Winterwasser (eBook)
304 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-22370-0 (ISBN)
Martin und Alexandra leben mit ihren beiden Kindern in einem kleinen Fischerhaus auf der Insel Orust an der Westküste Schwedens. Martin liebt das Meer über alles, bis zu dem Tag, an dem sein dreijähriger Sohn Adam in den Wellen verschwindet. Die Polizei geht von einem Ertrinkungstod aus, und für Martin bricht die Welt zusammen. Nur die Fotografin Maya findet noch einen Zugang zu ihm. Gemeinsam machen sie eine verstörende Entdeckung: Adam ist nicht das erste Kind, das an einem 11. Januar aus dem Fischerhaus verschwunden ist. Liegt ein Fluch über dem Ort - oder gibt es eine logische Erklärung? Ohne es zu wissen, begibt sich Maya in große Gefahr.
»Ein knochenhartes cooles Krimi-Debüt.« - Paula Hawkins über Opfermoor
Susanne Jansson wurde 1972 in der Kleinstadt Åmål nahe der norwegischen Grenze geboren. Sie arbeitete zunächst in Göteborg in einer Werbeagentur, bevor sie nach New York zog, um sich als Fotografin ausbilden zu lassen. Später kehrte sie nach Schweden zurück und studierte Journalismus. Inzwischen kombiniert sie seit langer Zeit ihre Tätigkeiten als Journalistin und Fotografin. Opfermoor ist ihr erster Roman, der in Schweden zu einem überragenden Erfolg wurde und sich noch vor Erscheinen in über 20 Länder verkaufte. »Winterwasser« ist ihr zweiter Roman und erschien posthum. Die Autorin verstarb 2019 an einer Krebserkrankung.
Wohlwollend leuchtete das Sonnenauge in der Höhe und schickte einige Lichtstrahlen hinab, die kurz unter der Wasseroberfläche barsten und auseinanderfielen. Das Licht seiner Stirnlampe wurde schwächer. Er hätte den Akku aufladen sollen. Nun, er war ja bald fertig.
Martin ließ den Blick über die Zuchtleinen seiner Aquakultur gleiten. Von Seegras und Muscheln überzogen glichen sie einem Unterwassergarten. Schließlich erreichte er den letzten am Meeresgrund vertäuten Anker. Er überprüfte die Festigkeit, indem er mehrmals an den Leinen zog. Alles wirkte intakt, nichts schien beschädigt zu sein.
Alles sah gut aus.
Er machte kehrt, nahm mit den Flossen Geschwindigkeit auf und steuerte auf das am Meeresgrund verlaufende Seil zu. Das eine Ende war in der Aquakultur verankert und das andere am Steg. Inzwischen war ihm richtig kalt. Hände und Rücken fühlten sich schon länger taub an, aber jetzt war sein ganzer Oberkörper eisig und gefühllos wie ein Fleischklumpen.
Zu dieser Jahreszeit, im Januar, war im Meer nicht viel los. Die eine oder andere winzige Krabbe wetzte davon und versteckte sich im Sand, und irgendwo lagen Flundern herum und warteten auf bessere Zeiten. Aber im Großen und Ganzen hatte die Kälte das marine Leben stillgelegt.
Spätherbst und Frühwinter waren anders. Die Zeit, wenn die Algen des Sommers verschwunden waren, die richtige Kälte aber noch nicht eingesetzt hatte. Wenn die Sicht klar war und überall Leben herrschte.
Wenn Regen, Schmuddelwetter und Stürme den Himmel verdunkelten, war man in der Ruhe und Stille unter der Wasseroberfläche bestens aufgehoben. Dann tauchte er häufig einfach nur zum Vergnügen.
Es war die schönste Art der Entspannung, schwerelos im Meer zu treiben, wenn die Welt auf die Fläche reduziert wurde, die der Lichtkegel seiner Taschenlampe erhellte. Alles andere verschwand dann. Mit den Gewässern in den Tropen war das nicht zu vergleichen. Dort betrug die Sicht in alle Richtungen zwanzig Meter. Hier waren die Dunkelheit, die Nähe und die Details der Sinn der Sache.
Unmittelbar unter der Oberfläche schwammen die Quallen. Die kleinen Seestachelbeeren glitzerten in verschiedenen Farben, wenn sie angestrahlt wurden. Und die Feuerquallen, die mit ihren meterlangen Tentakeln auf der Jagd waren: gesunde und starke Organismen in ihrem wahren Element, nicht diese kaputten, halbtoten Quallen, die normalerweise im Sommer in Ufernähe zu finden waren. Aber Vorsicht war angesagt! Einmal hatten sich ein paar Fäden einer Feuerqualle in seinem Atemregler verfangen. Daraufhin war seine Oberlippe bis zur Unkenntlichkeit angeschwollen.
