Man kann auch in die Höhe fallen (eBook)
368 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31302-4 (ISBN)
Joachim Meyerhoff, geboren 1967 in Homburg/Saar, aufgewachsen in Schleswig, hat als Schauspieler an verschiedenen Theatern gespielt, unter anderem am Burgtheater in Wien, am Schauspielhaus in Hamburg, an der Berliner Schaubühne und den Münchner Kammerspielen. Dreimal wurde er für seine Arbeit zum Schauspieler des Jahres gewählt. 2011 begann er mit der Veröffentlichung seines mehrteiligen Zyklus »Alle Toten fliegen hoch«. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2024 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor.
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Joachim Meyerhoff, geboren 1967 in Homburg/Saar, aufgewachsen in Schleswig, hat als Schauspieler an verschiedenen Theatern gespielt, unter anderem am Burgtheater in Wien, am Schauspielhaus in Hamburg, an der Berliner Schaubühne und den Münchner Kammerspielen. Dreimal wurde er für seine Arbeit zum Schauspieler des Jahres gewählt. 2011 begann er mit der Veröffentlichung seines mehrteiligen Zyklus »Alle Toten fliegen hoch«. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2024 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor.
Mit Mitte fünfzig zog ich für mehrere Wochen zu meiner Mutter aufs Land nach Schleswig-Holstein, wo sie unweit der Ostsee auf einem weitläufigen, ja parkähnlichen Grundstück lebt. Ich redete mir ein, sie bedürfe dringend meines Beistands, dabei war sie kerngesund, offensiv vital, sah mit ihren sechsundachtzig Jahren fantastisch aus und kam bestens allein zurecht.
Ich hingegen war derjenige, der nicht mehr klarkam und dem viele Fäden gerissen waren. Die Bezeichnung »rüstig« war in der Person meiner Mutter zur Vollkommenheit gelangt, wobei sie selbst diese Zuschreibung wenig schätzte, da sie ihrer Eleganz nicht entsprach und ihr »rüstig« zu sehr nach Ritterrüstung und zäher Rentnerin klang.
Ich haderte mit Berlin, der Stadt, in der ich seit fünf langen Jahren versuchte, heimisch zu werden, und ich haderte mit meinem Beruf, der Schauspielerei, die ich über drei Jahrzehnte mit Hingabe, gar mit Obsession betrieben hatte.
Eigentlich hatte ich vorgehabt, die anfänglich gravierenden, dann aber doch glücklicherweise recht glimpflichen Folgen eines Schlaganfalles, der mich in Wien auf dem Zenit meiner Kraft niedergestreckt hatte, durch einen Neuanfang in Berlin – neues Theater, neue Kollegen, neue Stadt, neue Wege – mit Optimismus und Schwung beiseitezufegen. Vergeblich. Jedes meiner Organe schien maßlos enttäuscht von mir zu sein und genug von mir zu haben. Sosehr ich mich auch bemühte, oft wurde ich eine mir völlig wesensfremde Gereiztheit nicht los. Dinge ärgerten mich, die mir früher in Wien, vor dem Schlaganfall, nicht einmal aufgefallen wären. Unordnung machte mich unverhältnismäßig nervös, ungemachte Betten ließen meine Unterlippe erzittern vor Empörung. Geräusche, welcher Art auch immer, Straßenlärm oder Kinderlärm, wurden mir schlagartig zu viel. Es war vorgekommen, dass ich durch eine neben mir plötzlich aufheulende Krankenwagensirene in Tränen ausgebrochen war. In der Berliner U-Bahn hatte ich einen Mann zu Boden gestoßen, der mich mit einer feucht krachenden Niesattacke in mein Genick zu Tode erschrocken hatte. Empört schlug er meine Hand weg, als ich ihm aufhelfen wollte. Auch waren Dinge auf dem neunten Geburtstag meines Sohnes vorgefallen, die mir zu verzeihen allen Beteiligten einiges an Kraft abverlangte. Ohne wirklich zu begreifen, wie es dazu gekommen war, war ich zu einem Nervenbündel geworden, dessen Unausgeglichenheit für die mir nahestehenden Menschen mehr und mehr zur Zumutung wurde. Mein Leben lang hatte ich stets eine warme Hand am Kreuzbein gespürt, die mich voll der Zuversicht mit leichtem Druck vorwärtsgeschoben, mich durch die Zeit manövriert hatte. Jetzt