Lernen, den Tiger zu reiten (eBook)
256 Seiten
Kösel (Verlag)
978-3-641-32095-9 (ISBN)
Diese bemerkenswerte Autobiographie enthüllt die innere Geschichte eines herausragenden Menschen, der die Art und Weise, wie Psycholog*innen, Ärzt*innen und Heiler*innen die Wunden von Trauma und Missbrauch verstehen und behandeln, grundlegend revolutioniert hat. Der renommierte Trauma-Therapeut Peter A. Levine half mit dem von ihm entwickelten Ansatz Somatic Experiencing (SE) Tausenden von Menschen, bevor er Jahre später damit sein eigenes Trauma auflösen konnte.
Peter A. Levine beschreibt die traumatischen Erfahrungen seiner Kindheit, erzählt von seiner Heilung dieses schweren Kindheitstraumas und bietet tiefe Einblicke in die Entwicklung seines innovativen Ansatzes zur Trauma-Heilung. Er lässt uns teilhaben an seiner inneren Erfahrung, durch Somatic Experiencing angeleitet worden zu sein, seine traumatischen Wunden zu erforschen und zu heilen. Levine gewährt zudem Einblick in seine Ausbildung und seinen Werdegang, berichtet von Begegnungen mit ihn prägenden Persönlichkeiten und teilt seine bisweilen geheimnisvollen und unerwarteten Träume und Visionen, die ihn durch sein Lebenswerk geführt haben.
Dr. Peter A. Levine, geboren 1942, Biologe, Physiker und Psychologe, ist einer der international anerkanntesten Trauma-Therapeuten. Sein Lebenswerk Somatic Experiencing® - ein ganzheitlicher Ansatz zur Trauma-Heilung - unterrichten weltweit zahlreiche von ihm inspirierte Lehrkräfte. Er wurde u.a. mit dem Lifetime Achievement Award der amerikanischen Vereinigung der Körperpsychotherapeuten ausgezeichnet und ist Autor vieler erfolgreicher Bücher mit weltweit über einer Million verkaufter Exemplare.
Geboren in einer Welt der Gewalt
»Was ist wahrhaftiger als die Wahrheit?
Antwort: die Geschichte.«
Jüdisches Sprichwort1
Eine Geschichte, die sich Schritt für Schritt entfaltet
Wir alle haben unsere Geschichte, und das ist meine. Es ist meine Wahrheit. Wie bei den russischen Matrjoschka-Puppen handelt es sich um eine Geschichte, die in mehreren anderen Geschichten enthalten ist. Wie mein Freund Ian einmal sagte: »Die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten ist nicht zwangsläufig eine gerade Linie.« In meiner Autobiographie mit ihren ineinander verschachtelten Geschichten geht es um eine Seelenreise. Oft erfolgt sie auf einsamen Pfaden, die wir einschlagen, wenn wir nichts ahnend einem inneren Ruf folgen und uns auf eine Suche voller Herausforderungen begeben, die bisweilen unlösbar erscheinen.
Ein Grundsatz der Trauma-Lösungsmethode, die ich im Verlauf der letzten fünfzig Jahre entwickelt habe, besteht darin, dass wir die Betroffenen nicht auffordern, sich im Sinne einer Konfrontationstherapie mit ihren traumatischen Erlebnissen auseinanderzusetzen. Stattdessen ermutigen wir sie, sich achtsam, Schritt für Schritt, diesen schwierigen Körperempfindungen, Emotionen und Vorstellungsbildern anzunähern, und helfen ihnen, zuerst Zugang zur bewussten Wahrnehmung bestimmter positiver Körpererfahrungen und -signale zu finden, um einen Wendepunkt einzuleiten. Der Rückblick auf bestimmte positive Erinnerungen dient der Vorbereitung auf die Verarbeitung eines angstauslösenden traumatischen Ereignisses, zum Beispiel eines sexuellen Übergriffs. Deshalb beginne ich mit der Schilderung von zwei positiven Erfahrungen in meiner Kindheit, die mich im späteren Leben verankert haben. Sie waren beide nicht nur ungeheuer spannend, sondern vermittelten mir darüber hinaus auch ein Gefühl von Sicherheit, Wärme und großmütiger Liebe.
Eine Geburtstagsüberraschung
Obwohl meine Kindheit von Gewalterfahrungen und lebensbedrohlichen Ereignissen geprägt war, gab es Zeiten, in denen ich mich geliebt und beschützt fühlte. Ich erinnere mich noch gut an zwei Begebenheiten, die mein Herz öffneten, positive Gefühle hervorriefen und das Bedürfnis in mir weckten, einen Freudentanz aufzuführen. Ich bin überzeugt, dass mir diese sinnlich wahrnehmbaren und emotional prägenden Erfahrungen halfen, Situationen durchzustehen, an denen ich sonst vielleicht zerbrochen wäre.
