
Scheiße. Ausgerechnet.
Während Felix Einmalhandschuhe und Schuhüberzieher aus seiner Jackentasche zog, betrachtete er das Schloss. Keine Einbruchsspuren.
»War der Stall abgeschlossen?«
»Die Ehefrau sagt, dass sie gestern Abend abgeschlossen hat. Heute Morgen war der Stall laut der Tochter offen. Sie dachte, ihr Vater sei bereits bei den Tieren.«
Als Felix den Stall betrat, wehte ihm sofort der typische Geruch nach Pferd und Stroh entgegen. In manchen Boxen warteten die Tiere noch auf ihren Auslauf, blähten die Nüstern und schnaubten, als er an ihnen vorbei zur letzten Box auf der rechten Seite ging.
Schon von Weitem fiel ihm das Seil auf, das straff von einem Dachbalken hing.
Er blieb im Eingang der Box stehen und brauchte einen Moment, um das Bild zu verarbeiten, das sich ihm bot.
Simon Schönfeld hing kopfüber von der Decke. Jemand hatte ihm die Füße gefesselt und ihn dann hinaufgezogen.
Was für eine Kraft dafür nötig gewesen sein musste …
Die Arme waren ihm eng auf dem Rücken fixiert, und sein Kopf schwebte nur wenige Zentimeter über dem Boden. Der Gedanke, dass die Tochter ihren Vater so gefunden hatte, machte Felix krank. Übelkeit breitete sich in seinem Bauch aus, wollte ihm die Kehle hinaufklettern. Er starrte den blassen Körper an und fühlte sich einen Moment wie betäubt. Dann versetzte sich sein Verstand in den Arbeitsmodus und verdrängte jedes Gefühl. Mit fokussiertem Blick erfasste er die Szene aufs Neue und begann, jedes Detail abzuspeichern.
Trotz des frühen Morgens war es in dem Stall angenehm warm, was dafür sorgte, dass sich zu Stroh und Pferdeäpfeln der eindringlich süße Geruch der Verwesung mischte. Wie lange hing der Mann schon dort? Drei Stunden? Länger? Seine Haut schimmerte weißlich blass, Leichenflecken konnte er bislang keine erkennen. Seltsam, da diese sich normalerweise bereits zwanzig Minuten nach Todeseintritt bildeten.
Felix näherte sich der Leiche und ging in die Hocke. Der Körper hing in der Ecke der Box, das Gesicht schräg von ihm abgewandt. Zunächst sah er nur die rechte Wange und Ansätze von Mund und Augenhöhle, wo in diesem Moment eine dicke Fliege landete. Nachdem sie die hinteren Beinchen aneinandergerieben hatte, wanderte sie zielstrebig in Richtung Nase.
Felix berührte mit den Fingerspitzen vorsichtig das Kinn des Mannes. Obwohl sie nur wenige Kilometer voneinander entfernt wohnten und das hier auf dem Land ein Katzensprung war, hatte er Simon Schönfeld nie kennengelernt. Aber vielleicht waren sie sich doch einmal über den Weg gelaufen, und er kannte ihn vom Sehen? Langsam drehte Felix das Gesicht zu sich. Und sein Herz setzte einen Schlag aus. Der Tote hatte die Augen weit aufgerissen. Der Horror stand ihm noch im Blick, blank und eindringlich. Als wäre er im Moment seiner größten Angst gestorben.
Aber das war noch nicht alles. An seinem Hals …
Felix rang reflexartig nach Luft, spürte das Herz in seiner Brust hämmern.
Die Seite des Halses, die er vom Eingang aus nicht gesehen hatte, war nahezu zerfetzt. Eine ausgefranste, klaffende Wunde, die das Fleisch offenlegte. Gerissene Sehnen hingen heraus.
Hier krabbelten die Fliegen bereits in einer ganzen Mannschaft herum.
Felix musste sich kurz abwenden. Er atmete durch und betrachtete dann das Gesicht des Mannes erneut. Simon Schönfeld hatte kurze, dunkle Haare, einen Dreitagebart und war schätzungsweise Mitte vierzig. Gesehen hatte Felix ihn noch nie.
Vorsichtig wandte er sich nun wieder der Halswunde zu. Er ging noch näher ran. Wie war das passiert? Hatte jemand mit einem Messer auf ihn eingestochen? Eigentlich sah das nicht aus wie eine Schnittwunde … Moment.
Irgendetwas daran irritierte ihn.
Diese Wunde … Als hätte sich etwas in ihm verbissen, ihn geschüttelt und so … Jetzt wusste er es wieder. Die Erinnerung traf Felix mit solcher Wucht, dass er spontan aus der Hocke aufstand und einen Schritt zurück wankte.