Im Dunkeln zeigten sich auch Wesen, die bei Licht nicht zu sehen waren. Winzige Tintenfische, deren Farbe sich veränderte, wenn sie sich bedroht fühlten, Hummer, die aus ihren Höhlen gekrochen waren und Spaziergänge unternahmen. Oft bekam er sie allerdings nicht zu Gesicht, auch nicht die Krabben, die Seespinnen und die Einsiedlerkrebse. Er musste auf Bewegungen achten und auf die winzigen Augen, die das Licht seiner Taschenlampe reflektierten.
Er ließ seinen Blick über eine Felswand mit Korallen und Seepocken wandern. Plötzlich fühlte er sich beobachtet. Er drehte sich um. Hinter ihm schwebte eine weiße, leicht bläuliche Lungenqualle. Sie erinnerte an ein kleines Gespenst oder vielleicht an einen gerade aus der Erde gezogenen Pilz oder eine Atombombe, die eben explodiert war.
Ihm wurde klar, dass nicht nur er der Betrachter war. Er selbst wurde von allen Seiten beobachtet. Von den Wesen, die herumschwebten oder sich im Sand vergraben oder unter Steinen versteckt hatten, um seinem Blick zu entgehen, und deren Augen nie vom Lichtkegel seiner Taschenlampe erfasst wurden.
Jetzt sah er den Steg beim Schuppen vor sich.
Mit ein paar letzten Fußstößen war er dort. Langsam stieg er das letzte Stück zur Wasseroberfläche auf und bekam die Leiter zu fassen. Er zog die Schwimmflossen aus, warf sie auf den Steg und kletterte die Leiter hinauf. Sie war sehr stabil. Er hatte es sich einige Tausend Kronen kosten lassen, dass sie seinem Gewicht mit kompletter Ausrüstung standhielt.
Auf dem Steg zog er den Atemregler aus dem Mund, löste sämtliche Schläuche, streifte die Druckluftflaschen vom Rücken und legte alles in die bereitstehende Schubkarre. Dann schlurfte er sich mit schweren Schritten zu seinem Pick-up und fühlte sich dabei so gelenkig wie eine auf dem Rücken liegende Schildkröte.
Als er den Neoprenanzug ausgezogen und seine Ausrüstung in dem Wagen aufgehängt hatte, hustete er die Kälte aus den Lungen und ließ sich auf den durchgesessenen Sitz sinken. Er ließ den Motor an, goss sich Kaffee aus der Thermoskanne ein und wärmte seine Hände an dem heißen Becher.
Alles hatte gut ausgesehen.
Es war vorbei, alles würde wieder wie früher sein.
Wenn er doch nur daran glauben könnte!
Eine Viertelstunde später fuhr Martin los. Er umklammerte das Lenkrad, und seine Knöchel traten weiß hervor.
Niemand war zu sehen, als er den Schuppen hinter sich ließ und an dem Bauernhof der Brüder vorbeifuhr.
Er bemerkte keine missbilligenden Blicke. Trotzdem spürte er sie aus allen Richtungen, aus dem Haus, der Scheune oder einer der geparkten Landmaschinen.
Blicke, unterdrückte Wut.
Sie waren dort irgendwo, das wusste er.
Er überlegte, was er sich für die drei Tage, die er mit Adam allein sein würde, einfallen lassen sollte. Vielleicht könnten sie am Samstag einen Ausflug nach Göteborg machen, in den Zoo Slottsskogen. Adam wäre sicher begeistert, besonders wenn sie auch noch seinen Freund Vilgot mitnahmen. Aber morgen wollte er erst einmal zu Hause bleiben und den Schuppen und den Garten aufräumen. Minusgrade und bedeckter Himmel waren vorhergesagt. Kein besonders schönes Wetter, aber auch kein Schneesturm wie letztes Wochenende, als die Straße kaum noch zu sehen gewesen war und er die meiste Zeit in seinen vier Wänden hatte verbringen müssen. Morgen würde er mit Adam ans Meer gehen und Kaffee trinken, nachdem Alexandra und Nellie gefahren waren. Einfach entspannen.