Als ich am Morgen meines vierten Geburtstags aufwachte, wartete eine riesige Überraschung auf mich. Mitten in der Nacht, während ich fest schlief, hatten sich meine Eltern auf leisen Sohlen in mein Kinderzimmer geschlichen. Unter meinem Bett beginnend und bis weit in den Raum hinein, hatten sie klammheimlich das kreisförmige Schienensystem einer elektrischen Lionel Modelleisenbahn verlegt.
Können Sie sich vorstellen, wie glücklich ich war, als ich vom Scheppern der Waggons aufwachte, die auf den Schienen entlangtuckerten? Ich sprang aus dem Bett und lief zum Transformator hinüber, mit dem ich die Geschwindigkeit des Zuges regulieren konnte. Voller Begeisterung betätigte ich das Signalhorn. Ich glaube, dass mir diese Überraschung das Gefühl gab, dass doch noch Wunder geschahen und dass ich geliebt und umsorgt wurde. Wenn ich über diese Erinnerung nachdenke, entsinne ich mich wieder an die zweite Situation aus einer noch früheren Zeit meines Lebens, in der ich mich unsäglich freute, weil ich mich nicht nur im wörtlichen Sinn sicher, aufgefangen und besonders wertgeschätzt fühlte.
Als ich ungefähr zwei Jahre alt war, leitete mein Vater ein Sommerferienlager in New England. Ein Schwarz-Weiß-Foto beschwor eine »Körpererinnerung« an ihn herauf, wie er im Schwimmbecken stand, nicht weit vom Rand entfernt. Ich sehe noch vor mir, wie ich loslief und ins Becken sprang. Er wollte sichergehen, dass ich nicht ertrank, als das Wasser über mir zusammenschlug und ich auf den Boden sank. Ich spüre noch heute seine Hände, die sich behutsam um meine Hüften schlossen, mich an die Oberfläche hoben und auf dem Gras neben dem Becken absetzten. Danach fühlte ich mich sicher genug, um immer wieder in vollem Tempo über die Rasenfläche zu laufen und in das Becken zu springen, in die Arme meines Vaters, die mich willkommen hießen. Nach zahlreichen Luftsprüngen wurde mir das Wasser so vertraut wie ein Freund. Mein Vater hielt meine ausgestreckten Arme, während ich auf dem Bauch im Wasser lag, mit den Beinen strampelte und die ersten Schwimmbewegungen machte. Nach dieser Einführung wurde Schwimmen meine Lieblingssportart. Später, als Erwachsener, hielt ich stets nach Möglichkeiten Ausschau, mich vom Wasser tragen zu lassen, gleich ob in einem See oder im Meer.
Diese im »Körpergedächtnis« gespeicherten Erinnerungen daran, beschützt und umsorgt zu werden, ermöglichten mir, mich einigen zutiefst belastenden Situationen zu stellen, ohne mich völlig überwältigt und hilflos zu fühlen. In späteren Jahren unterstützten sie meine Heilreise bei der Bewältigung des folgenden Traumas.
Ein Moment des grenzenlosen Entsetzens und der Gewalt
In meiner Kindheit und Jugend litt meine Familie lange Zeit unter den lebensbedrohlichen Einschüchterungsversuchen der Cosa Nostra, der New Yorker Mafia sizilianischen Ursprungs. Mein Vater war als Zeuge geladen, um gegen Johnny »Dio« Dioguardi auszusagen, ein skrupelloses Mitglied der Lucchese-Familie, die in der Bronx, ihrem Stammgebiet, weitgehend die organisierte Kriminalität beherrschte.2 Um meine Mutter, meine jüngeren Brüder und mich vor einem nahezu sicheren Tod zu bewahren, weigerte sich mein Vater, Johnny Dio ans Messer zu liefern, selbst als der junge und ehrgeizige Robert F. Kennedy, damals Chefberater des New Yorker Senatsausschusses, der die illegalen Machenschaften in den Gewerkschaften untersuchte, es unter Strafandrohung von ihm verlangte. Abbildung 1 im Bildteil in der Mitte des Buches zeigt ein Foto von Johnny Dio, das mehr sagt als tausend Worte.