Der Autounfall letztes Jahr. An einem eiskalten Dezembermorgen war der Anruf gekommen. Eine Leiche abseits der L49 zwischen Ragow und Ellerborn. Er hatte erst mal zehn Minuten kratzen müssen und war dann in der Morgendämmerung losgefahren. Im Schneckentempo, weil die Straßen spiegelglatt waren. Die L49 führte an dieser Stelle über weite Strecken durchs Naturschutzgebiet, dunkler Mischwald rechts und links. Felix hatte auf einem kleinen Wanderparkplatz gehalten, hinter dem sich freies Feld auftat. Auf dem frostigen Acker hatte ein Mann gelegen, der offensichtlich angefahren worden war. Und zwar mit so einem Karacho, dass er knapp zehn Meter weit geflogen sein musste. Bremsspuren auf der Straße gab es keine. Womöglich hatte ihn der Fahrer in der Dunkelheit zu spät gesehen und hatte dann die Flucht ergriffen. Die Frage, was der Mann mitten in der Nacht zu Fuß auf der Landstraße gemacht hatte, hatten sie nie klären können. Es handelte sich um einen Einundsechzigjährigen aus Lübbenau. Johann Graf, verheiratet. Er war Hufschmied und hatte an dem Tag mehrere Termine auf unterschiedlichen Höfen gehabt. Da seine Frau zu dieser Zeit bei ihrer Schwester in Hamburg gewesen war, hatte sie nicht mitbekommen, dass er nicht nach Hause gekommen war.
Der Zusammenprall mit dem Fahrzeug hatte ihm sämtliche Knochen zertrümmert. Die rechtsmedizinische Untersuchung hatte ergeben, dass er frontal von dem Auto erwischt worden war.
Den Todeszeitpunkt konnten die Ärzte aufgrund der eisigen Temperaturen nicht genau bestimmen. Und in der Dunkelheit hatten ihn weitere Autorfahrer übersehen. Er wurde erst in der Dämmerung von einem Lkw-Fahrer entdeckt. Ob er zu dem Zeitpunkt bereits mehrere Stunden oder erst zehn Minuten dort gelegen hatte, wussten sie nicht.
Dieser Todesfall war von vorne bis hinten außergewöhnlich. Was Felix jedoch am meisten irritiert hatte, war die tiefe Wunde am Hals des Mannes. Die Seite war aufgerissen gewesen, als hätte jemand oder etwas ein Stück herausgebissen.
Felix war wie heute neben dem Mann in die Hocke gegangen und hatte genau hingesehen. Der offenliegende Hals hatte ihn schwer schlucken lassen. Hautfetzen, Muskelfasern, verkrustetes Blut, Knorpel.
»Sieht nicht aus, als wäre das bei dem Unfall passiert«, hatte er zu seinem Chef gesagt. Kriminalhauptkommissar Tibor Hansen war schwerfällig neben ihm in die Knie gegangen und hatte die Wunde ebenfalls eingehend betrachtet.
»Du hast recht. Prellungen sehen anders aus. Wahrscheinlich ein Tier.«
Aber Felix’ Bauchgefühl hatte etwas anderes gesagt.
»Was für ein Tier soll das gewesen sein?«
»Keine Ahnung, ein Fuchs vielleicht. Oder ein Wolf.«
Wölfe waren hier in der Gegend keine Seltenheit. Auch wenn Felix noch keinen in freier Wildbahn gesehen hatte. Er wusste nicht mit Sicherheit, ob diese Tiere auch zu den Aasfressern gehörten. Was er aber sagen konnte, war, dass Menschen eigentlich nicht auf ihrem Speiseplan standen.
»Und der Wolf beißt ihm einmal in den Hals, und das war es dann?«
»Wenn’s nicht geschmeckt hat.«
Tibor hatte ihm einen prüfenden Blick zugeworfen.
»Was denkst du denn?«
»Ich glaube nicht, dass das ein Tier war.«
»Und was dann? Ein Mensch?«
Tibor hatte tonlos gelacht und war...
Erscheint lt. Verlag | 2.1.2025 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Aktivisten • Andreas Gruber • Andreas Winkelmann • Biss • Blut • blutig • Brandenburg • Brutal • Chris Meyer • Doppelleben • ethan cross • Jagd • Jagen • Jäger • Kadaver • LKA • Lupus • Morde • Mörder • München • Polizei • Profiler • Serienmörder • Sondereinheit • Spreewald • Spuren • Thriller • Tier • Tierschutz • Treibjagd • Wald • Wolf |
ISBN-10 | 3-8437-3288-4 / 3843732884 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3288-8 / 9783843732888 |
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