wechselte diese Hand immer öfter ihre Position. Kalt und knöchern, mit gespreizten Fingern, lag sie nun auf meinem Brustbein und verweigerte mir, auch nur einen einzigen Schritt von der Stelle zu kommen. Ich schlief miserabel und vertrug die zig Medikamente nicht, die ich seit meinem Apoplex ohne Wenn und Aber zu schlucken hatte. Von Betablockern gedämpft lag ich Stunde um Stunde in Unterhose auf dem Sofa herum, verlor mich in weinerlichen Introspektionen, streichelte mein Bäuchlein oder starrte auf den Bildschirm eines kleinen EKG-Gerätes für den Hausgebrauch und wartete sehnsuchtsvoll auf die nächste Extrasystole. Angst und Langeweile vertrugen sich ganz ausgezeichnet. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass man wochenlang auf der faulen Haut liegen und derart entspannt vor sich hin implodieren konnte. Die auf dem Sofa verbrachten Stunden nahmen bizarre Formen an, und oft wusste ich nicht mehr, wo ich aufhörte und die Couch begann. Wie ein geschmolzener Käse war ich in jede Ritze des Sofas hineingeflossen, hatte das Sitzmöbel mit mir selbst überbacken. Und doch wollte ich meine Verstimmtheit nicht Depression nennen oder gar Midlifecrisis, denn es waren ja handfeste Probleme, die ich hatte. Seit Wochen hatte ich nichts geschrieben, und das, obwohl sich in meinem Kopf die Geschichten tummelten. Berlin allerdings entpuppte sich als Säurebad, das tagtäglich meine Inspiration zerfraß. In Wien hatte ich stets vor mich hin gesponnen und gedichtet. Wien war für mich immer Schauplatz und Abenteuerspielplatz gewesen, Berlin hingegen meist Kampfplatz. Kein Tag verging in dieser Stadt, da ich nicht angebrüllt, fast überrollt oder zumindest gemaßregelt wurde. Wer in Berlin vor sich hin träumt, gerät schnell in Lebensgefahr.
Mit meinem Sohn hatte ich kürzlich eine Dokumentation gesehen über eine winzige Affenart, die in Baumwipfeln lebt und deren einziger Feind ein Greifvogel ist, der jederzeit durchs Blattwerk auf sie niederstoßen kann. Diese permanente Todesbedrohung hat dazu geführt, dass die Äffchen alle paar Sekunden hektisch nach oben blicken. Ausnahmslos, bei jeder Tätigkeit. Sie fressen, drehen flink die Früchte zwischen den behaarten Fingerchen, doch dann halten sie inne und starren wie ausgestopft für zwei Sekunden in den Himmel. Einzig die Pupillen in den weit aufgerissenen Affenaugen rucken hin und her und scannen das Firmament nach der tödlichen Gefahr ab. Beim Klettern, beim Lausen, ja selbst bei der Paarung stellen sie sich alle Augenblicke tot. Was ist denn das für ein Leben, hatte ich damals gedacht, wenn sogar der Sex davon bedroht wird, dass sich jederzeit Adlerklauen in den Rücken der einander Liebenden bohren könnten. Wenn dann allerdings der Vogel zuschlägt, haben sie trotz ihrer lebenslangen Überwachungspanik keinerlei Chance, lebend davonzukommen.
Hoch oben kreist der Greifvogel und beobachtet die Äffchen tief unter sich in den Wipfeln. Wie ein Gott schwebt er am wolkenlosen Himmel, majestätisch und unantastbar, außerhalb ihrer Welt. Seine Augen sehen alles, was sie tun. All ihre Geschicklichkeit und Aufmerksamkeit ist völlig überflüssig, wenn der Jäger auf sie niedersaust, so erbarmungslos und pfeilschnell bricht er durch die Blätter. Mein kleiner Sohn und ich waren regelrecht erschüttert, als der schreiende Affe, wie ein kleiner Mensch mit den Armen rudernd und mit von Todesangst verzerrtem Gesichtchen, vom Greifvogel entführt, zu einer Astgabel gebracht und mit einem gezielten Schnabelhacker ins Genick getötet wurde.
Tage- und nächtelang wurde ich überfallartig von diesem Bild heimgesucht. Ebenso ansatzlos, wie die Adler niederstießen, hieb nun unvermittelt die Erinnerung an den Affenmord auf mich ein. Die Moral dieser Geschichte konnte eigentlich nur diejenige sein, keine Lebenszeit damit zu verplempern, sich auch nur im Geringsten über irgendetwas Sorgen zu machen.
