Grönemeyer (eBook)
368 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491918-8 (ISBN)
Michael Lentz, 1964 in Düren geboren, lebt in Berlin. Autor, Musiker, Herausgeber. Zuletzt erschienen: der Roman »Schattenfroh. Ein Requiem« (2018), der Kommentar »Innehaben. Schattenfroh und die Bilder« (2020), der Gedichtband »Chora« (2023), der Roman »Heimwärts« (2024) sowie »Grönemeyer« (2024), alle bei S. FISCHER. Michael Lentz wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis. Für »Chora« und sein Gesamtwerk erhielt Michael Lentz den Bettina-Brentano-Preis für Gegenwartslyrik 2024. Literaturpreise: Literaturförderpreis des Freistaates Bayern 1999 Aufenthaltstipendium Villa Aurora in Santa Monica, Kalifornien/USA 2001 Ingeborg-Bachmann-Preis 2001 Preis der Literaturhäuser 2005 Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2012 Bettina-Brentano-Preis für Gegenwartslyrik 2024
Michael Lentz, 1964 in Düren geboren, lebt in Berlin. Autor, Musiker, Herausgeber. Zuletzt erschienen: der Roman »Schattenfroh. Ein Requiem« (2018), der Kommentar »Innehaben. Schattenfroh und die Bilder« (2020), der Gedichtband »Chora« (2023), der Roman »Heimwärts« (2024) sowie »Grönemeyer« (2024), alle bei S. FISCHER. Michael Lentz wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis. Für »Chora« und sein Gesamtwerk erhielt Michael Lentz den Bettina-Brentano-Preis für Gegenwartslyrik 2024. Literaturpreise: Literaturförderpreis des Freistaates Bayern 1999 Aufenthaltstipendium Villa Aurora in Santa Monica, Kalifornien/USA 2001 Ingeborg-Bachmann-Preis 2001 Preis der Literaturhäuser 2005 Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2012 Bettina-Brentano-Preis für Gegenwartslyrik 2024
eine leidenschaftliche Grönemeyer-Analyse
Was Lentz vor allem vermitteln will und was ihm auch gelingt: Er zeigt, mit welcher Leidenschaft Grönemeyer seine Musik macht.
Der Dichter Michael Lentz hat versucht, hinter das Geheimnis Herbert Grönemeyers zu kommen, und ein beeindruckend tiefes Buch darüber geschrieben.
So ist ein anspruchsvolles Kompendium entstanden, in dem jeder etwas finden kann, das ihn interessiert – ob Fan oder Fachmann.
Ein besonderes Buch (...), das nicht nur für Fans, sondern auch für junge Liedermacher bis hin zu etablierten Musikproduzenten sehr lesenswert ist.
1. Herkunft und Familie
Willkommen im Ruhrgebiet
»Im Grunde genommen bin ich in Bochum geboren, im Herzen des Ruhrgebiets«, versichert Herbert Grönemeyer. Wer sollte daran zweifeln? Eine Hymne auf Göttingen hat er jedenfalls nicht geschrieben. Bochum und das Ruhrgebiet haben ihn geprägt, seine Liedtexte und ihre zum Teil kürzelhaften Sprachformungen sind der künstlerische Ausdruck dieser Prägung.
Spricht man mit Herbert Grönemeyer über das Ruhrgebiet, kann es passieren, dass er zu einem mentalitätsgeschichtlich fundierten Vortrag ausholt, gekrönt von kuriosen Episoden und Anekdoten. Anschauungsreich spricht er dann vom humorvollen und stolzen Menschenschlag und einer Arbeiterkultur, die jeden Tag einem ungeheuren Druck ausgesetzt war und ist. Im Ruhrgebiet werde man mit einem selbstverständlichen Stolz groß, den auch das Bewusstsein darüber nicht anficht, dass diese Gegend immer leicht belächelt werde. Für den einen oder anderen Mentalitätswitz gut, werde diese Region ansonsten nicht wirklich wahrgenommen.
Der Bergbau war für die Region von existenzieller Bedeutung und zugleich ein Risiko für die Gesundheit und das Leben der Kumpel. Das Bewusstsein, harter Arbeit bei permanentem Risiko ausgesetzt zu sein, ist einem schon als Kind gegenwärtig gewesen und hat einen bei allem begleitet, was man erlebte. Der selbst wieder volksliedhaft gewordene Refrain »Bochum, ich komm aus dir / Bochum, ich häng an dir / Glück auf, Bochum!« bringt mit dem zitierten Bergmannsgruß eine stolze Verbundenheit, aber auch Abhängigkeit zum Ausdruck: Bezieht man das »Ich« des Liedes nicht nur auf Herbert Grönemeyer, sondern auch auf die Bergmänner, bekommen die Wendungen »ich komm aus dir« und »ich häng an dir« im Hinblick auf den im Lied besungenen Bergbaukontext (»Pulsschlag aus Stahl«, »Grubengold«, »hochgeholt«) eine spezifische metaphorische Färbung gefährdeter Existenz.
