Volkserzählungen 1872 - 1909 -  Leo N. Tolstoi

Volkserzählungen 1872 - 1909 (eBook)

Übertragen von Erich Boehme

(Autor)

Peter Bürger (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
464 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-4692-4 (ISBN)
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Der vorliegende Band enthält alle bedeutsamen "Volkserzählungen 1872-1909" von Leo N. Tolstoi: dargeboten gemäß der Gesamtausgabe des Übersetzers Erich Boehme aus dem Jahr 1925, ergänzt um einen bibliographischen Anhang. In diesem Teil der dichterischen Werke wird besonders eindrucksvoll die Botschaft vermittelt, "dass nach Christi Lehre das Übel nicht durch Übel ausgerottet werden kann, sondern dass jedes gewaltsame Widerstreben es nur vergrößert, dass nach Christi Lehre das Übel nur durch das Gute ausgerottet werden kann". Derweil hängen die Herrschenden und ihre Staatskirchen zu allen Zeiten der irrationalen Heilslehre an, man müsse Gewalt mit Gewalt, Kriegsverbrechen mit weiteren Kriegsverbrechen und Eskalation beantworten. Solchem Aberwitz, der in der Geschichte noch immer in den Abgrund geführt hat, setzt Tolstoi seine Anwaltschaft der Vernunft und eine wahrhaftige Religion entgegen. Die leutenahen Erzählungen, Legenden, Märchen und Gleichnisse des russischen Dichters spiegeln markante Stationen seiner literarischen Werkstatt. Aufgrund der Schulerfahrungen in Jasnaja Poljana fragt er sich schon 1862: "Wer soll bei wem schreiben lernen, die Bauernkinder bei uns oder wir bei den Bauernkindern?" Während seiner Arbeit an den "Alphabet"-Büchern bekennt Tolstoi 1872 seine Abneigung gegen Verfahren der anerkannten Literatur: "... die Sprache aber, die das Volk spricht ..., liebe ich. Sie ist außerdem ... der beste poetische Regulator. Man versuche nur, etwas Überflüssiges, Aufgeblasenes ... zu sagen - diese Sprache wird es nicht erlauben". In die Zeit der existentiellen religiösen Suche fällt 1879 die folgenreiche Begegnung mit dem Legendenerzähler Wassili Petrowitsch Schtschegoljonok. Seit der Gründung des Verlages "Posrednik" (Vermittler) 1884 bis hin zum Lebensende erweist sich die Arbeit an Erzählungen und Lesewerken für die - keineswegs "kleinen" - Leute als ein Herzensanliegen Tolstois. Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe C, Band 10 (Signatur TFb_C010). Herausgegeben von Peter Bürger.

Leo (Lew) Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910) stammte aus einer begüterten russischen Adelsfamilie; die Mutter starb bereits 1830, der Vater im Jahr 1837. Zunächst widmete sich der junge Graf dem Studium orientalischer Sprachen (1844) und der Rechtswissenschaft (ab 1847). 1851 Eintritt in die Armee des Zarenreiches (Kaukasuskrieg, Krimkrieg 1854). 1862 Eheschließung mit Sofja Andrejewna, geb. Behrs (1844-1919); das Paar hatte insgesamt dreizehn Kinder (Hauptwohnsitz: Landgut Jasnaja Poljana bei Tula). Literarischen Weltruhm erlangte L. Tolstoi durch seine Romane "Krieg und Frieden" (1862-1869) und "Anna Karenina" (1873-1878). Ab einer tiefen Krise in den 1870er Jahren wurde die seit Jugendtagen virulente religiöse Sinnsuche zum "Hauptmotiv" des Lebens. Theologische bzw. religionsphilosophische Arbeiten markieren die Abkehr von einem auf dem Pakt mit der Macht erbauten orthodoxen Kirchentum (Exkommunikation 1901). Für Christen sah Tolstoi ausnahmslos keine Möglichkeit der Beteiligung an Staats-Eiden und Tötungsapparaten (Militär, Justiz, Todesstrafe, Herrschaftsideologie des Patriotismus, blutige Revolution mit Menschenopfern). Die in der Bergpredigt Jesu erkannte "Lehre vom Nichtwiderstreben" ließ ihn schließlich zu einem Inspirator Gandhis werden. Lackmusstext für den Wahrheitsgehalt aller Religionen waren für Tolstoi die Ablehnung jeglicher Gewalt und das Zeugnis für die Einheit der ganzen menschlichen Familie. Thomas Mann fand wenig Gefallen an der hochmoralischen "Kunsttheorie" und den (von Rosa Luxemburg z.T. durchaus geschätzten) Traktaten des späten Tolstoi, bemerkte aber - mit Blick auf die vielen Millionen Toten des Ersten Weltkriegs - 1928 anlässlich der Jahrhundertfeier von Tolstois Geburt: "Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären."