Nach gut zwanzig Minuten bog er auf den Kiesweg zum Kindergarten ein. Er lag direkt am Meer, und seit er die anfängliche Sorge darüber, was alles geschehen könnte, abgelegt hatte, fand er, es sei der schönste in ganz Schweden. Diese ewige Unendlichkeit, in der sich die Kinder jeden Tag aufhalten durften, musste sie irgendwie zu guten Menschen machen, so dachte er manchmal, obwohl er es natürlich eigentlich besser wusste.
Die Kinder saßen auf Baumstämmen, die in einem Viereck um das Feuer platziert waren, und grillten Wurst. Martin parkte seinen Pick-up, suchte mit dem Blick nach seinem Sohn, bis er endlich den blonden Haarschopf und seinen blauen Overall entdeckte. Er blieb einen Augenblick sitzen und schaute einfach nur zu. Adam hatte den Pick-up noch nicht entdeckt. Er befand sich im Augenblick noch in seiner eigenen Welt. Der Welt ohne Eltern. Das zu beobachten faszinierte Martin. Er fand es großartig und auch ein wenig unheimlich, dass Adam auch ohne sie ein Individuum war. Jetzt aß er den letzten Rest seiner Wurst und bekam eine Serviette, um sich den Mund abzuwischen.
Der süße Schmollmund. Die runden, weichen Wangen. Die Augen, die allem gegenüber aufgeschlossen waren, bis sie auf etwas reagierten, was nicht in Ordnung war, nicht akzeptiert werden konnte. Oft Dinge, die mit Mulle zu tun hatten – dass er zu Hause liegen geblieben war und nicht sofort geholt werden konnte. Oder dass er selbst zu einer Puppe oder zu einem Teddybären gemein gewesen war und nicht wusste, wie er sich entschuldigen sollte. Alle Widrigkeiten und Freuden des Lebens konnte Adam irgendwie auf seine Flickenpuppe beziehen.
Martin schob den Sitz nach hinten und streifte die dicke Unterwäsche ab, die er beim Tauchen getragen hatte. Stattdessen zog er Jeans und Pullover über und stieg aus dem Wagen. Als er die Autotür zuschlug, hob Adam den Blick.
»Papa!«
Adam stand auf. Mit ausgestreckten Armen rannte er auf Martin zu.
»Hallo, mein Schatz«, sagte Martin und ging in die Hocke.
Ihre lange Umarmung roch nach Wurst, und Martin spürte, wie sich seine Unruhe auflöste und verschwand.
»Steig ein, ich geh deine Sachen holen und sag Bescheid, dass du morgen nicht kommst.«
Es dämmerte, als sie auf die Landstraße einbogen. Adam saß neben Martin in seinem rückwärtsgerichteten Kindersitz und versuchte, ein Papierflugzeug zu falten. Martins Handy ertönte. Eine Nachricht von Alexandra.
Kaufst du Popcorn? Dahinter ein großes Herz.
Martin lächelte und antwortete mit einem Kuss-Emoji.
Der kleine Lebensmittelladen lag direkt an der Landstraße und wurde vor allem von Leuten frequentiert, die außerhalb von Henån lebten und keine Lust auf die riesigen Supermärkte im Ort hatten. Er führte die notwendigsten Waren, und in einer Ecke standen ein Tisch, ein paar Stühle und ein Kaffeeautomat.
Fast immer stieß man hier auf jemanden, mit dem man sich kurz über Pferdewetten oder Fußball austauschen konnte. Adam saß dann da und wartete und bekam, wenn er Glück hatte, von einer netten Person einen Lutscher oder ein Bonbon.
»Warte hier, ich bin gleich wieder da«, sagte Martin, und Adam rannte, ohne zu antworten, zu einem der Korbstühle, seinem Stammplatz. Rasch suchte Martin zusammen, was er brauchte, und ging zur Kasse, um zu zahlen.
Von der Schlange vor der Kasse aus warf Martin einen Blick auf Adam. Er hatte Lisa auf dem Schoß, einen kleinen Pekinesen, den sie gelegentlich im Laden trafen und der einer älteren...
Erscheint lt. Verlag | 1.12.2024 |
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Übersetzer | Lotta Rüegger, Holger Wolandt |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Vintervatten |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2024 • Aberglaube • Åsa Larsson • eBooks • giftgrab • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Legenden • Lina Bengtsdotter • mädchenfeuer • Maria Grund • Mystery • Natur • Neuerscheinung • Opfermoor • Orust • Scandi • Schweden • Schwedenkrimi • Skandinavische Krimis • Thriller • verschwundenes Kind • Viveca Sten • Yrsa Sigurdardóttir |
ISBN-10 | 3-641-22370-9 / 3641223709 |
ISBN-13 | 978-3-641-22370-0 / 9783641223700 |
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