Im Ruhrgebiet mischten sich zwei Kulturen problemlos, so Herbert Grönemeyer, die polnische und die westfälische. Die Folge sei der schon fast dadaistische Humor gewesen, die relativ undeutsche Selbstironie, der Hang zu alberner Schwermut und in Feierlaune eine Art sizilianische Lebensfreude.
Zusammen mit London weist der Ballungsraum Ruhrgebiet auf europäischer Ebene die regional größte Bevölkerungsdichte auf, doch was weiß man, vom Fußball einmal abgesehen, wirklich über das Ruhrgebiet? Das Ruhrgebiet, so Herbert Grönemeyer, ist unbekannt. Es war Garant für das deutsche Wirtschaftswunder und ist auch heute noch, bei allem wirtschaftlichen Strukturwandel, von großer kultureller Bedeutung.
Die Unbekanntheit des Ruhrgebiets liegt für Herbert Grönemeyer zum einen an der alle Differenzierungen einkassierenden Kohle, zum anderen an der Selbstgenügsamkeit der Menschen, die keiner Imagepolitur und keiner gesteigerten Öffentlichkeitsarbeit bedürften. Sein Vater zum Beispiel sei mit sich selbst gut klargekommen, er sei kein Protzer gewesen, und dieses zurückhaltende, menschenfreundliche Selbstbewusstsein habe auch in der Sprache seinen Ausdruck gefunden.
Was das Image betrifft, das den Menschen aus dem Ruhrgebiet voranläuft, hat Herbert Grönemeyer verschiedentlich seine eigenen Erfahrungen gemacht: Anna Henkel, seine erste Frau, kam aus Hamburg, 1979 spielten beide in dem Film Uns reicht das nicht von Jürgen Flimm, bei den Dreharbeiten wurden sie einander vorgestellt oder stellten sich selbst gegenseitig vor, und die ganze Mimik und Gestik seiner zukünftigen Frau verriet, dass er für sie eine Art Alien, ein Exot, etwas völlig Fremdes war: aus dem Ruhrgebiet, das sagte zunächst einmal alles.
Der französische Film Willkommen bei den Sch’tis könnte in Deutschland im Ruhrgebiet gedreht werden, in das zum Beispiel jemand aus Hamburg »strafversetzt« wird. Den Menschen aus dem Ruhrgebiet haftet das Klischee an, jeden Tag dreimal ihre Wäsche zu waschen; eine Sisyphusarbeit, wird die Wäsche, wenn sie draußen hängt, doch abends schwarz wieder reingeholt. Mit solchen zum Teil abstrusen Vorurteilen sei man im Ruhrgebiet im Allgemeinen aber klargekommen, sagt Herbert Grönemeyer, man habe nicht darunter gelitten. Vielleicht resultiere aus dieser mentalen Disposition auch die Solidarität und innere Verbundenheit mit den Menschen aus den neuen Bundesländern, die er sich einbilde immer verstanden zu haben, sei ihnen doch, gelinde gesagt, oftmals Desinteresse entgegengeschlagen, zum Teil bis heute.
»Mit diesem Desinteresse konnten wir uns zu Hause gut arrangieren, zumal wir, recht untypisch für die deutsche Mentalität, auch Selbstironie pflegten. Über uns sich lustig machen können wir schon selbst. Du kommst ins Ruhrgebiet und fragst, ›Wie geht es denn hier zur Querenburger Straße?‹, und erhältst eine Gegenfrage zur Antwort: ›Wat willst du da denn?‹ Als Fremder muss man sich hier fast schon ›britisch‹ wappnen, man begegnet dir hier nicht berlinerisch flapsig, sondern mit einer Vorurteile vorwegnehmend auskonternden Art«, erzählt Herbert Grönemeyer. Sei man der Möglichkeit einer solchen Situation und Kommunikation nicht gewahr und reagiere auf die unpräzise Wegbeschreibung indigniert mit dem Spruch: »Du kommst aber recht bescheuert rüber hier«, müsse man bei dem solchermaßen zu höflicheren Umgangsformen Angehaltenen damit rechnen, dass er die Kritik als Kompliment verstehe.
Der Humor des Ruhrgebiets ist schnell, verspielt und hintergründig, zuweilen auch bloß albern. Künstler wie Helge Schneider, Hape Kerkeling oder Bastian Pastewka sind, je auf ihre Art, Repräsentanten dieser Art von Komik. Das ist ein eigenes Label: Ruhrgebietskultkomik. »Je härter die Arbeitswelt, desto schneller, leichter, alberner der Humor. Flink im Kopf sein, auf den Punkt kommen, das sind die prägenden Grundtugenden im Ruhrgebiet«, sagt Herbert Grönemeyer.
Die Kürzelsprache, aus der Herbert Grönemeyers Liedtexte zum Teil bestehen, hat mit den sprachlichen und mentalen Eigenheiten des Ruhrgebiets zu tun. Und auch die kulturelle Vielfalt – das Ruhrgebiet als »Vielvölkerstaat« – findet in seinen Texten einen Hallraum.