Der Gefangene im Kaukasus


1. ǀ

Im Kaukasus diente ein junger Offizier namens Shilin.

Einmal erhielt er einen Brief aus der Heimat. Seine alte Mutter schrieb ihm: „Ich bin recht alt geworden und möchte vor meinem Tode gern meinen geliebten Sohn noch einmal sehen. Komm her, um Abschied von mir zu nehmen; beerdige mich, und dann tritt in Gottes Namen Deinen Dienst wieder an. Ich habe auch eine Braut für Dich ausgesucht: ein kluges, hübsches Mädchen mit Vermögen. Wenn sie Dir gefällt, heiratest Du vielleicht und bleibst dann ganz hier.“

Shilin wurde nachdenklich. In der Tat, der alten Frau ging es schon recht schlecht; vielleicht würde er sie wirklich nicht wiedersehen. „Ich sollte heimreisen, und wenn mir die Braut gefällt, kann ich ja auch heiraten.“

Er ging zum Oberst, nahm Urlaub, verabschiedete sich von den Kameraden, ließ den Soldaten zum Abschied vier Eimer Branntwein geben und machte sich reisefertig.

Im Kaukasus war damals Krieg. Die Straßen waren weder bei Tage noch bei Nacht sicher. Verließ mal einer von den Russen zu Fuß oder zu Pferde die Festung, dann schlugen ihn die Tataren tot oder schleppten ihn in die Berge. Deshalb war die Einrichtung getroffen, daß wöchentlich zweimal Reisende durch Soldaten von Festung zu Festung geleitet wurden. Vorn und hinten zogen die Soldaten, in der Mitte die andern Leute.

Es war im Sommer. Früh am Morgen verließen die Wagen die Festung, die Geleitmannschaft trat an, und man machte sich auf den Weg. Shilin war zu Pferde; die Telege mit seinem Gepäck fuhr mit den andern Wagen.

Es waren fünfundzwanzig Werst zu machen. Die Wagen fuhren nur langsam dahin: bald machten die Soldaten halt, bald brach ein Rad an einem Wagen, oder ein Pferd ging nicht weiter; dann stand alles und wartete.

Die Sonne war schon über Mittag hinaus, und der Wagenzug hatte erst die Hälfte seines Weges hinter sich. Es war staubig und heiß, die Sonne brannte unbarmherzig, und nirgends war Schutz zu finden. Ringsum nackte Steppe, kein Baum, kein Strauch am Wege.

Shilin war vorausgeritten, hatte haltgemacht und wartete nun, bis der Wagenzug ihn einholen würde. Da hört er, wie hinter ihm das Horn geblasen wird: schon wieder Aufenthalt! Shilin überlegt: „Ob ich nicht allein vorausreite, ohne die Soldaten? Ich habe ein gutes Pferd zwischen den Beinen – wenn ich auch auf Tataren stoße, ich entkomme schon. Oder soll ich lieber nicht?“

Er machte halt und überlegte. Da kam ein andrer Offizier zu ihm herangesprengt, Kostylin, mit einer Flinte, und sagte:

