Inge Feltrinelli (eBook)

Das erste Leben | «Die letzte Königin der Verlagswelt». (FAZ)

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
384 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02167-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Inge Feltrinelli -  Marco Meier
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Eine ungewöhnliche, schillernde Frauenbiographie: Das erste Leben der späteren Verlegerin Inge Feltrinelli Die junge Inge Schönthal stolpert eher in ihren Beruf als Fotografin, als dass sie ihn sich ausgesucht hat. Und doch ist es eine Fu?gung des Schicksals, als sie in Hamburg bei Rosmarie Pierer die Kamera zum ersten Mal in die Hand nimmt. Es klickt - und Inge stu?rzt sich fortan mit Mut, Ehrgeiz und Durchhaltevermögen in die männerdominierte Welt des Fotojournalismus der 1950er-Jahre. Mit ihrem Gespu?r fu?r Motive und Menschen und einer großen Portion Abenteuerlust erobert sie in atemberaubendem Tempo die Konferenzräume großer Zeitschriften, sie reist fu?r Fotoreportagen um die halbe Welt, verbringt auf Kuba Zeit mit Hemingway, porträtiert Picasso in Frankreich, erwischt Greta Garbo an einer Ampel in New York und hält in Hamburg Einzug in die intellektuellen Zirkel der pulsierenden Stadt. Bis eine folgenreiche Begegnung beim Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt mit dem italienischen Verleger und glu?henden Kommunisten Giangiacomo Feltrinelli ihrem Leben eine andere Wendung gibt. «Inge Feltrinelli war die letzte Königin der Verlagswelt». (FAZ) «Wenn sie kam (meist orange gekleidet), ging ein Sonnenstrahlen von ihr aus. Die vor Lebenslust sprühende, die lustige und laute, schicke, unkonventionelle, charmante, exzentrische Inge».  (Susanne Schüssler, Die Zeit) «Inge Feltrinelli witzug, schnell, frivol wie immer». (Fritz J. Raddatz, Tagebücher)

Julika Brandestini, geboren 1980 in Berlin, arbeitet seit 2008 als freiberufliche Übersetzerin und Redakteurin. 2010 erhielt sie den Förderpreis des Deutsch-Italienischen Übersetzerpreises. Sie übersetzte unter anderem Michela Murgia, Elena Ferrante und Michele Serra. Verena von Koskull, Jahrgang 1970, studierte Italienisch und Englisch für Übersetzer sowie Kunstgeschichte. 2020 erhielt sie den Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis. 2022 war sie Stipendiatin der Casa di Goethe in Rom. 

Julika Brandestini, geboren 1980 in Berlin, arbeitet seit 2008 als freiberufliche Übersetzerin und Redakteurin. 2010 erhielt sie den Förderpreis des Deutsch-Italienischen Übersetzerpreises. Sie übersetzte unter anderem Michela Murgia, Elena Ferrante und Michele Serra. Verena von Koskull, Jahrgang 1970, studierte Italienisch und Englisch für Übersetzer sowie Kunstgeschichte. 2020 erhielt sie den Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis. 2022 war sie Stipendiatin der Casa di Goethe in Rom. 

«Siegfried hatte keine Wahl.»


Diesmal bemüht sich Trudel besonders, leise zu sprechen. Hinter der Tür schläft Ingemaus, dessen ist sie sich sicher, schließlich war es ein sehr anstrengender Tag, aber man weiß ja nie. Mutter und Tochter hatten fröhlich das Haus verlassen und trotz der Blicke der Passanten hüpfend die Straße überquert, die sie von der Grundschule trennt. Der Augenblick war gekommen, Inge in der Schule anzumelden. Ein neues Leben für sie, für alle, in diesem von düsteren Vorzeichen überschatteten Jahr 1936.

Im Sekretariat war man freundlich, bis Trudel anfing, die persönlichen Daten des Mädchens zu nennen: Vater Jude, Mutter Arierin.

«Jüdischer Mischling ersten Grades», lautete der Kommentar des Angestellten, als hefte er ihr ein Etikett an.

Erst ein Jahr zuvor sind die Nürnberger Gesetze verabschiedet worden und mit ihnen die Regeln, nach denen man sich mit deutschem Blut und deutscher Ehre rühmen darf. Im Fall der kleinen Inge bedeutet das, keine deutsche Schule, es sei denn, fügt der Angestellte hinzu, das Schulamt entscheidet anders.

Trudel traut ihren Ohren nicht. Natürlich kennt sie die Regeln gut, jeder kennt sie, aber niemand darf es wagen, sich in das Leben ihrer Tochter einzumischen. Und so erhebt sie an diesem Tag in der Schule zornig die Stimme, damit alle genau hören, was sie zu sagen hat, auch die Eltern der ‹reinrassigen› Kinder. Sie brüllt, wenn man Inge nicht annehme, würde sie auf einer jüdischen Schule landen. Und wenn heute schon von einem Tag auf den anderen jüdische Lehrer verschwänden, wer weiß, was dann eines Tages mit den Kindern geschehe.