»Ich bin zu einer Zeit groß geworden«, sagt Herbert Grönemeyer, »als Menschen aus ganz Europa ins Ruhrgebiet kamen, Türken, Italiener, Spanier, Jugoslawen, Polen, Franzosen. Dass wir mit so vielen Kulturen zusammenlebten, empfanden wir als Auszeichnung. Wir waren schlicht und ergreifend beeindruckt, dass diese Menschen überhaupt ins Ruhrgebiet kamen und hier mit uns zusammenleben wollten. Aus diesem Zusammenleben ist eine eigenständige, für die Region typisch gewordene Kulturgemeinschaft entstanden, mit einem Zusammengehörigkeitsgefühl wie bei einer international besetzten Fußballmannschaft. Fortan hatte das Ruhrgebiet viele Namen, Namen wie Szymaniak, Grzyb, Tucholsky oder Kuczewski. Wir dachten nicht darüber nach, wo jemand herkommt und warum er so heißt. Wer hier hingekommen war und hier lebte und arbeitete, gehörte dazu. Das Ruhrgebiet hatte mit die meisten Kneipen in Europa, jeder Fußballverein hatte eine Kneipe, da kamen keine Berührungsängste auf. Man sagte auch, wenn Schalke 04 in Warschau spielt, brauchen Mannschaft und Fans keine Hotels, die wohnen alle bei ›de‹ Verwandten.« Die polnischen Einwanderer hätten den Humor mitgebracht, und dieser Import habe den Unterschied zwischen Ostwestfalen und Westwestfalen begründet: »Die Ostwestfalen haben diesen Einfluss nicht, sie sind wesentlich trockener, während er im Ruhrgebiet zu einer starken Vitalisierung beitrug.«
Das Internationale war in Herbert Grönemeyers Familie schon angelegt. Seine Mutter wurde in Tallinn, der Hauptstadt Estlands, geboren. Vorfahren mütterlicherseits waren Russen, es wurden russische Romane gelesen und auch russische Lieder gesungen. Zu Hause habe man nicht darüber nachgedacht, ob jemand, der im Ruhrgebiet lebe, Türke, Pole, Jugoslawe oder zum Beispiel Spanier sei: »Für uns waren alle schlicht und ergreifend Ruhrgebietsmenschen. Deshalb sind mir auch die Debatten, die über deutsch und nicht deutsch, über einheimisch und nicht einheimisch geführt werden, völlig fremd. Wo liegt das Problem?«
»Das Ruhrgebiet in mir verliert sich nicht«, sagt Herbert Grönemeyer. Sein enger Bezug zum Ruhrgebiet zeige sich zum Beispiel daran, dass zwei Tage Anwesenheit den Umstand, dass er nun schon mehr als vierzig Jahre nicht mehr dort lebe, aufwiegen könnten, die Basis frische sich sofort wieder auf. Diktion und Denkart, Formulierungs- und Erklärungsweise von Sachverhalten seien ihm immer noch eigen, auch wenn er zwischenzeitlich in verschiedenen Städten und Ländern gelebt habe.
Sich selbst immer wieder zu relativieren und alles zunächst einmal auf den Prüfstand zu stellen, nichts vorschnell hinzunehmen, sind für Herbert Grönemeyer Charaktereigenschaften, die mit dem Ruhrgebiet zu tun haben. Oberflächlichkeit ist die Sache des Ruhrgebietlers nicht, er ist ziemlich basisorientiert. Die Ansprache ist direkt und klar. Gelegentliche scheinbare Verunklarungen sind Programm.
»Sprache ist im Ruhrgebiet eher Signalgebung und Brückenschlag als Akrobatik oder Kunst«, so Herbert Grönemeyer am 31. Oktober 2012 in seiner Leipziger Poetikvorlesung. Und weiter: »Hier wurde sie auf das Knappste und Wesentliche reduziert und diente als Morsealphabet zwischen Deutschen und Polen. Die Polen kamen Ende des 19. Jahrhunderts an die Ruhr, um den Anwohnern zu zeigen, wie die Kohle aus der Wand kommt, und das nach dem modernsten polnischen Prinzip, da man im Westen doch noch eher fassungslos...
Erscheint lt. Verlag | 25.9.2024 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 80er Jahre • Anspruchsvolle Literatur • Bochum • Ein Buch von S. Fischer • Freundschaft • Kreativität • Lebensfreude • Liebeslied • Männer • Millionen-Erfolg • Musik-Produktion • Musikstudio • Politisches Engagement • Pop-Musik • Pop-Star • Rock • Ruhrgebiet • Schallplattenmarkt • Songwriter • Stimme • Streaming |
ISBN-10 | 3-10-491918-6 / 3104919186 |
ISBN-13 | 978-3-10-491918-8 / 9783104919188 |
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