Auch war mir in Berlin etwas aufgefallen, und seither beobachtete ich es ständig: Viele in dieser Stadt, egal welchen Alters, egal welcher Herkunft, egal zu welcher Uhrzeit, schüttelten ununterbrochen den Kopf. Dieses unaufhörliche Kopfschütteln, dieser Empörungsparkinson, schien alle zu ergreifen, die sich länger dort aufhielten. Jeder war in seiner winzigen Welt zu einem Wackeldackel der Entrüstung geschrumpft. Wien dagegen war hoffnungslos nostalgisch und überschaubar, politisch verkommen und durch und durch verlogen, aber immerhin amüsant. Das lag mir offenbar näher.
So wie der Schlaganfall in Wien mein Sprachzentrum lahmgelegt hatte, so legte die Stadt Berlin mein Schreibzentrum lahm. Mein mich schon seit Kindheitstagen plagender Zwang, alles anzuknabbern, hatte sich in Berlin mit Wucht zurückgemeldet. Die Bügel zweier Brillen hatte ich bis auf den Metalldraht abgekaut, und auch mein Portemonnaie sah aus, als hätte sich ausgiebig ein Nagetier damit beschäftigt. Es war mehrmals vorgekommen, dass ich in einem Café in Charlottenburg oder Schöneberg, in Moabit oder Kreuzberg gesessen hatte und nach Stunden kein einziges Wort geschrieben, dafür aber einen ganzen Bleistift weggemümmelt hatte.
Dabei hatte ich viel zu erzählen. Ich wollte mich zurück ins Theater schreiben, mir meine Theaterbegeisterung schreibend zurückerobern und hatte unzählige Begebenheiten bereits in Stichworten notiert. Von meiner ersten Rolle am Theater in Ulm als Baghira wollte ich berichten, die in einer schwarzsamtigen Katastrophe geendet war, von Ariel, dem Luftgeist, der in einem Fahrstuhl stecken blieb, und von mir als onanierendem Mönch in Dortmund. Ich wollte über Scham schreiben. Nicht Schuld und Sühne sollte das Buch heißen, sondern: Scham und Bühne.
Nicht erzählte Geschichten, wurde mir klar, können sich entzünden und zu einer lebensbedrohlichen poetischen Sepsis führen.
Auch wollte ich von meinem Berliner Leben berichten, von meinen hilflosen Anstrengungen, heimisch zu werden in dieser Stadt, die immerzu rief: »Was willst du eigentlich hier? Du hast hier nichts verloren!« Ich wollte erzählen von der merkwürdigen Aneinanderreihung und Überlappung der zig Katastrophen, die sich, seitdem ich mit Sophie und unserem Sohn, wie man in Wien sagt, »nach Berlin übersiedelt« war, ereignet hatten. Sophie versuchte, mich für die Stadt zu begeistern, blühte auf im neuen Umfeld, doch ich wurde von Tag zu Tag mürrischer. Ich musste weg aus dieser Stadt, musste auch weg von meiner Familie, ja ich wollte mich selbst wie einen tiefsitzenden Splitter aus meinem Umfeld herausziehen. Ich wollte aufs Land zu meiner Mutter, ganz allein, nur sie und ich, um mich dort einer strikten selbstverordneten Kur zu unterziehen: jeden Tag vier Stunden schreiben, von neun bis eins, Mittagspause und dann drei Stunden Gartenarbeit auf dem riesigen Grundstück, anschließend eine Stunde laufen oder schwimmen, totaler Handyentzug, Whisky trinken und lesen. Endlich wieder lesen. Denn ich hatte nicht nur meine Schreibfreude eingebüßt, sondern auch meine Leseleidenschaft war durch die letzten Jahre arg ramponiert worden. Ein sich jäh ausbreitendes...
Erscheint lt. Verlag | 7.11.2024 |
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Reihe/Serie | Alle Toten fliegen hoch |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Ach diese Lücke diese entsetzliche Lücke • Alle Toten fliegen hoch • Alle Toten fliegen hoch Teil 6 • Autobiografisch • Berliner Schaubühne • Familienbande • Familienbeziehungen • Konflikt • Lebenskrise • Mutter-Sohn-Beziehung • Neuorientierung • Schauspieler • Selbstbestimmung • Theaterstück • Tragikomik • tragischkomisch • Wann wird es endlich wieder so • Wiener Burgtheater |
ISBN-10 | 3-462-31302-9 / 3462313029 |
ISBN-13 | 978-3-462-31302-4 / 9783462313024 |
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