«Wenn die Dinge so stehen», schloss Trudel, ohne die Stimme zu senken, «dann wird meine Tochter nicht in die Schule gehen.» Dann nahm sie die Kleine bei der Hand und ging mit ihr nach Hause.

Jetzt erzählt sie ihrem fassungslosen Ehemann haarklein, was sie am folgenden Tag zu tun gedenkt.

Auf der anderen Seite der Tür kämpft Ingemaus gegen den Schlaf: Bei all der Aufregung des Tages, die ihr die Lider schwer macht, gelingt es ihr einfach nicht, wach zu bleiben und den aufgeregten Stimmen zu lauschen. Das Einzige, was sie mit Sicherheit weiß, ist, dass sie ihre Mutter noch nie so wütend erlebt hat.

 

Am nächsten Tag hat sich Trudels Zorn keinen Deut gelegt. Gleich in der Frühe geht sie zum Schulamt. Von dort wird sie zum Oberinspektor Thomas Elgering geschickt. Er ist derjenige, der über die Schulzulassungen der ersten Klasse entscheidet.

Oberinspektor Elgering kennt nur zwei Arten, seine Arbeit zu verrichten: Strenge und Unfreundlichkeit. Die Kombination der beiden erlaubt es, Dinge schnell abzuarbeiten. Wer nicht vor der ersten kuscht, die auf eisernen Regeln und Bürokratie fußt, ist gezwungen, vor den pampigen Antworten, die keine Widerrede dulden, den Rückzug anzutreten. Genau solche bekommt Trudel zu hören, als sie auch bei ihm darauf besteht, dass die Tochter keinesfalls an einer jüdischen Schule angemeldet werden dürfe.

«Und wo dann?»

Oberinspektor Elgering liebt rhetorische Fragen, die er vor allem für Menschen wie Inges Mutter übrighat. Kämpferische Personen, aber mit stumpfen Waffen gegenüber einem Staatsdiener.

Mühsam ihren Zorn im Zaum haltend, bemüht sich Trudel, ihm das Offensichtliche zu erklären, nämlich die Gefahren, die ihrer Tochter drohen.

«Das können Sie nicht zulassen, Herr Oberinspektor.»

Doch der hebt nur die Augenbraue, wie um sie herauszufordern, diesen Satz noch einmal zu wiederholen.

Trudel bleibt nichts anderes übrig, als das Büro zu verlassen, doch fühlt sie sich weder geschlagen noch entmutigt, denn sie hat noch ein letztes Ass im Ärmel und bittet darum, vom Schulrat empfangen zu werden, der für das Schulsystem verantwortlich ist.

Der Schulrat ist ein ganz anderer Mensch als Elgering. Alt, gutmütig, freundlich. Sicherlich kein Nazi, denkt sich Trudel, und als sich der Beamte schweigend ihre Klagen anhört, ist sie überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. Doch gute Manieren können gegen das vom deutschen Reich errichtete bürokratische Labyrinth wenig ausrichten. Der Schulrat empfiehlt Trudel, einen förmlichen Antrag bei der Obersten Schulaufsichtsbehörde in Düsseldorf einzureichen und sich, sollte dieser unbeantwortet bleiben, direkt an den Kultusminister zu wenden. Ein endloser Aufstieg zu den Gipfeln der Bildungsinstitutionen. Ein Unterfangen, an dem jeder verzweifeln würde, nicht aber Trudel, die sich das nicht zweimal sagen lässt und im Laufe weniger Tage die Anträge fertig macht und abschickt.

 

Schweigen. Monatelang. Keine Nachricht, weder von der Obersten Schulaufsichtsbehörde noch vom Minister. Für Inge hat dieses Schweigen wieder einmal die Form der aufgeregten Stimmen ihrer Eltern angenommen, die auf den späten Abend warten, um über das weitere Vorgehen zu diskutieren. Inge ist zwar noch klein, aber ihr ist trotzdem klar, dass die Zeit allmählich knapp wird: Für sie soll die Schule nach Ostern des Jahres 1937 beginnen, und sie kann es kaum erwarten, die Stifte und Hefte zu benutzen, die sie mit ihrer Mutter gekauft hat.

Eines Abends klingen die Stimmen der Eltern noch aufgeregter als sonst, vielleicht weil Trudel entschieden hat, persönlich nach Düsseldorf zu fahren, um noch höhere Instanzen zu bemühen, und jetzt ihren Ehemann, der am folgenden Tag in der Filiale in Mönchengladbach zu tun hat, zu überzeugen versucht, sie mitzunehmen. Trudel ist es egal, wenn sie stundenlang auf den Ämtern herumsitzen muss, sie will nur eine Antwort. Und die Antwort kommt. Der Zuständige im Referat für Bildung bestätigt ihr, dass ihr Kind der deutschen Schule zugewiesen wird. Trudels Eingabe hat einen langen Weg genommen, doch am Ende hat sie es bis auf den Schreibtisch des Ministers Bernhard Rust in Berlin geschafft, der bekräftigen wird, dass Inge qua ihres Geburtsjahres 1930 und der evangelischen Taufe das Recht habe, die deutsche Schule zu besuchen. Der Leviathan der Gesetze hat sich selbst bezwungen.