Um dafür zu sorgen, dass mein Vater auch weiterhin Stillschweigen bewahrte, wurde ich als Zwölfjähriger von einer Straßengang in der Bronx, vermutlich den Fordham Daggers, brutal vergewaltigt. Der Überfall fand im dichten Gebüsch eines benachbarten Parks statt, an einem Ort, den ich bisher als Spielplatz und hochgeschätztes Refugium betrachtet hatte. Die Gruppenvergewaltigung war ein grauenvolles Geheimnis, das ich vor allen verbarg, insbesondere vor mir selbst. Ich vergrub es im hintersten Winkel meines Gedächtnisses, doch mein Körper erinnerte sich daran. Jeden Tag, wenn ich mich zu Fuß auf den Schulweg begab, war ich von Kopf bis Fuß angespannt und meine Kehle wie zugeschnürt, als wäre mein ganzes Sein darauf gerichtet, hyperwachsam und auf einen weiteren Angriff vorbereitet zu sein. Doch noch zerstörerischer war die fortwährende, quälende Angst, dass sich unsere Familie auflösen und damit jedes noch verbleibende Gefühl der Sicherheit zusammenbrechen könnte.
Ich war nie in der Lage, mit meinen Eltern offen über den Angriff zu sprechen. Mich ihnen anzuvertrauen, hätte die Gewalt nur bestätigt, der ich ausgesetzt war. Und so speicherte ich ihn tief in meiner Psyche ab, in einem Selbstbild, das von einem alles durchdringenden Gefühl der Scham, Schuld und der eigenen Minderwertigkeit geprägt war. Um diese schrecklichen Gefühle zu vermeiden, achtete ich gewissenhaft darauf, nicht auf Risse im Asphalt zu treten, wenn ich den Weg zwischen Schule und Elternhaus, der annähernd eineinhalb Kilometer betrug, zurücklegte. Ich sah in diesem klassischen Ritual eine Art Abwehrzauber, um die Bedrohung irgendwie abzuwenden.
Abgesehen davon betete ich fortwährend in der Hoffnung, dass mich eine höhere Macht vor einem weiteren Übergriff bewahren würde. Dabei pflegte ich meine Hände über dem Kopf zu falten, da es bei den orthodoxen Juden während des Gebets erforderlich war, den Kopf zu bedecken. Ich übernahm dieses Verhalten, obwohl meine Eltern in keinerlei Hinsicht praktizierende Juden waren. Als mein Vater mich dabei erwischte, ahmte er mich nach und verspottete mich. Diese Form der Erniedrigung war grauenvoll für mich. Wenn ich heute darüber nachdenke, gehe ich davon aus, dass mich dieser Demoralisierungsversuch davor bewahren sollte (zumindest nach seiner Vorstellung), ein solches Verhalten in der Öffentlichkeit an den Tag zu legen, wo ich vermutlich Empörung ausgelöst hätte. Leider hatte er damit nicht den gewünschten Erfolg. Es machte alles nur noch schlimmer. Ich fühlte mich von ihm nicht nur verspottet und erniedrigt, sondern auch allein gelassen mit meinen lähmenden Angst- und Panikattacken.
Ich brauchte vierzig Jahre, bis es mir gelang, Zugang zu meiner Körpererinnerung an die brutale Vergewaltigung zu finden und sie aufzulösen. Erst dann war ich in der Lage, Selbstempathie zu entwickeln, also mitfühlend mit mir selbst zu sein, und mein »Selbstwertgefühl« zu stärken. Diese schmerzliche Erinnerung auszugraben und zu verarbeiten, war ein langwieriger Prozess.
Ein verwundeter Heiler
Zeitraffer: Einige Jahrzehnte später. Während ich Somatic Experiencing (SE), meine Trauma-Lösungsmethode entwickelte, begannen sich auf unerklärliche Weise beunruhigende, anhaltende Körperempfindungen und flüchtig auftauchende Vorstellungsbilder einzuschleichen. Es fühlte sich an, als wären meine Kehle und mein Magen wie zugeschnürt und von einem weißen, zähflüssigen Schleim verstopft. Als diese alarmierenden Symptome nicht nachließen, wurde mir klar, dass es höchste Zeit war, mir eine Dosis meiner eigenen Medizin zu verabreichen. Wie ein altes Sprichwort besagt, versuchen wir, anderen...
Erscheint lt. Verlag | 28.8.2024 |
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Übersetzer | Ursula Bischoff |
Zusatzinfo | mit zahlreichen Fotos |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | An Autobiography of Trauma. - A Healing Journey |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 2024 • Autobiografie • Autobiographie • Autobiography • Biografie • Biographie • Biographien • eBooks • Erinnerungen • Memoiren • Neuerscheinung • Psychotherapeut • Psychotherapie • Selbstheilung • Somatic Experiencing • Sprache ohne Worte • Therapie • Trauma • Traumabewältigung • Traumaheilung • trauma und gedächtnis • vom trauma befreien |
ISBN-10 | 3-641-32095-X / 364132095X |
ISBN-13 | 978-3-641-32095-9 / 9783641320959 |
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Größe: 7,4 MB
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