„Wir wollen lieber allein weiterreiten, Shilin. Ich halte es nicht mehr aus; Hunger habe ich – und dann die Hitze! Mein Hemd ist schon zum Auswringen.“

Kostylin war ein schwerer, dicker Mensch, krebsrot, und der Schweiß strömte ihm nur so herunter. Shilin überlegte noch und sagte dann:

„Ist die Flinte geladen?“

„Aber gewiß.“

„Also, dann wollen wir weiterreiten. Aber unter einer Bedingung: daß wir uns nicht trennen!“

Und so ritten sie voran auf dem Wege. Es ging durch die Steppe; sie plauderten und schauten nach beiden Seiten aus. Ringsum hatte man einen weiten Blick.

Als die Steppe zu Ende war, führte der Weg zwischen zwei Bergen in eine Schlucht. Da sagte Shilin:

„Wir sollten auf den Berg hinaufreiten und Ausschau halten. Sonst brechen die Tataren hier möglicherweise plötzlich aus den Bergen, ohne daß wir es vorher sehen.“

Aber Kostylin meinte:

„Was ist da groß zu schauen? Reiten wir lieber weiter.“ Aber Shilin hörte nicht auf ihn.

„Nein,“ sagte er, „warte du nur hier unten, aber ich will mich doch lieber umschauen.“

Und er lenkte sein Pferd nach links auf den Berg hinauf. Shilin ritt ein Jagdpferd (für hundert Rubel hatte er es als Füllen aus der Herde gekauft und selbst zugeritten); flink, als hätte es Flügel, trug es ihn den steilen Abhang hinan. Wie er oben anlangte, da sah er, daß gerade vor ihm, nicht weit, berittene Tataren hielten, an die dreißig Mann. Er sah das also und wendete sofort; aber die Tataren hatten ihn schon bemerkt, jagten hinter ihm her und rissen im Reiten die Flinten aus den Überzügen. Shilin ließ sein Pferd mit aller Kraft bergab laufen und schrie Kostylin zu:

„Flinte heraus!“ Und er dachte an sein Pferd: „Liebling, rette mich, stolpere nicht! Wenn du stolperst, bin ich verloren! Bis zu der Flinte muß ich kommen, ich ergebe mich nicht.“

Aber statt zu warten jagte Kostylin, als er die Tataren erblickt hatte, mit aller Macht der Festung zu. Mit der Peitsche trieb er sein Pferd an, bald von dieser, bald von jener Seite. Nur durch den Staub sieht Shilin, wie das Pferd mit dem Schwanze schlägt.

Shilin merkte, daß die Sache schlecht stand. Die Flinte war fort, mit dem Säbel allein ist nichts auszurichten. Er lenkte sein Pferd zurück, zu den Soldaten hin, und hoffte, so zu entwischen. Da sah er, daß sechs Mann ihm den Weg abzuschneiden suchten. Er hatte ein gutes Pferd zwischen den Beinen, aber ihre Pferde waren noch besser, auch schnitten sie ihm den Weg ab. Er hielt sein Pferd zurück, wollte wieder umkehren; aber das Pferd war im Lauf nicht mehr zu halten, es raste gerade auf die andern los. Und er sah, wie sich ein rotbärtiger Tatar auf einem grauen Gaul ihm näherte. Der Tatar kreischte laut, fletschte die Zähne, hatte das Gewehr schußbereit.

„Nun,“ dachte Shilin, „euch Teufel kenne ich. Wenn ihr mich lebendig fangt, werft ihr mich in die Grube und haut mich mit der Peitsche. Lebendig ergebe ich mich nicht.“

Shilin war nicht sehr groß, aber mutig. Er riß den Säbel heraus, lenkte sein Pferd gerade auf den roten Tataren zu und dachte: „Entweder reite ich ihn nieder oder fälle ihn mit dem Säbel.“

Shilin war noch eine Pferdelänge von ihm ab, da schossen sie von hinten aus ihren Flinten und trafen sein Pferd. Im vollen Lauf schlug es zu Boden und fiel Shilin auf den Fuß.