 

Für eine Weile kehrt im Hause Schönthal wieder Fröhlichkeit ein. Gleich nach der wunderbaren Nachricht hat Trudel sich vor lauter Glück einen kleinen Luxus erlaubt: einen Fünf-Uhr-Tee im Düsseldorfer Café Tabari, wo der Akkordeonspieler und Polka-König Will Glahé spielt, der in jenen Jahren mit seinem Tanzorchester Furore macht. Alles würde sich finden. Alles würde gutgehen. Das besagt schließlich auch der Brief des Bürgermeisters von Essen, Doktor Bubenzer, den Trudel in Händen hält: «Hiermit wird bestätigt, dass Ihre Tochter der deutschen Schule in der Steelerstraße 342 zugewiesen ist.» Mit diesem Brief kehrt Trudel am folgenden Tag zum Oberinspektor des Essener Schulamts, Thomas Elgering, zurück. Sie hat nicht die geringste Lust, noch einmal mit diesem schrecklichen Beamten zu sprechen, doch zu gerne möchte sie das Gesicht des Bürokraten sehen, wenn er von ihrem Sieg erfährt. In einer Welt, in der sich Rechte unaufhaltsam erodieren, ist es Trudel gelungen, ihr Recht geltend zu machen. Herr Elgering empfängt sie mit der üblichen Kälte, und Trudel teilt ihm nicht minder ungerührt mit, dass ihre Tochter nach Ostern den Unterricht besuchen wird. «Ich hab’s Ihnen ja gesagt», schließt sie, um zu unterstreichen, dass sie nie vorgehabt hatte, diesen Kampf zu verlieren.

 

Wenige Wochen nach Ostern kommt Inge tränenüberströmt nach Hause. Der Lehrer hat ihr mit dem Rohrstock auf den Kopf geschlagen, weil sie, so behauptet er, den Unterricht gestört habe.

«Das stimmt nicht, Mama, mir ist nur die Tafel runtergefallen!»

Bisher hat Trudel noch nie am Wort ihrer Tochter gezweifelt, und wegen einer aus den Händen gerutschten Schiefertafel wird sie bestimmt nicht damit anfangen.

«Herr Schandry ist ein Nazi», sagt Trudel am Abend zu ihrem Mann. Das genügt, um zu sagen, wie die Dinge liegen. Das Kind ist an der deutschen Schule aufgenommen worden, doch das bedeutet sicher nicht, dass das Etikett des «Mischlings ersten Grades» aus den Köpfen der Lehrer gestrichen ist. Hier geht es nicht darum, dass Inge wie vor Kurzem gezwungen wird, mit der rechten statt mit der linken Hand zu schreiben. Hier steht weit mehr auf dem Spiel.

Die Stimmen hinter der Tür sind zurückgekehrt, und jetzt weiß Inge, was sie bedeuten. Es wird etwas passieren.

Trudel geht direkt zu Lehrer Schandry. Sie deutet auf den Rohrstock, den er in der Nähe seines Pultes verwahrt, und sagt, so, wie er diese Waffe benutzt habe, um ihre Tochter zu bestrafen, werde sie ihm damit ins Gesicht schlagen, sollte er es wagen, dies noch einmal zu tun. Und sie endet: «Ich werde so heftig zuschlagen, dass Ihnen ein Striemen bleibt. Und zwar vor der ganzen Klasse.»

Das ist einer der vielen rebellischen Akte, die Monat für Monat von einem Meer beängstigender Neuigkeiten verschluckt werden. Immer mehr jüdische Läden werden mit dem Davidsstern und der Aufschrift ‹Jude› gekennzeichnet. Die Gestapo beginnt, systematisch in jüdische Wohnungen einzudringen und die Männer festzunehmen. Ein Jahr später, 1938, ist die Bedrohung allgegenwärtig, und im November desselben Jahres verändert sich alles. Nach der Reichspogromnacht werden im ganzen Land etwa dreißigtausend Juden verhaftet. Hunderte Synagogen werden in Brand gesteckt, jüdische Versammlungs- und Gebetsräume zerstört. Jetzt verändert sich auch der scheinbar unerschütterliche Väti, er wird schweigsamer, fast...

Erscheint lt. Verlag 17.9.2024
Übersetzer Julika Brandestini, Verena von Koskull
Zusatzinfo Zahlr. s/w-Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Berühmte Frauen • Carmen Korn • Frauenbiografien • Göttingen • Greta Garbo • Hamburg • Heinrich Maria Ledig-Rowohlt • Hemingway • Jüdisch • jüdische Intellektuelle • Ledig-Rowohlt • Picasso • Rowohlt • Simone de Beauvoir • Verlagswesen • Verlegerin
ISBN-10 3-644-02167-8 / 3644021678
ISBN-13 978-3-644-02167-9 / 9783644021679
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