Er wollte sich erheben, aber schon saßen zwei stinkende Tataren auf ihm und banden ihm die Hände auf den Rücken. Er riß sich los, warf die Tataren von sich ab, aber noch drei andere sprangen von ihren Pferden ab, warfen sich auf ihn und schlugen ihn mit den Gewehrkolben über den Kopf. Ihm ward dunkel vor den Augen; er schwankte. Da ergriffen ihn die Tataren, nahmen unbenutzte Sattelgurte von ihren Pferden, fesselten ihm die Hände auf den Rücken, machten einen tatarischen Knoten und schleppten ihn zu einem Pferde. Sie schlugen ihm die Mütze herunter, zogen ihm die Stiefel ab, durchsuchten ihn überall. Geld und Uhr nahmen sie ihm fort, zerrissen seine Kleider. Shilin sah sich nach seinem Pferde um. So wie es auf die Seite gefallen war, das liebe Tier, lag es noch da. Es schlug nur noch mit den Beinen, reichte aber nicht mehr bis zur Erde. Im Kopf hat es ein großes Loch, und aus dem Loch stürzt das schwarze Blut nur so heraus – einen Arschin in die Runde hat es den Staub benetzt.

Ein Tatar trat zu dem Pferde und wollte den Sattel abnehmen. Es schlug immer noch aus, da nahm er seinen Dolch und schnitt ihm die Kehle durch. Es gab einen Pfiff aus der Kehle, das Tier zuckte noch einmal – und das Leben war entflohen.

Dann nahmen die Tataren den Sattel ab, das Riemenzeug. Der Tatar mit dem roten Bart stieg wieder zu Pferde, und die andern hoben Shilin zu ihm in den Sattel; damit er nicht fiele, banden sie ihn mit einem Riemen an den Gürtel des Tataren an – und dann ging es in die Berge.

So saß also Shilin hinter dem Tataren, schaukelte hin und her und stieß mit dem Gesicht immer an den stinkigen Tatarenrücken. Nur den massigen Tatarenrücken sah er vor sich, den sehnigen Hals; der rasierte Nacken schimmerte bläulich unter der Mütze. Shilins Kopf war zerschlagen, Blut klebte ihm über den Augen. Er konnte sich weder besser zurechtsetzen auf dem Pferde, noch das Blut abwischen. Seine Arme waren so fest geschnürt, daß er Schmerzen im Schlüsselbein hatte.

Lange ritten sie so von Berg zu Berg; durch eine Furt kamen sie über den Fluß, gelangten dann auf einen Weg und ritten im Tale weiter.

Shilin wollte sich den Weg merken, den sie nahmen; aber seine Augen waren zu sehr mit Blut beschmiert, und umdrehen konnte er sich nicht.

Die Dämmerung begann. Sie überschritten noch ein Flüßchen, ritten einen steinigen Berg hinan; da roch es nach Rauch, Hunde kläfften. Sie kamen in einen Aul. Die Tataren stiegen von den Pferden; Tatarenkinder liefen zusammen, umringten Shilin, quiekten, freuten sich und schmissen mit Steinen nach ihm.

Der Tatar trieb die Kinder fort, nahm Shilin vom Pferde und rief nach seinem Knecht. Es kam ein Nogaier mit starken Backenknochen, im bloßen Hemd. Das Hemd war zerlumpt, die Brust ganz nackt. Der Tatar gab ihm einen Befehl. Der Knecht brachte einen Fußblock herbei – zwei Eichenklötze mit eisernen Ringen: an dem einen Ring war eine Kramme und ein Schloß.

Man band Shilin die Hände los, hing ihm den Block an und brachte ihn zu einem Schuppen, stieß ihn hinein und verschloß die Tür. Shilin fiel auf den Mist, blieb...

Erscheint lt. Verlag 23.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-7597-4692-6 / 3759746926
ISBN-13 978-3-7597-4692-4 / 9783759746924
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